7Einleitung
Demokratie war immer schon ein schwieriges Konzept. Als Herrschaftsmodell musste sie von Anfang an widersprüchliche Forderungen und Ansprüche verknüpfen und sah sich daher der Gefahr ausgesetzt, das »demokratische Dilemma«[1] einseitig aufzulösen: Entweder durch Reduktion auf das normative Modell der reinen Gleichheit (»eine Person, eine Stimme«) oder durch eine Expansion zur Beliebigkeit reiner Faktizität formaler Demokratie, hinter der sich jede Art von Pervertierung realer Einflussmöglichkeiten verstecken konnte.
Nach mehr als zwei Jahrtausenden Geschichte der Demokratie und mehr als zwei Jahrhunderten moderner Praxis der Demokratie hat sich die Grundkonstellation nur wenig verändert. Immer noch wird Demokratietheorie vornehmlich aus der Innensicht des politischen Systems betrieben, so als setzte nicht längst schon die (nationalstaatlich organisierte) Gesellschaft als System selbst die Prämissen möglicher Gesellschaftssteuerung. Die Politik ist nur ein Teilsystem unter anderen und muss sich auf die Unerbittlichkeit funktionaler Interdependenzen in einer funktional differenzierten Gesellschaft einstellen. Aus einer gesellschaftlichen und gesellschaftstheoretischen Perspektive geht es darum, die Innensicht der Politik, ihren historischen Egozentrismus, aufzuheben im nächsten Entwicklungsschritt eines dezentrierten Formats der Demokratie.
Was heißt »dezentriert«? Diese von Jean Piaget geborgte Begrifflichkeit[2] zielt darauf, den Übergang eines Systems von einer selbstbezogenen Identität und Selbstbeschreibung zu einer umweltbezogenen Form der Identität und Selbstthematisierung zu beschreiben. In der Entwicklungspsychologie Piagets geht es um die Überwindung des kindlichen Egozentrismus zugunsten einer Identität-in-Umwelt, die durch Reifung, Lernen und Interaktion geformt wird. Das Kind beginnt, sich an eine Umwelt anzupassen – Akkomodation –, die nun als relevant wahrgenommen wird. Sicherlich lässt sich dieses komplexe Modell nicht ohne weiteres auf 8die Demokratie übertragen, aber die Grundidee der Dezentrierung soll im Folgenden in einer systemtheoretischen Färbung genutzt und ausgearbeitet werden. Dies erscheint auch deshalb möglich und naheliegend, weil eine ganze Reihe von systemtheoretischen Argumentationen und Konzeptionen auf die Beschreibung einer dezentrierten Gesellschaft zielen, die ohne Zentrum und Spitze auskommen und deren Politik sich in den Kontext einer dynamischen Umwelt einfügen muss,[3] so dass am Ende eine »reflektierte Autologie«[4] möglich und notwendig erscheint.
Die Idee einer dezentrierten Demokratie ist nicht ohne Vorgänger und Vorbilder.[5] Die in den folgenden Kapiteln ausführlich behandelten wichtigsten Referenzen sind Luhmann, Habermas, Dahl und Rosanvallon, die aus sehr unterschiedlichen Positionen heraus doch alle darin übereinstimmen, dass die neue Qualität gesellschaftlicher Komplexität dazu zwingt, die Architektur der Demokratie für den Fall hochkomplexer Gesellschaften neu zu überdenken und zu bestimmen. Was nach ihren Vorarbeiten nun ansteht, ist allerdings keine Fortsetzung, sondern eine Radikalisierung, die der Radikalität der gegenwärtigen Herausforderungen der Demokratie entspricht. Während alle genannten Referenzautoren, und Luhmann in besonderem Maße, sozietale Komplexität als die prägende Herausforderung der postkonventionellen Demokratie verstehen, geht es auf dieser Basis (und in diesem Sinn auf der Schulter von Riesen[6]) jetzt um etwas Umfassenderes. Es geht um eine Revision der Demokratie unter dem Eindruck der beiden prägenden Umbrüche der gegenwärtigen Epoche: zum einen der Entzauberung des Nationalstaates[7] im Gefolge einer sich vertiefenden Globalisierung; und zum anderen der Entzauberung der In9dustriegesellschaft durch eine sich deutlicher in Position bringende Wissensgesellschaft.[8]
Die intendierte Radikalisierung wird die Demokratie als Steuerungsregime moderner Gesellschaften zwar hinterfragen, aber nicht in Frage stellen; sie wird die Demokratie zwar in ein dezentriertes Gefüge auflösen, aber ihren Kern nicht antasten. Es gilt ohne jeden Vorbehalt die Aussage, dass Demokratie als die beste verfügbare Steuerungsform moderner, funktional differenzierter Gesellschaften alternativlos ist; zugleich ist ihre gegenwärtige Form den Herausforderungen einer globalisierten Wissensgesellschaft jedoch nicht gewachsen. Damit gerät die Argumentation in ein gefährliches Fahrwasser. Für demokratische Fundamentalisten ist jede Kritik an der Demokratie schon Majestätsbeleidigung.[9] Auf der anderen Seite kann unter dem Eindruck der Überfülle an Defiziten, Fehlsteuerungen und fundamentalen Mängeln des Steuerungsmodells »Demokratie« das Kind auch schnell mit dem Bade ausgeschüttet werden, wodurch – insbesondere in einer engen ökonomistischen Sicht – Sinn und Kern von Demokratie verloren gehen.[10] Als Antwort auf diese Gefahren schlage ich eine behutsame Radikalität vor, eine Radikalität also, die den Kerngehalt von Demokratie behütet, die Gestaltung und Architektur der Komponenten, aus denen sich das Kompositum Demokratie zusammensetzt, jedoch radikal erneuert.
