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Diagnostik und Klassifikation in der Psychiatrie

AutorRolf-Dieter Stieglitz
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl206 Seiten
ISBN9783170294790
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis37,99 EUR
Diagnostik und Klassifikation können als Grundlagen psychiatrisch-psychotherapeutischer Tätigkeit angesehen werden. Nur mittels einer differenzierten Erfassung und Beschreibung psychischer Beeinträchtigungen sind therapeutische Interventionen sinnvoll planbar und ihre Wirksamkeit zu bewerten. In den letzten drei Jahrzehnten sind in diesem Bereich große Veränderungen und Fortschritte zu konstatieren, die in dem vorliegenden Buch dargestellt werden. Neben den allgemeinen Grundlagen der Diagnostik und Klassifikation werden, ausgehend von den Beschreibungsebenen Symptom, Syndrom und Diagnose, v. a. Verfahrensgruppen mit ihren Vor- und Nachteilen dargestellt. Anwendungsbeispiele und aktuelle Entwicklungstrends runden das Werk ab.

Professor Dr. rer. nat. Rolf-Dieter Stieglitz, Leitender Psychologe an der Psychiatrischen Poliklinik des Universitätsspitals Basel, Doppelprofessur der Psychologischen und Medizinischen Fakultät der Universität Basel.

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Leseprobe

3 Anmerkungen zur historischen Entwicklung diagnostischer Konzepte


Die Diagnostik und Klassifikation in der Psychiatrie hat eine lange Tradition, deren umfassende Darstellung an dieser Stelle nicht zu leisten ist. Jedoch sollen nachfolgend einige Aspekte genannt werden, die für das Verständnis der nachfolgenden Ausführungen von Interesse sind. Auch hier soll von der Differenzierung zwischen Symptom, Syndrom und Störung/Diagnose ausgegangen werden.

3.1 Symptomebene


Eng mit dem Begriff der psychiatrischen Symptome ist der Begriff der Psychopathologie verbunden. Unter Psychopathologie (griech.: páthos = Leiden, Krankheit, Gefühl; lógos = Wort) als „Lehre von den Leiden der Seele“ versteht man allgemein die wissenschaftliche Methodenlehre der Psychiatrie zur Erfassung von abnormen seelischen Zuständen und Geisteskrankheiten, die Wissenschaft von der Anwendung psychologischer Denkkategorien auf psychische Krankheiten (Peters 2004). Berner (1977) versteht Psychopathologie als eine Wissenschaft, „die versucht, aus ‚abnormen‘ Seelenvorgängen Einzelphänomene zu isolieren, ‚die sich in Begriffe von konstanter Bedeutung und Mittelbarkeit fassen‘ lassen und dann als psychopathologische Symptome bezeichnet werden“ (S. 152). Diese psychopathologischen Symptome stellen die Basis des Psychopathologischen Befundes (vgl. auch Abschnitt 4.1) und der psychiatrischen Diagnosen dar. Die Bedeutung, die den Symptomen seit jeher beigemessen wurde, erkennt man u.a. daran, dass ihre unterschiedliche Gewichtung und unterschiedliche diagnostische Relevanz bereits früh herausgehoben wurde. So spricht z.B. Schneider (1992) von Symptomen 1. und 2. Ranges, Bleuler (1983) von Grund- und akzessorischen Symptomen bezogen auf die schizophrenen Störungen oder Berner (1977, S. 154 f) allgemein von Leit- und Primärsymptomen:

„Symptome, deren Aussagekraft in einer Reduktion der differentialdiagnostischen Möglichkeiten beruht, spielen aber, ebenso wie diejenigen, welche die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Ätiologie erhöhen, eine wichtige Rolle im diagnostischen Prozess. Beide werden daher als ‚Leitsymptome‘ bezeichnet. … Als Primärsymptom bezeichnet man dann meist jenes Krankheitsmerkmal, das ursprünglich aufgetreten ist und von welchen sich andere Symptome als bloße Folgen ableiten lassen.“

