Stefanie Diekmann
DIE ANDERE SZENE – ZUR EINFÜHRUNG
Was immer die Filmemacher im Theater suchen: Es ist eine Suche, die mit einiger Beharrlichkeit betrieben wird. Für den Spielfilm gilt das ohnehin, spätestens seit 1909 (A Drunkard’s Reformation) oder 1916 (Das Gespenst im Opernhaus, Fleur de Paris) und dann quer durch die Epochen und Produktionszusammenhänge. Es wäre zu viel, wollte man behaupten, dass das Kino das Theater liebt (wenngleich es oft genug danach aussieht.) Aber man behauptet nicht zu viel, wenn man konstatiert, dass es vom Theater nicht loskommt, immer wieder ins Theater zurückkehrt, wenn auch sehr selten auf die Plätze, die für die Theaterzuschauer vorgesehen sind. Im Theater hält sich das Kino vorzugsweise im Bereich der Backstage oder im Umfeld der Probebühnen auf: dort, wohin der Blick aus dem Auditorium nicht reicht. Sein Ort ist das Off, die andere Szene, sein Sujet die Parallel-, Vor- und Nachgeschichten, die sich zu einer Produktion oder einer Aufführung erzählen lassen.
Wie an vielen Schauplätzen kommt der Dokumentarfilm auch im Theater verspätet an. Was nicht bedeutet, dass er nicht bereits zuvor verschiedene andere Beziehungen zum Theater unterhalten hat (im frühen wie im ganz aktuellen Dokumentarfilm etwa: das Reenactment). Wann und wo die allerersten filmischen Dokumentationen von Theaterarbeit entstehen, ist in diesem Band nicht untersucht worden. Sicher ist, dass sie erst seit den 1960ern häufiger gedreht werden, was auch damit zu tun hat, dass die Filmemacher im Theater einen Ort vorfinden, der nicht für ihre Zwecke eingerichtet ist, sondern für eine andere Inszenierungsarbeit, und dass sie meist nur unter der Bedingung zugelassen werden, diese Arbeit nicht zu stören. (Dass sie es dennoch tun, steht außer Frage; aber auch das Postulat, nicht zu stören, stellt gewisse Ansprüche an die technische Ausrüstung.)
Was sie dann im Theater vorfinden, ist dem Filmstudio oft nicht unähnlich. Der umbaute Raum, das gesetzte Licht, die markierten Handlungs- und Auftrittsorte; Dekor, Kostüme, Requisiten, ein On und ein Off, eingespielte Abläufe und Kompetenzen; die vertrauten Professionen von Regie, Schauspiel, Technik, aber zugleich ein anderer Gebrauch der Zeit und ein anderes Verhältnis zu den Momenten von Prozessualität und Repetition. „Wir kamen pünktlich und doch zu spät“, heißt es zu Beginn von Klaus Wildenhahns Was tun Pina Bausch und ihre Tänzer in Wuppertal? (D 1981), und damit ist auch angedeutet, dass die Zeit des Films nicht die des Theaters ist. Etwas ist bereits vorbei, wenn die Kamera ins Spiel gebracht wird (werden kann), etwas hat stattgefunden oder schon angefangen. Theaterarbeit in den Blick nehmen heißt unter diesen Bedingungen: damit umgehen, dass demselben Blick etwas entgangen ist, und zwar von Anfang an.
Dabei scheinen die Zeichen ganz auf Beobachtung gestellt, genauer: auf die Möglichkeit von Beobachtung, gerade dort, wo Theaterarbeit in Form von Proben stattfindet. Lokal, temporal begrenzt, ist die Probe jene Einrichtung, die der Theaterarbeit Kontur gibt, sie auf einen Schauplatz, in einem Intervall fixiert, in dem sie sich erkunden und erfassen lässt. Allerdings dokumentieren die Filme, die über das Theater gedreht werden, zugleich, dass dieser Schauplatz durchlässig ist, nicht weniger als das Intervall, und dass die Grenzen der Theaterarbeit sogar dort diffus sind, wo ‚Theater‘ dem Dispositiv von Guckkastenbühne, Textinszenierung und Figurendarstellung noch weitgehend entspricht.
Was nicht mehr allzu häufig der Fall ist. Die Orte des Theaters haben sich vervielfältigt, seine Erscheinungsformen und die Konzepte von Auftritt und Schauspiel ohnehin, und was Theater ist (war), ist zu einer Sache der Aushandlung geworden. Die aktuelle Konjunktur von Dokumentationen über Theaterhäuser, -akteure, -kollektive, -proben und -produktionen könnte damit ein Stück weit erklärt sein (inklusive derjenigen Produktionen, die in Angriff genommen werden, „solange es noch ein Theater gibt“). Aber die gegenwärtigen Veränderungen des Theaters erklären nicht, was die Filmemacher dort eigentlich suchen, über die grundsätzliche Möglichkeit der Beobachtung hinaus. Irgendetwas findet der Film am, im Theater, auf der Probe und in ihrem Umfeld. Die Beiträge dieses Bandes versuchen zu beschreiben, was dieses Etwas ist, und sie handeln auch von der Frage, wie man sich dabei mit dem Theater einrichtet.