Dies ist eine erste wichtige Weichenstellung: Demokratie ist kein eindimensionales, monolithisches Gebilde, das entweder existiert oder nicht, sondern sie besteht aus fünf grundlegenden Bestandteilen: Legitimität, Partizipation, Transparenz, Herrschaft der Gesetze und Effektivität.[11] Eingerahmt sind diese konstituierenden 10Komponenten von zwei Wertentscheidungen: Auf der Ebene der Personen die Entscheidung für die Würde des Menschen und auf der Ebene der Gesellschaft die Entscheidung für die wohlgeordnete Gesellschaft. Bereits bei Thomas Hobbes sind die beiden Ebenen als Gesellschaftsvertrag zwischen Individuen einerseits und als Herrschaftsvertrag der Bürger mit dem die innere Ordnung garantierenden Leviathan andererseits angelegt. Unverzichtbar für jede Demokratie, die diesen Namen zu Recht tragen möchte, ist die Wertentscheidung für die Würde des Menschen,[12] also konkret für Grund- und Menschenrechte. Mit der UN-Menschenrechtskonvention ist hier ein nahezu global gültiges Muster gegeben. Ein größerer Variationsspielraum ist wohl für die schwierige Kategorie der »wohlgeordneten Gesellschaft«[13] anzunehmen.
Unterschiedliche Gewichtungen der Komponenten ergeben unterschiedliche Varianten von Demokratie. Von der direkten über die repräsentative bis zur präsidialen Demokratie, um nur eine Dimension herauszugreifen, gibt es eine große Spannweite möglicher Formen von Demokratie. Ganz analog zur langen Debatte über Varianten des Kapitalismus macht die Vorstellung vieler möglicher Varianten von Demokratie deutlich, dass diese als Steuerungsregime einem historischen Evolutionsprozess ausgesetzt ist, indem sie auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen reagiert, und dass darüber hinaus sowohl in der Praxis wie in der Theorie der Demokratie aktiv nach Innovationen und Renovationen gesucht und geforscht wird, um ihre Gestalt den jeweiligen Anforderungen anzupassen.
Nach dem bisher Gesagten erscheint es als wenig aussichtsreich, Demokratie insgesamt und pauschal auf den Prüfstand zu stellen, denn dies provoziert simplifizierende Entweder-oder-Antworten. Einer komplexen Veränderungskonstellation gegenüber ist es angemessener, den Wirkungen gesellschaftlicher Veränderungen zunächst in den differenzierten Komponenten des Konzepts De11mokratie nachzuspüren, um daraus dann den übergreifenden Revisionsbedarf für die Demokratie als Steuerungsregime der Politik abzuleiten.
Wenn die Ausgangslage für eine Revision der Demokratie gekennzeichnet ist durch Postdemokratie,[14] eine postnationale Konstellation,[15] ungleiche Demokratie,[16] reflexive Demokratie,[17] dilemmatische Demokratie,[18] oligarchische Demokratie,[19] komplexes Regieren[20] und viele weitere fundamental kritische Befunde zum Zustand und zu den Bedingungen der Möglichkeit von Demokratie, dann verdichtet sich der Eindruck, dass etwas anderes zur Debatte steht als eine Rückversicherung bei den Klassikern. Vielmehr ist es an der Zeit, neuere Beschreibungen der Welt in den Kategorien von Globalisierung, Wissensintensität, Komplexität und Intransparenz einer Demokratietheorie zugrunde zu legen, die gleichwohl ihre Klassiker schätzt und sie im hegelschen Sinne aufheben muss. Besonders deutlich wird dies, wenn sich der Blick nicht auf Demokratie insgesamt als monolithischen Block richtet, sondern die Verwerfungen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Transformationen auf die tragenden Komponenten von Demokratie bezogen werden. Dies wird im Einzelnen Gegenstand der folgenden Kapitel sein. Eine Leitlinie der Argumentation wird die Umkehrung der fukuyamaschen Sentenz vom Ende der Geschichte sein:[21] Wir stehen am Ende der Kindheit der Demokratie und sehen sie in eine Adoleszenzkrise geraten. Am Ende einer naiven Selbstbezogenheit erleidet sie gegenwärtig die Konvulsionen der Dezentrierung, um vielleicht ihre Geschichte als gereiftes und reflexives Modell beginnen zu können.
Der vorliegende Text steht in einem engen Zusammenhang mit 12meinem Band Demokratie in Zeiten der Konfusion.[22] Dort lag das Augenmerk primär darauf, die Herausforderungen der Demokratie als Herrschaftsform durch Globalisierung und Wissensgesellschaft zu begründen und alternative Formen politischer Steuerung als mögliche Antworten auf diese Herausforderungen zu skizzieren. In diesem Band nun erweitere ich die Perspektive in zwei Richtungen. Zum einen vertiefe ich die...