Konservatismus in der Defensive:
Arnold Gehlen
In der Kaiserstadt Aachen kam der Studentenprotest erst spät an. Es war schon 1969, als sich fünf junge Leute, drei Männer und zwei Frauen, in das Seminar des Soziologen Arnold Gehlen begaben. Die Räumlichkeiten befanden sich gegenüber dem Hauptgebäude der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH), im fünften Stock. Sie setzten sich auf die freien Plätze der vorderen Tischreihe. In dem Moment, als der Professor ansetzte, mit seinen Ausführungen zu beginnen, meldeten sie sich zu Wort. Sie kämen aus Frankfurt am Main und wollten über Gehlens Buch »Der Mensch« sprechen. Genauer: über die erste Auflage der Schrift, die als Standardwerk der Philosophischen Anthropologie in der Wissenschaft noch heute hoch gehandelt wird.
Das Buch war 1940 bei Junker und Dünnhaupt erschienen, einem Verlag, der 1945 aufgrund seiner Nähe zum Naziregime von den Alliierten verboten wurde. Sein Autor war NSDAP-Mitglied seit dem 1. Mai 1933. Begeistert vom nationalistischen Aufbruch – aber auch aus Karrieregründen – betätigte er sich in Parteigliederungen und beabsichtigte sogar eine Philosophie des Nationalsozialismus zu schreiben. In einem Bericht des NS-Sicherheitsdienstes wurde Gehlen, wie auch sein Freund und Schüler Helmut Schelsky, als einer der wenigen überzeugten Nationalsozialisten geführt. Die Loyalität zum Regime hielt bei ihm bis zum Kriegsende an. Das werden die angereisten jungen Leute im Detail nicht gewusst haben. Dennoch waren sie gut vorbereitet. Sie referierten jene Passagen, in denen Gehlen der Diktion des rassenideologischen Nazi-Vordenkers Alfred Rosenberg (1893 bis 1946) folgte. Es fielen Begriffe wie »Zuchtbild«, von der »Durchsetzung germanischer Charakterwerte«53 war die Rede, von »obersten Führungssystemen«. Gehlen hörte sich den Vortrag dem Augenschein nach ungerührt an.
Als er sein Buch überarbeitete, er tat es mehrfach, entfernte er solche Stellen stillschweigend. »Die Grundformel von Gehlens Ordnungstheorie war ganz eindeutig an das damals herrschende System adressiert gewesen«, erläutert mir Karl-Siegbert Rehberg.54 Ich sitze mit dem Herausgeber der Gehlen-Gesamtausgabe an einem mit Büchern und Schreibmaterialien beladenen Tisch in seinem Büro an der Technischen Universität Dresden. Damals gehörte der heutige Seniorprofessor für Soziologie zu den Aachener Studenten, die atemlos lauschten, als ihre engagierten Kommilitonen den konservativen Hochschullehrer mit seiner faschistischen Vergangenheit konfrontierten.
Rehberg, der sich zu dieser Zeit vor allem für die Schriften von Karl Marx und Theodor W. Adorno begeisterte, war zugleich von der geistigen Substanz Gehlens fasziniert. »So hatte ich mir einen Professor vorgestellt, so scharfsinnig, vor einem solchen Bildungshintergrund. Politisch war ich aber von Anfang an ganz entsetzt von dem Mann«, erläutert er. Er habe gedacht: »Wie kann der solche Meinungen haben, wenn er doch so scharfsinnig ist.«
In »Der Mensch« stellt Gehlen die grundlegende Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt. Die Kurzfassung lautet: Arm an Instinkten, ist der Mensch von Geburt an auf Institutionen angewiesen, die ihm dabei helfen, die chaotisch auf ihn einströmende Flut von Eindrücken und Anforderungen zu ordnen. Sie entlasten ihn von der Aufgabe, immer wieder neue, reflektierte Entscheidungen treffen zu müssen. Der in der DDR ansässige Philosoph Wolfgang Harich war begeistert. Er hoffte, Gehlens Theorie in den Marxismus integrieren zu können. Ihn verband über die ideologischen Grenzen hinweg viele Jahre lang eine Art Brieffreundschaft mit Gehlen.55
Der Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein hielt den Konservativen »für den interessantesten Demokratieverächter in Deutschland.« (Der Spiegel 16/2016, S. 118) Sein Versuch, mit Gehlen ein Gespräch für sein Magazin zu führen, schlug aber fehl. Auch einen Essay wollte der Hochschullehrer nicht beisteuern. »Mein Einwand gegen die Spiegel-Linie überhaupt lässt sich in die Worte fassen: Ferment der Dekomposition«,56 brachte er seine Ablehnung gegen das zu dieser Zeit außerordentlich einflussreiche Blatt zum Ausdruck. Legendär sind die Streitgespräche, die Gehlen mit Adorno führte. Dieser ging immer wieder auf Gehlen zu, der nicht viel, und wenn, dann eher abschätzig von Adorno geredet habe. In seinen Seminaren kam er nicht vor. Er habe seinen linken Opponenten privat gelesen und das auch nicht besonders gründlich, erinnert sich Rehberg. Im Grunde habe er dessen Theorie nur oberflächlich gekannt. »Was er über Adorno sagte, war ohne Verständnis für dessen Werk. Gehlen kannte die wichtigen Arbeiten Adornos gar nicht richtig. Umgekehrt war es genauso. Die Sensibilität und Ängstlichkeit von Adorno, auch seine Hinterhältigkeit und Intriganz – dieser hatte die Berufung des rechten Hochschullehrers auf eine Professur in Heidelberg hintertrieben – sind Gehlen vollständig verschlossen geblieben.« Verbunden habe die beiden »ihr Hochmut gegenüber den Massen, den Angepassten in einer vom Sinnverlust geprägten, nur noch funktionalen Gesichtspunkten folgenden, verwalteten Welt«, so Rehberg. Dass er zuletzt auf Distanz zu seinem linken Kontrahenten ging, habe sicher mit der Studentenbewegung zu tun gehabt, von der Gehlen abgestoßen war. Er führte sie auf das Wirken Adornos und seinen Kollegen von der Frankfurter Schule zurück.
