1. Die Vorgeschichte
Heysessini, Assissini, Assassinen
«Wisse, dass es im Gebiet von Damaskus, Antiochia und Aleppo in den Bergen ein Volk der Sarrazenen gibt, das in seiner eigenen Umgangssprache Heysessini und auf Romanisch segnors de montana [die Alten vom Berge] heißt. […] Sie wohnen in den Bergen und sind nahezu unüberwindlich, da sie sich in schwer befestigte Burgen zurückziehen. Ihr Land ist nicht sehr fruchtbar; daher leben sie von der Viehzucht. Sie haben auch ihren eigenen Herrn, der nicht nur allen Sarrazenenfürsten nah und fern größte Furcht einflößt, sondern auch den christlichen Nachbarn und ihren Großen, denn er hat die Gewohnheit, sie auf außergewöhnliche Weise umzubringen.»
Der Autor dieser Zeilen ist der Abt Arnold von Lübeck, der als erster Deutscher Kunde von der geheimnisvollen Gesellschaft gibt, die im 12. Jahrhundert die Kreuzfahrerstaaten beunruhigte. Sein Gewährsmann war ein Straßburger Domherr namens Burchard, der 1175 als Gesandter Kaiser Friedrich Barbarossas zu Sultan Saladin nach Damaskus und Kairo gereist war (Arnoldi Chronica Slavorum VII, 8).
Besser informiert war Wilhelm von Tyrus, der, um 1130 in Jerusalem geboren, nach Studien in Paris und Bologna Domherr in seiner Heimatstadt Jerusalem, Kanzler des Königreichs Jerusalem und 1175 Erzbischof von Tyrus wurde (gest. 1186). In seiner titellosen Chronik, einer der wichtigsten lateinischen Quellen aus der Zeit der Kreuzzüge, berichtet er: «In der Provinz Tyrus, die Phönizien heißt, gibt es in der Umgebung des Bistums Antaradus (Tartûs) ein Volk, das zehn Burgen mit dem dazugehörigen Umland besitzt und, wie wir oft gehört haben, aus ungefähr 60.000 oder mehr Menschen bestehen soll. Diese haben die Gewohnheit, sich ihren Herrn nicht aufgrund erblicher Nachfolge, sondern nach dem Vorrang des Verdienstes selbst zu geben und einen Meister zu wählen und als Präzeptor an ihre Spitze zu stellen, den sie, alle anderen Ehrentitel verschmähend, den Alten (senex) nennen, dem sie sich dermaßen zu Unterwerfung und Gehorsam verpflichten, dass es nichts Hartes, Schwieriges oder Gefährliches gibt, das sie nicht auf des Meisters Geheiß inbrünstig zu erfüllen trachten. Wenn ihm und seinem Volke etwa irgendwelche Fürsten missliebig oder verdächtig sind, gibt er einem oder auch mehreren der Seinen einen Dolch, und dieser strebt dorthin, wohin er befohlen worden ist, und ohne zu erwägen, wie die Sache ausgehen könnte und ob er davonkommen würde, geht der, der den Auftrag erhalten hat, sogleich dorthin, wohin er befohlen wurde, und rastet nicht eher, als bis es ihm gelingt, den erhaltenen Befehl zu vollstrecken und den Willen des Meisters zu erfüllen. Die Unseren wie auch die Sarrazenen nennen dieses Volk Assissini, ohne dass wir wissen, wovon dieser Name abgeleitet ist.» (XX, 29).
Obwohl die Zeitgenossen sich den Namen nicht erklären konnten, ist er doch rasch in der Bedeutung «Meuchelmörder» zunächst in die romanischen Sprachen – französich assassin, italienisch assassino, spanisch asesino – und dann in andere europäische Sprachen eingegangen und hat entsprechende Verbformen erzeugt. Nur im Arabischen, aus dem er doch kommen müsste, scheint er zu fehlen. Da das Wort Assassinen aber keine Selbstbezeichnung der Organisation war, von der hier die Rede sein soll, und erst spät auftritt, soll seine Herkunft erst später erörtert werden.
Die religiösen Wurzeln: Zwölfer-Schiiten und Ismailiten
Die von den Kreuzfahrern als Assissini oder Heysessini bezeichnete religiöse Gemeinschaft war den islamischen Zeitgenossen unter den Namen Bâtiniyya oder Nizâriyya bekannt. Sie war eine Abspaltung der Ismailiten (Ismâ‛îliyya), die wiederum zu dem bunten Spektrum der Schiiten (Schî‛a) gehören.
