Die Versicherungswirtschaft ist keine Branche wie die Süßwarenindustrie oder das Musikgewerbe. Die Assekuranz hat eine wichtige, ja eine unverzichtbare gesellschaftliche Bedeutung. Risiken zu teilen oder abgeben zu können, ist für Verbraucher und Wirtschaft wichtig, für manche existenziell. Mütter und Väter schlafen besser, wenn sie wissen, dass die Kinder abgesichert sind, wenn ihnen etwas zustößt. Aber: Das auszunutzen ist einfach gemein. Der Staat weiß, dass Menschen geschützt werden müssen, denen von anderen ein Schaden zugefügt wird. Deswegen gibt es so etwas wie Haftung und Schadensersatzansprüche und eine Pflicht zur Haftpflichtversicherung zum Beispiel für Halter von Kraftfahrzeugen und die Angehörigen bestimmter Berufsgruppen. Interessanterweise sind Versicherungsvermittler zum Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung gesetzlich verpflichtet, Ärzte nicht. Medizinern schreiben das »nur« die Berufsordnungen vor.
Vieles läuft schief, wenn Versicherer Schäden regulieren sollen. Bei der Versicherung von Auto, Haus und Wertgegenständen liegt eine Menge im Argen, die Versicherer werden ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nicht gerecht. Auch hier verzögern und verschleppen sie die Regulierung, Haftpflichtversicherer treiben Unfallopfer erst in den Ruin und dann in den Wahnsinn. Für Verbraucher – nicht Geschädigte! – gibt es immerhin einen schwachen Trost: Hier gibt es wenigstens so etwas wie Wettbewerb. Kunden können in überschaubaren Zeiträumen ihren Vertrag kündigen und zu einem anderen Anbieter wechseln.
Bei den großen Lebensrisiken ist das anders. Wer sich einmal für einen Berufsunfähigkeits-, einen privaten Renten- oder einen privaten Krankenversicherer entschieden hat, der kann nur unter hohen Verlusten zu einem anderen wechseln. Er ist dem Anbieter ausgeliefert. Und das, obwohl Verbraucher kaum die Möglichkeit haben zu erkennen, worauf genau sie sich mit der Unterschrift unter den Vertrag einlassen. Die unzähligen Angebote der Branche zu überschauen ist für Laien schier unmöglich. Sie zu vergleichen ebenfalls. Die eine Gesellschaft baut hier einen kleinen Zusatzbaustein ein, die andere dort. Die eine rechnet finanzielle Zuwendungen neben der Provision an Vermittler in die Abschlusskosten ein, die andere nicht. Kunden sind keine gleichberechtigten Akteure, die mit den Anbietern auf Augenhöhe verhandeln. In der Versicherungswirtschaft sorgen Angebot und Nachfrage nicht für ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Unternehmen und Verbrauchern. »Es gibt ein strukturelles Kontrolldefizit«, sagt der Rechtswissenschaftler Schwintowski. Ein Teil der Verträge bringt keine Probleme für die Kunden. Sie haben nie einen Schaden, nie einen Unfall. Dass sie viel zu viel Beiträge zahlen, fällt ihnen nicht auf. Dass die versprochene Leistung schlecht ist, auch nicht. »In der Lebensversicherung fällt Verbrauchern ein schlechter Vertrag erst auf, wenn es zu spät ist«, sagt Schwintowski. Dann wundern sich die Kunden, dass die Auszahlung oder Rente so gering ist. Dagegen etwas unternehmen können sie nicht. Zwar bekommen Kunden jedes Jahr die sogenannte Standmeldung, aus der hervorgeht, wie hoch das angesparte Vermögen ist. In den ersten Jahren ist das sehr wenig, weil von den gezahlten Beiträgen die Provision für den Vermittler gezahlt wird. Deshalb irritieren die Standmeldungen, und Verbraucher vertrauen oft auf das, was ihnen ursprünglich vom Verkäufer versprochen wurde.
Statt in diese ungleiche Geschäftsbeziehung einzugreifen und die Rechte der Kunden zu stärken, liefert der Staat die Bürger dieser Branche immer mehr aus. Fast jede Sozialreform reißt eine Lücke, die die Assekuranz geschickt zu füllen weiß. Die Rente mit 67 ist für viele Berufsgruppen eine Illusion, weil körperlich schwer Arbeitende aus gesundheitlichen Gründen nicht so lange in ihrem Beruf arbeiten können. Die Assekuranz hat eine für sie selbst gewinnbringende Lösung parat: Lebensarbeitszeitkonten. Dann können die Beschäftigten vorarbeiten und Überstunden machen, den Lohn packt der Arbeitgeber auf ein Konto bei Finanzdienstleistern. Dafür kassieren die viel Geld. Die Beschäftigten müssen nicht nur für ihren Vorruhestand ackern, sondern auch für die Rendite der Unternehmen. Für die Kürzung der gesetzlichen Rentenansprüche scheinen die Versicherer ebenfalls die ideale Lösung parat zu haben: private Rentenversicherungen in Tausenden von Varianten. Der Staat treibt das voran. Die Kunden sollen Verträge bei privaten Anbietern kaufen, bei denen sie nicht den Hauch einer Chance haben, das Preis-Leistungs-Verhältnis zu durchschauen.
Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen für immer weniger, und immer mehr Menschen meinen, nur mit dem Abschluss einer Krankenzusatzversicherung gut versorgt zu sein. Oder sie wechseln direkt in eine private Krankenversicherung und wundern sich nachher, dass sie weniger bekommen als die Kassenpatienten. Die gesetzliche Krankenversicherung und die gesetzliche Rentenversicherung tragen den Namensbestandteil »Versicherung«. Sie sind aber etwas völlig anderes als die privaten Versicherungen. Deshalb werden sie auch »Kassen« genannt, das betont den Charakter dieser Einrichtungen als Teil eines solidarischen Systems. Häufig werden auch private Krankenversicherungen »Privatkassen« genannt. Vor allem Beamte sprechen gerne von »Krankenkasse«, wenn sie ihre private Krankenversicherung meinen. Aber damit verkennen sie, dass es sich um Unternehmen handelt. Die gesetzlichen Kranken- und Rentenkassen sind Teil des Sozialstaats. Sie sind keine Unternehmen, sie sollen keine Gewinne erwirtschaften, die an Aktionäre ausgeschüttet oder als Vermögen angelegt werden. Über die Leistungen entscheidet der Gesetzgeber, von der Politik beauftragte Gremien oder die Selbstverwaltung. Die Kassen sorgen in gewissem Umfang für den Ausgleich zwischen wirtschaftlich Schwachen und Starken, zwischen Kranken und Gesunden. Wie hoch der Krankenkassenbeitrag ist, hängt nicht vom Gesundheitszustand des Mitglieds ab, allein das Einkommen entscheidet darüber. Für die Prämie beim privaten Krankenversicherer ist das Gehalt unerheblich, hier kommt es auf das Alter und den Gesundheitszustand an. Private Versicherer verschärfen den Unterschied zwischen Schwachen und Starken, sie belohnen die Gesunden und Privilegierten und bestrafen diejenigen, mit denen es das Leben ohnehin nicht besonders gut gemeint hat. Wer krank ist, bekommt keine oder nur eine extrem teure Berufsunfähigkeits- oder private Krankenversicherung.
Unter dem Schlagwort von der »Eigenverantwortung« der Bürger fordern Versicherungsmanager und Politiker Hand in Hand, dass die gesetzlichen Kassen immer später, weniger oder vieles gar nicht mehr bezahlen. Sie führen Argumente an, die immer wieder sehr gut funktionieren: weniger Leistungen gleich geringere Sozialabgaben gleich mehr Arbeitsplätze. Die künftigen Renten reichen nicht zum Leben. Viele Behandlungen müssen gesetzlich Versicherte selbst zahlen. Und wenn es nach dem Willen vieler Politiker und erst recht der Manager in den Vorstandsetagen der Versicherungsunternehmen geht, wird das immer mehr zur Regel werden. Das Kalkül: Aus Angst, eines Tages die erforderliche Behandlung nicht zahlen zu können oder im Alter darben zu müssen, decken sich immer mehr Kunden mit immer mehr Policen ein. Früher hat die Gesellschaft wenigstens die schlimmsten finanziellen Folgen von Schicksalsschlägen abgefedert. Doch der Staat scheint den Anspruch aufgeben zu wollen, die Bürger vor existenziellen Risiken zu schützen.
Die Bundesrepublik hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten tief gewandelt. Die Arbeitsmarktreformen haben das Phänomen der Scheinselbstständigen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und eine im Mittelstand inzwischen tief verwurzelte Angst vor Verarmung gebracht. Der Begriff »Hartz IV« ist zur Chiffre geworden für das, was dem droht, der arbeitslos oder krank wird und deshalb verarmt. Mit dem Kauf einer Versicherungspolice wollen sich Bürger vor dem sozialen Abstieg wegen einer Berufsunfähigkeit schützen. Die Rücklagen fürs Alter wollen sie nicht angreifen müssen, weil sie erwerbslos werden. Das Häuschen verkaufen zu müssen, in dem man den Lebensabend verbringen will, und von Hartz IV zu leben, diese Furcht ist für Verkäufer von Versicherungen der ideale Nährboden. Die Unternehmen nutzen die Angst vor Verarmung aus, um renditeschwache und teure Verträge an den Mann und die Frau zu bringen. Sie werben damit, dass ihre Policen »Hartz-IV-sicher« sind. Das heißt, der Kunde muss diese Verträge nicht kündigen und das angesparte Kapital verwerten, bevor er staatliche Fürsorgeleistungen bekommt. Eine der ersten Taten der 2009 gewählten schwarz-gelben Koalition war die Erhöhung der Freibeträge für Vermögen in Versicherungsverträgen. Das sah aus, als hätten die Unionsparteien und die FDP ihr Herz für Arme entdeckt. Letztendlich nützte das aber nur der Assekuranz.
Nicht nur teilweise, sondern ganz »Hartz-IV-sicher« sind Riester- und Rürup-Renten, ausgerechnet Verträge, die nach zwei Protagonisten aus der politischen Sphäre benannt sind, die in die Finanzindustrie gewechselt sind. Namenspatron der mit Zulagen geförderten Altersvorsorge ist der ehemalige Bundesarbeitsminister Walter Riester (SPD), der mittlerweile beim Riester-Renten-Marktführer Union Investment angedockt hat. Erfinder der mit Steuervorteilen vom Staat geförderten Rente für Selbstständige ist der Ökonom Bert Rürup, als Wirtschaftsweiser und in anderen Funktionen langjähriger Berater der Bundesregierung. Er hat mit dem umstrittenen Gründer...