Interaktion
Wofür das Theater im Film immer gut ist (auch im Erzählkino), ist die Beobachtung von Interaktion. Und zwar Interaktion im Zustand der Verdichtung, räumlich, zeitlich, personell, reduziert auf drei und weniger Akteure an einem Ort, der manchmal so aussieht, als kennte er kein Außerhalb (vgl. Bormann, Umathum). Die beleuchtete Bühne in Syberbergs Fünfter Akt, Siebente Szene. Fritz Kortner probt „Kabale und Liebe“ ist in dieser Hinsicht exemplarisch: durch den Film in ein alttestamentarisches Szenario transformiert, wie aus dem Dunkel gehoben, Licht, Nacht, ein Paar, ein Sündenfall und ihnen gegenüber die Stimme aus dem Off, die über die Szene regiert.
Gesucht wird also die gesteigerte Intensität. Die größere Konzentration oder Anspannung (vgl. Bormann), die großen Gefühle, für die das Theater angeblich zuständig ist; und in der Ökonomie der Gefühle und Affekte auch der große Ausbruch, der einmal oder mehrfach stattfinden kann. Sehr häufig ereignet er sich mehrfach, denn das Theater ist auch eine Kunst der Repetition, nicht zuletzt dort, wo ein Ausbruch spontan erscheint und eine Eskalation nicht mehr zu kontrollieren (vgl. Roselt, Etzold). Dass die Intensität dabei wie exklusiv erfahren wird, i.e. entweder innerhalb der Probenarbeit, zu der nur eine sehr überschaubare Zahl von Akteuren überhaupt Zutritt erhält (vgl. Bormann, Umathum, Roselt), oder aus einer Nähe, die für die Zuschauer im Auditorium nicht vorgesehen ist (vgl. Etzold), stiftet einen Mehrwert gegenüber dem Theater. Das bessere Schauspiel wäre dann allemal im Film anzutreffen, und zwar genau dort, wo dieser den Blick auf die Arbeit des Theaters richtet.
Aus der Nähe, manchmal in Großaufnahme: der Affekt, die Aushandlungen, die Ausbrüche, und außerdem: die Prozesse der Übertragung von Affektbewegungen in Auftrittsgeschehen oder von Anweisungen in Abläufe. Wenn diese Übertragung nicht reibungslos läuft, hat das viel damit zu tun, dass die Rollen nicht immer klar konturiert sind, weder auf der Bühne noch abseits davon; entsprechend ist die Beobachtung von Theaterarbeit auch eine von Rollenkonzepten und Rollenkonflikten. Es gibt Fälle, in denen die Funktionen und Hierarchien stabil, die Positionen fest verteilt und die Umstände der Rollenarbeit nur desto unerbittlicher sind (vgl. Bormann). Es gibt andere, in denen eine Vorstellung über die Verteilung der Rollen besteht, aber nur auf Seiten der zentralen Akteure und nicht auf der des Publikums oder des Ensembles (vgl. Etzold, Roselt). Die Krisen sind dann programmiert, die Eskalation unter Umständen auch; und wenn die Ausbrüche ausbleiben, heißt das nicht unbedingt, dass man sich über die Rollenkonzeption oder das Bühnengeschehen einig geworden wäre. Theater von der Probe her zu erzählen, heißt auch, infrage zu stellen, was jede Aufführung behauptet: dass ein Prozess der Theaterarbeit zu einem glücklichen Abschluss kommen kann.
Prozess
Was mit der filmischen Beobachtung von Theaterarbeit außerdem hergestellt wird, ist ein Bewusstsein von Prozesshaftigkeit, oder, grundsätzlicher: von Prozessualisierung als demjenigen Prinzip, das der Betrachtung der Inszenierung als Werk oder als Ereignis entgegengesetzt ist. (Die Aufzeichnungen, die von Sendern wie ZDF Kultur oder 3sat während der Festspiele in Bayreuth, Salzburg, während des Theatertreffens oder anderer Festivals gesendet werden, entsprechen eher der Prinzip der Behandlung von Theater als ‚Werk‘ und relativ stabiles Gebilde.)
In der Probe sucht die Dokumentation: den Ablauf, die Dynamik; ebenso: ein Schauspiel der Entstehung, Entwicklung, und weiter: einen Zustand der Fluidität, bevor die Auftritte und Abläufe fixiert werden. Indes ist Fluidität nicht nur ein Kennzeichen des Materials, aus dem sich vielleicht eine Inszenierung entwickelt, sondern auch Kennzeichen der Theaterarbeit selbst, deren Konturen diffus und deren Beziehung zu ihrem Außen durchaus nicht immer klar markiert ist. Was zur Arbeit am Theater gehört und was nicht, wo diese Arbeit ihre räumlichen und zeitlichen Grenzen findet, was dem Theater zuarbeitet, was ihm entzogen werden kann, was als das ‚Andere‘ von Theaterarbeit zu betrachten wäre etc., sind Fragen, zu denen die filmische Dokumentation von Probenprozessen unterschiedliche Positionen entwickelt (vgl. Matzke, Buchmann). In Zeiten der kreativen, performativen, exploitativen Arbeitskonzepte und der Forderung nach einem kreativen, wandelbaren, zu allen möglichen Identifikationsleistungen fähigen Arbeitssubjekt, kann die Theater- und Probenarbeit, deren Akteure zugleich ihr Material und ihr Produkt sind, in...