Die Spaltung des Islam in Sunniten und Schiiten ist fast so alt wie der Islam selbst. Sie war ein Produkt der innerislamischen Konflikte, die nach dem Tod des Propheten Mohammed im Jahre 632 um dessen Nachfolge ausbrachen. Eine Partei (arab. schî‛a) unterstützte darin den engsten Vertrauten des Propheten, seinen Vetter und Schwiegersohn ‛Alî ibn Abî Tâlib, und betrachtete ihn und seine beiden Söhne von der Prophetentochter Fâtima, al-Hasan und al-Husain, als die legitimen Erben Mohammeds und rechtmäßigen Oberhäupter des Islam (s.S. 10). ʽAlî kam aber erst als dritter «Nachfolger» (chalîfa, Kalif) an die Macht und wurde nach kurzer, umstrittener Herrschaft (656–661) ermordet. Seine Söhne, die Prophetenenkel, wurden von der Macht ferngehalten; der jüngere, al-Husain, wurde 680 bei einem Versuch, sich mithilfe der irakischen Anhänger seines Vaters der Herrschaft zu bemächtigen, bei Kerbelâ nahe dem Euphrat von Truppen des regierenden Kalifen getötet.
Die «Partei ‛Alîs» (schî‛at ‛Alî) aber blieb bestehen, vor allem im Irak, wo ‛Alî und sein Sohn den Tod gefunden hatten, und wurde zum Sammelbecken für die Opposition gegen die in Damaskus residierenden Kalifen. Nach der Tragödie von Kerbelâ nahm die ursprünglich politische Partei mehr und mehr religiöse Züge an; die Nachkommen al-Husains, die in Medina lebten, wurden Objekte einer besonderen Verehrung ihrer Anhänger; obwohl von der politischen Herrschaft ausgeschlossen, wurden sie zu Trägern der Hoffnung auf einen Umsturz, ja eine völlige Erneuerung des Islam. So bildete sich die Reihe der schiitischen Imame, die ihren Anhängern als die eigentlich rechtmäßigen Oberhäupter (arab. imâm) galten, auf deren baldige Machtergreifung sie hofften, die sie gelegentlich durch Aufstände herbeizuführen suchten.
Aus den zahlreichen Gruppen und Grüppchen des 7. und 8. Jahrhunderts, die jeweils andere Prätendenten als «Imame» anerkannten, kristallisierte sich schließlich im 9. Jahrhundert jene Richtung als die zukunftsträchtigste heraus, die noch heute das Gros der Schiiten in Iran, im Irak und im Südlibanon bildet: die «Zwölfer» (arab. Ithnâ‛aschariyya), auch «Imamiten» (Imâmiyya) genannt. Die von ihnen anerkannte Reihe der rechtmäßigen zwölf Imame beginnt mit ‛Alî, gefolgt von seinen Söhnen al-Hasan und al-Husain sowie dessen Nachkommen in direkter Linie.
Als 750 die Kalifen von Damaskus aus dem mekkanischen Clan der Umayyaden gestürzt wurden, traten an ihre Stelle die Abbasiden, Nachkommen eines Onkels des Propheten Mohammed, die 762 bei dem Dorf Baghdâd am Tigris eine neue Residenz errichteten, in der sie nun bis 1258 residieren sollten. Die neuen Herren hielten die schiitische Opposition offenbar für so bedrohlich, dass der Abbasidenkalif Hârûn ar-Raschîd sich auf seiner Pilgerfahrt nach Mekka im Jahre 795 entschloss, den siebten Imam Mûsâ al-Kâzim mit seiner Familie aus Medina in den Irak zu deportieren. Er und seine Nachkommen lebten fortan im Irak zwar weitgehend unbehelligt, aber unter strenger Aufsicht. 873 ist der elfte Imam al-Hasan al‛Askarî in der Kalifenresidenz Sâmarrâ am mittleren Tigris gestorben.
Der Tod des elften Imams warf für seine Anhänger ein Problem auf, da der Achtundzwanzigjährige keinen Sohn hinterließ. Die schiitische Gemeinde zerfiel daraufhin in mehr als ein Dutzend Grüppchen, die verschiedene Lösungen des Nachfolgeproblems anboten. Es dauerte fast zwei Jahrhunderte, bis sich die Lehrmeinung durchsetzte, der elfte Imam habe doch einen Sohn gehabt, den er versteckt habe, um ihn dem Zugriff der Herrschenden zu entziehen, ja dieser zwölfte, «verborgene» Imam lebe unerkannt durch die Jahrhunderte auf der Erde, bis es Gott gefallen werde, ihn einst aus der Entrücktheit (ghaiba) zu holen und ihn als den «Rechtgeleiteten» (al-mahdî) an die Spitze der endlich triumphierenden Schiiten zu stellen.
Ganz anders war das Konzept der schiitischen Gruppe, zu der die sog. Assassinen gehörten. Sie waren Ismailiten. Ismâ‛îl war der Sohn und designierte Nachfolger des sechsten Imams gewesen, doch war er 755 – zehn Jahre vor seinem Vater Dscha‛far – gestorben. Dieser verstörende Tatbestand – der eigentlich unfehlbare Imam hatte sich offenbar...