I 2. Idun in der Prosa-Edda
Um ca. 1.200 n.Chr. wurden die germanischen Mythen in Island u.a. durch den Politiker, Forscher, Reisenden und Skalden (Dichter) Snorri Sturluson („Snorri, Sohn des Sturluson“) niedergeschrieben. Snorris Werk „Edda“ („Sammlung“) stellt ein Lehrbuch für Skalden mit mythologisch-historischem Hintergrund dar.
Zur Unterscheidung von der Sammlung von Götter- und Helden-Liedern wird Snorris Skalden-Lehrbuch auch „Prosa-Edda“ und die Liedersammlung „Lieder-Edda“ genannt.
I 2. a) Skaldskaparmal
In den Listen über die Kenningar (Umschreibungen), die Snorri in der Edda aufführt, wird Idun in einer Göttinnen-Liste aufgeführt:
Da kamen zunächst Odin und Njörd, Tyr, Bragi, Vidar, Loki; und ebenso die Asinnen: Frigg, Freya, Gefjun, Skadi, Idun, Sif. Thor war nicht dort, da er in die östlichen Länder gezogen war, um Trolle zu töten.
I 2. b) Skaldskaparmal
In der Skaldskaparmal in der Edda wird die Göttin Idun an zwei Stellen beschrieben. An der ersten dieser beiden Stellen wird die Asin nur allgemein dargestellt:
(Da sprach Har:) „Ein anderer Ase heißt Bragi. Er ist berühmt durch Beredsamkeit und Wortfertigkeit und sehr geschickt in der Skaldenkunst, die nach ihm Bragur genannt wird, so wie auch diejenigen nach seinem Namen Bragurleute heißen, die redefertiger sind als andere Männer und Frauen.
Seine Frau heißt Idun: Sie verwahrt in einem Gefäß die Äpfel, welche die Götter genießen sollen, wenn sie altern; denn sie werden alle jung davon, und das mag währen bis zur Götterdämmerung.“
Da sprach Gangleri: „Mich dünkt, die Götter haben der Treue und Sorgsamkeit Iduns große Dinge anvertraut.“
Da sprach Har und lächelte: „Beinahe wäre es einstmals schlimm damit ergangen: ich könnte Dir davon wohl erzählen; aber Du sollst erst die Namen der anderen Asen hören.“
Hier wird schon die wesentliche Funktion der Göttin Idun innerhalb der germanischen Mythologie dargestellt: Sie sorgt durch ihre Äpfel für die Unsterblichkeit der Götter.
Zusammen mit dieser Aufgabe erscheint es wahrscheinlich, daß der Name der Göttin, der wörtlich in etwa „die Wiederkehrende“ bedeutet, als „die, die die Götter verjüngt“ aufzufassen ist. Das, was „wiederkehrt“, ist die Jugend der Götter.
Das in dem Text genannte „Gefäß“, in dem Idun ihre Äpfel aufbewahrt, heißt im Original „Eski“. Dieses Wort bezeichnet eine Kiste aus Eschenholz, wie sie oft von den Germanen für persönliche Gegenstände benutzt wurde.
Idun ist die Frau des Dichter-Gottes Bragi. Dieser Ase ist sehr wahrscheinlich die Vergöttlichung des Skalden Bragi Boddason ist, der zwischen 800 n.Chr. und 900 n.Chr. gelebt hat und die höfische Dichtung der Nordgermanen begründet hat. Daraus ergibt sich, daß das Paar Idun und Bragi nicht sehr alt sein kann und allerhöchstens bis um 1000 n.Chr. zurückreicht. Als Gott wird Bragi erst ab 1200 n.Chr. erwähnt, was aber nicht bedeutet, daß er nicht schon vorher als Gott angesehen wurde.
„Har“ bedeutet „der Hohe“ und ist eine Kenning für „Odin“. „Gangleri“ bedeutet „der vom Gehen müde“ und ist ein Tarnname des schwedischen Königs Gylfi, der in einer Vision diese Gespräche mit den Asen führt.
Zum einen war um 1200 n.Chr. in ganz Europa die Visionsliteratur sehr beliebt; zum anderen zeigen aber einige Randbemerkungen vor allem in den Isländersagas, daß die germanischen Seher und Seherinnen durchaus zu wirklichen Visionen in Traumreisen (innere Bilder) und evtl. auch in Astralreisen (Verlassen des eigenen Körpers) in der Lage waren.
Zu dieser Art von Bemerkungen zählt z.B. die Erwähnung eines tiefen Atemzuges eines Ritualleiters nach dem Ende der Beschwörung von drei Toten, die in der der Saga über Thrond von Gate berichtet wird. Solche tiefen Atemzüge sind zu Beginn und am am Ende von Visionen sehr typisch. Auch über Odin wird in der „Heimskringla“ sehr realistisch eine Astralreise berichtet. Dies zeigt, daß diese Visionsberichte nicht nur literarische Werke sind, sondern durchaus auch reale Visionen enthalten können.
I 2. c) Skaldskaparmal
Entgegen der Ankündigung des Asen Har kommt er nicht wieder auf Idun zu sprechen. Jedoch berichtet in dem nächsten Teil der Edda der Zauberer Ägir von einer Vision, in der ihm der Ase Bragi einiges über Idun erzählt. Der Zauberer Ägir wohnte auf der Insel Hlesey, die die nördlichste Insel zwischen Dänemark und Schweden im Kattegat ist.