Nun erreichte der Aufruhr also auch die Aachener Provinz. Rehberg fand die Ausführungen seiner Frankfurter Kommilitonen über die nachträglichen Eingriffe seines Professors in sein Hauptwerk hochspannend. Er sei sich zuvor gar nicht darüber im Klaren gewesen, dass wissenschaftliche Bücher mehrere, inhaltlich voneinander abweichende Auflagen haben können, erinnert er sich. Als die Studenten zum Ende ihrer Ausführungen gekommen waren, stand eine Frage im Raum: Was würde Gehlen nun tun? Weggehen? Die Gruppe hinausschmeißen? Die Polizei rufen? Oder mit ihnen einen moralischen Diskurs führen? All das wäre denkbar gewesen, meint Rehberg. Gehlen aber tat etwas anderes. »Er schaute aus dem Fenster in Richtung des Lousberges und hüstelte. In einem kurzen, scharfen, militärischen Ton, der typisch für ihn war. Dann richtete er sich an die Vortragenden: ›Meine Herren. Das würde ich heute nicht mehr erfinden.‹ Daraufhin waren sie so platt, dass sie nichts mehr erwiderten. Das hatten sie offenbar nicht erwartet. Sie schlugen ihre Bücher zu und gingen. Gehlen setzte das Seminar fort, ohne mit einem einzigen Wort auf das gerade Geschehene einzugehen. Und alle machten mit.« Ihm selbst sei damals auch nicht mehr dazu eingefallen.
Gegen die »Hypermoral«
Die Achtundsechziger und Arnold Gehlen: Da stießen zwei Welten aufeinander. Befreiungseuphorie traf auf ein Pathos des Dienens, das noch aus einer vordemokratischen Zeit stammte. Der konservative Philosoph antwortete der Studentenbewegung 1969 mit einem Buch. »Moral und Hypermoral«. Menschliches Handeln, so lautet die Hauptthese, lasse sich nicht auf ein einziges moralisches Prinzip zurückführen. Vielmehr gründe es in vier verschiedenen Ethosformen: dem Prinzip der Gegenseitigkeit, instinktiven Regulationen (etwa das Kindchenschema), einer familienbezogenen Moral, die auf größere Gruppen erweitert werden könne, sowie einem Ethos der Institutionen. Verbunden ist die systematische Betrachtung moralischer Handlungsimpulse und -gründe mit einer ressentimentgeladenen Polemik gegen die Erscheinungen der sich vor Gehlens Augen abspielenden Kulturrevolution. Da durch sie alle traditionellen Institutionen in Frage gestellt würden, verlören die nun auf ihre ungerichteten Triebimpulse zurückgeworfenen Menschen die Orientierung und ihren Halt in einer unübersichtlichen Welt. Zugleich überdehnten sie moralische Grundsätze und Verhaltensregeln, die aus dem privaten Nahbereich stammten, indem sie sie auf die Sphäre des staatlichen Handelns projizierten. Was meint Gehlen damit? Vereinfacht gesagt: Es kann geboten erscheinen, sein Stück Brot mit dem Nächsten zu teilen. Wer nun aber sein Handeln von dem Glauben leiten lässt, eine ganze hungernde Stadt ließe sich auf diese Weise ernähren, kann das Problem trotz guten Willens nicht lösen. Er riskiert, dass alle Beteiligten zugrunde gehen. Gehlen verurteilte die Ausrichtung staatlichen Handelns an Maßstäben, die im Rahmen von Familien und Kleingemeinschaften gültig blieben, als »Hypermoral«.
Grundsätzlich sah er die Normalsterblichen von den ethischen Forderungen, die die moderne Welt an sie stellte, gänzlich überfordert. Seine Antwort auf das Dilemma lautete: Dienst, Pflichterfüllung und fragloser Gehorsam. Solange »Hierarchien als selbstverständlich bejaht wurden und leistungsfähig arbeiteten«, war Gehlen überzeugt, hätten sie »zweifellos zur inneren Befriedigung« beigetragen.57 Der »jedermann zugängliche Weg zur Würde sei, sich von den Institutionen konsumieren zu lassen«.58 Das war das genaue Gegenteil von dem, was die gegen bürgerliche Konventionen revoltierenden Jungakademiker im Sinn hatten. Der Satz »begegnete, vor Studenten geäußert, der blanken Verständnislosigkeit«, hielt der offensichtlich enttäuschte Gehlen seine Erfahrung im Lehrbetrieb fest. Während die Studenten damals bei jeder Gelegenheit die Notwendigkeit der Herrschaftskritik betonten, polemisierte der elitäre Professor, schon die Herausbildung privater Meinungen sei ein »Laster«, das den gesellschaftlichen Zerfall nach sich ziehe. Mit ihrer Hilfe würden »angebbare Kreise die Auflösung der Institutionen legitimieren, um die...