Eine umfassende Systematik und Zusammenstellung der wichtigsten und häufigsten psychiatrischen Symptome wurde erstmalig in den 60er Jahren durch die Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie (AMP, heute AMDP; Baumann und Stieglitz 1983) vorgelegt und als AMP-System bezeichnet (heute AMDP-System; s.a. Abschnitt 4.1). Die Zusammenstellung von psychopathologischen Symptomen orientierte sich dabei an der klassischen deutschsprachigen Psychopathologie von Bleuler, Jaspers, Schneider und aus jüngerer Zeit Scharfetter. Entsprechend den damaligen Forschungsinteressen, vor allem bedingt durch die Entdeckung von Psychopharmaka (s.u.), lagen beim AMP-System ganz klar die Symptome der schizophrenen und affektiven Störung (z.T. auch organische Störungen) im Fokus des Interesses. In Tabelle 3.1 ist dies exemplarisch für die Symptomkriterien der Schizophrenie der ICD-10 aufgezeigt. Daraus erkennt man, dass auch heute noch große Korrespondenzen bestehen.

3.2 Syndromebene


Syndrome als überzufällig auftretende Kombinationen psychischer Symptome ergaben sich zunächst aufgrund klinischer Beobachtungen. Einige von ihnen sind bis zum heutigen Tag nach ihrem „Entdecker“ benannt. Exemplarisch zu nennen sind z.B. das Capgras-Syndrom, das Anton-Syndrom oder das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom (für einen umfassenden Überblick vgl. Arenz 2001). Spricht man heute von Syndromen, so sind diese meist das Ergebnis multivariater statistischer Analysen (vgl. auch Abschnitt 4.2). Dennoch kann man meist eine sehr hohe Konvergenz zwischen klinischen Beobachtungen und den empirisch ermittelten Syndromen feststellen, auch wenn vielleicht bezüglich einzelner das Syndrom charakterisierender Phänomene Unterschiede bestehen bleiben. So spricht man im klinischen Alltag z.B. vom depressiven, manischen oder psychoorganischen Syndrom.

Tab. 3.1: Gegenüberstellung der diagnostischen Kriterien der Schizophrenie der ICD-10 und des AMDP-Systems

ICD-10 Kriterien der Schizophrenie (Forschungskriterien)

Korrespondierende Symptome des AMDP-Systems

1a

Gedankenlautwerden

55 Gedankenausbreitung

Gedankeneingebung

57 Gedankeneingebung

Gedankenentzug

56 Gedankenentzug

Gedankenausbreitung

55 Gedankenausbreitung

1b

Kontrollwahn

40 Beeinträchtigungs- und Verfolgungswahn

Beeinflussungswahn

40 Beeinträchtigungs- und Verfolgungswahn

Gefühl des Gemachten

58 andere Fremdbeeinflussungserlebnisse

Wahnwahrnehmung

34 Wahnwahrnehmung

1c

kommentierende oder dialogische Stimmen

48 Stimmenhören

1d

anhaltender kulturell unangemessener, bizarrer Wahn

46 andere Wahninhalte

2a

anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität

49 andere akustische Halluzinationen

50 optische Halluzinationen

51 Körperhalluzinationen

52 Geruchs- und Geschmackshalluzinationen

2b

Neologismen

26 Neologismen

Gedankenabreißen oder Einschiebungen in den Gedankengang

24 gesperrt/Gedankenabreißen

Zerfahrenheit

25 inkohärent/zerfahren

danebenreden

23 vorbeireden

2c

katatone Symptome wie Erregung

*

Haltungsstereotypen

84 Parakinesen

Wächsernde Biegsamkeit

84 Parakinesen

Negativismus

84 Parakinesen

Mutismus

87 mutistisch

Stupor

*

2d

„negative“ Symptome wie Apathie

80 antriebsarm

Sprachverarmung

87 mutistisch

verflachter Affekt

61 affektarm/79 affektstarr

inadäquater Affekt

76 Parathymie

* entfällt, keine Entsprechung

Tab. 3.2: Meilensteine in der Entwicklung von Ratingskalen

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