Der Name „Hlesey“ bedeutet „Insel des Hler“. Da in der keltischen Religion der Meeresgott „Lir“ heißt und dieser Gott bei den Germanen den Namen „Ägir“ trägt, wird mit dem „Hler“, dem die Insel gehört, wohl der Zauberer Ägir gemeint sein. Ägir und seine Frau Ran waren auch Unterweltsgottheiten und wurden als Riesen angesehen. Auch die Jenseitsgöttin Hel war eine Riesin. Da die Riesen aus einer Umdeutung der Ahnen aus der frühesten Zeit entstanden sind, hat es den Anschein, als ob sich der Totengott Ägir in der Unterwelt mit dem Dichtergott Bragi unterhalten würde.
Ursprünglich sind Ägir, Hler und auch Gymir der ehemalige Sonnengott-Göttervater Tyr in der nächtlichen bzw. winterlichen Wasserunterwelt gewesen.
Solche Umdeutungen von Gottheiten in konkrete Menschen entsprach der um 1200 n.Chr. geläufigen Auffassung von den heidnischen Göttern als „großen Menschen“ der Vorzeit. Dem entspricht, daß auch die Visionen selber als „unecht“ und als magische Täuschung („Blendwerk“) durch die als zauberkundige Menschen aufgefaßten Götter angesehen wurden.
Die Insel, auf der Ägir wohnt, ist das Jenseits. Solche Inseln erscheinen mehrfach in der Edda: der Fenriswolf wird auf einer Insel gefangengehalten, Wieland der Schmied wird auf einer Insel gefangengehalten und möglicherweise ist der tote Baldur auf seinem Schiff zu solch einer Insel unterwegs. Die heutzutage bekannteste aller Jenseits-Inseln, die im Westen im Meer liegt, da dort die Sonne durch den Eingang in die Unterwelt das Jenseits betritt, ist sicherlich Atlantis.
Ein Mann heißt Ägir oder Hler; er bewohnte das Eiland, das nun Hlesey heißt, und war sehr zauberkundig. Er unternahm eine Reise nach Asgard; und als die Asen von seiner Fahrt erfuhren, wurde er wohl empfangen, jedoch mit allerlei Sinnestäuschungen.
Und am Abend, als das Trinken beginnen sollte, ließ Odin Schwerter in die Halle tragen, die waren so glänzend, daß ein Schein davon ausging und es keiner andern Beleuchtung bedurfte, während man aß und trank.
Das Strahlen von Schwertern wird auch an anderen Stellen in der Edda berichtet. So läuft z.B. an Sigurds/Siegfrieds Schwert Gram, nachdem es fertig geschmiedet worden war, Feuer die Schneiden entlang. Dieses Schwert wurde ursprünglich von Odin Sigurds Vater Sigmund gegeben. Andere Schwerter waren mit dem Drachen assoziiert wie z.B. das Schwert des Grendel (Tyr im Jenseits). Auch das Schwert des Surtur strahlt wie die Sonne.
Das Urbild für diese leuchtende Schwertern ist das Sonnenschwert des ehemaligen Sonnengott-Göttervaters Tyr gewesen sein. Das während seinem abendlichen bzw. winterlichen Aufenthalt in der Unterwelt neugeschmiedete Schwert, das am Abend bzw. im Herbst zerbrochen war, leuchtete am Morgen/Frühling genauso wie Tyr selber, da nicht nur die Rückkehr des Gottes Tyr, sondern auch die seines neugeschmiedeten Schwertes dem Sonnenaufgang verglichen wurde.
Der Gott Odin, der während der Völkerwanderungszeit anstelle von Tyr zum Göttervater geworden war, hat dabei fast die gesamte Symbolik des Tyr übernommen, zu der auch das leuchtende Schwert des Schwertgott-Göttervaters Tyr gehörte – das er allerdings nur noch zur Beleuchtung seiner Halle benutzt …
Da kamen die Asen zu ihrem Gelage und zwölf der Asen, die da zu Richtern bestellt waren und setzten sich auf ihre Hochsitze. Dies sind ihre Namen: Thor, Niörd, Freyr, Tyr, Heimdall, Bragi, Widar, Wali, Ullr, Hönir, Forseti, Loki. Desgleichen heißen die Asinnen: Frigg, Freyja, Gefion, Idun, Gerd, Sigyn, Fulla, Nanna.
Diese Zwölfzahl entspricht wohl den zwölf Tierkreiszeichen. Sie findet sich auch bei den mehrfach vorkommenden Gruppen von zwölf Berserkern, den zwölf Flüssen, die aus der Quelle Hvergelmir zwischen den Wurzeln des Weltenbaumes Yggdrasil entspringen, den zwölfstrahligen Sonnen auf den frühen Runensteinen usw.
Diese Zwölfergruppe scheint ein altes Motiv zu sein, da es sich z.B. auch bei den Griechen finden, auf deren Olymp stets eine Zwölfergruppe von Göttern wohnte.
Ägir schien alles herrlich, was er...