3 Anmerkungen zur historischen Entwicklung diagnostischer Konzepte
Die Diagnostik und Klassifikation in der Psychiatrie hat eine lange Tradition, deren umfassende Darstellung an dieser Stelle nicht zu leisten ist. Jedoch sollen nachfolgend einige Aspekte genannt werden, die für das Verständnis der nachfolgenden Ausführungen von Interesse sind. Auch hier soll von der Differenzierung zwischen Symptom, Syndrom und Störung/Diagnose ausgegangen werden.
3.1 Symptomebene
Eng mit dem Begriff der psychiatrischen Symptome ist der Begriff der Psychopathologie verbunden. Unter Psychopathologie (griech.: páthos = Leiden, Krankheit, Gefühl; lógos = Wort) als „Lehre von den Leiden der Seele“ versteht man allgemein die wissenschaftliche Methodenlehre der Psychiatrie zur Erfassung von abnormen seelischen Zuständen und Geisteskrankheiten, die Wissenschaft von der Anwendung psychologischer Denkkategorien auf psychische Krankheiten (Peters 2004). Berner (1977) versteht Psychopathologie als eine Wissenschaft, „die versucht, aus ‚abnormen‘ Seelenvorgängen Einzelphänomene zu isolieren, ‚die sich in Begriffe von konstanter Bedeutung und Mittelbarkeit fassen‘ lassen und dann als psychopathologische Symptome bezeichnet werden“ (S. 152). Diese psychopathologischen Symptome stellen die Basis des Psychopathologischen Befundes (vgl. auch Abschnitt 4.1) und der psychiatrischen Diagnosen dar. Die Bedeutung, die den Symptomen seit jeher beigemessen wurde, erkennt man u.a. daran, dass ihre unterschiedliche Gewichtung und unterschiedliche diagnostische Relevanz bereits früh herausgehoben wurde. So spricht z.B. Schneider (1992) von Symptomen 1. und 2. Ranges, Bleuler (1983) von Grund- und akzessorischen Symptomen bezogen auf die schizophrenen Störungen oder Berner (1977, S. 154 f) allgemein von Leit- und Primärsymptomen:
„Symptome, deren Aussagekraft in einer Reduktion der differentialdiagnostischen Möglichkeiten beruht, spielen aber, ebenso wie diejenigen, welche die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Ätiologie erhöhen, eine wichtige Rolle im diagnostischen Prozess. Beide werden daher als ‚Leitsymptome‘ bezeichnet. … Als Primärsymptom bezeichnet man dann meist jenes Krankheitsmerkmal, das ursprünglich aufgetreten ist und von welchen sich andere Symptome als bloße Folgen ableiten lassen.“
Eine umfassende Systematik und Zusammenstellung der wichtigsten und häufigsten psychiatrischen Symptome wurde erstmalig in den 60er Jahren durch die Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie (AMP, heute AMDP; Baumann und Stieglitz 1983) vorgelegt und als AMP-System bezeichnet (heute AMDP-System; s.a. Abschnitt 4.1). Die Zusammenstellung von psychopathologischen Symptomen orientierte sich dabei an der klassischen deutschsprachigen Psychopathologie von Bleuler, Jaspers, Schneider und aus jüngerer Zeit Scharfetter. Entsprechend den damaligen Forschungsinteressen, vor allem bedingt durch die Entdeckung von Psychopharmaka (s.u.), lagen beim AMP-System ganz klar die Symptome der schizophrenen und affektiven Störung (z.T. auch organische Störungen) im Fokus des Interesses. In Tabelle 3.1 ist dies exemplarisch für die Symptomkriterien der Schizophrenie der ICD-10 aufgezeigt. Daraus erkennt man, dass auch heute noch große Korrespondenzen bestehen.
3.2 Syndromebene
Syndrome als überzufällig auftretende Kombinationen psychischer Symptome ergaben sich zunächst aufgrund klinischer Beobachtungen. Einige von ihnen sind bis zum heutigen Tag nach ihrem „Entdecker“ benannt. Exemplarisch zu nennen sind z.B. das Capgras-Syndrom, das Anton-Syndrom oder das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom (für einen umfassenden Überblick vgl. Arenz 2001). Spricht man heute von Syndromen, so sind diese meist das Ergebnis multivariater statistischer Analysen (vgl. auch Abschnitt 4.2). Dennoch kann man meist eine sehr hohe Konvergenz zwischen klinischen Beobachtungen und den empirisch ermittelten Syndromen feststellen, auch wenn vielleicht bezüglich einzelner das Syndrom charakterisierender Phänomene Unterschiede bestehen bleiben. So spricht man im klinischen Alltag z.B. vom depressiven, manischen oder psychoorganischen Syndrom.
Tab. 3.1: Gegenüberstellung der diagnostischen Kriterien der Schizophrenie der ICD-10 und des AMDP-Systems
ICD-10 Kriterien der Schizophrenie (Forschungskriterien) | Korrespondierende Symptome des AMDP-Systems |
1a | Gedankenlautwerden | 55 Gedankenausbreitung |
| Gedankeneingebung | 57 Gedankeneingebung |
| Gedankenentzug | 56 Gedankenentzug |
| Gedankenausbreitung | 55 Gedankenausbreitung |
1b | Kontrollwahn | 40 Beeinträchtigungs- und Verfolgungswahn |
| Beeinflussungswahn | 40 Beeinträchtigungs- und Verfolgungswahn |
| Gefühl des Gemachten | 58 andere Fremdbeeinflussungserlebnisse |
| Wahnwahrnehmung | 34 Wahnwahrnehmung |
1c | kommentierende oder dialogische Stimmen | 48 Stimmenhören |
1d | anhaltender kulturell unangemessener, bizarrer Wahn | 46 andere Wahninhalte |
2a | anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität | 49 andere akustische Halluzinationen |
50 optische Halluzinationen |
52 Geruchs- und Geschmackshalluzinationen |
2b | Neologismen | 26 Neologismen |
Gedankenabreißen oder Einschiebungen in den Gedankengang | 24 gesperrt/Gedankenabreißen |
Zerfahrenheit | 25 inkohärent/zerfahren |
danebenreden | 23 vorbeireden |
2c | katatone Symptome wie Erregung | * |
| Haltungsstereotypen | 84 Parakinesen |
| Wächsernde Biegsamkeit | 84 Parakinesen |
| Negativismus | 84 Parakinesen |
2d | „negative“ Symptome wie Apathie | 80 antriebsarm |
| Sprachverarmung | 87 mutistisch |
| verflachter Affekt | 61 affektarm/79 affektstarr |
| inadäquater Affekt | 76 Parathymie |
* entfällt, keine Entsprechung
|
Tab. 3.2: Meilensteine in der Entwicklung von Ratingskalen