1. «Hingehen, wo der Pfeffer wächst»
Der Pfeffer wächst vor allem in Indien, genau genommen in Malabar, an der Westküste Südindiens. Jemandem zu bedeuten, dorthin zu gehen, wo der Pfeffer wächst, gilt als Verwünschung und Ausdruck der Mißbilligung einer Person, die man möglichst weit entfernt sehen möchte. Die Formulierung geht auf den Geistlichen und Satiriker Thomas Murner zurück, der diese in seiner «Narrenbeschwörung» aus dem Jahr 1512 benutzte. Tatsächlich begaben sich seit dem 16. Jahrhundert viele Europäer dorthin, «wo der Pfeffer wächst», allerdings weniger aus Mißgunst, sondern weil Pfeffer ein wertvolles Luxusprodukt war, dem als Gewürz auch eine besondere Heilwirkung zugeschrieben wurde. Sie nahmen dafür erhebliche Strapazen, Kosten und Risiken in Kauf. So war auch für Kolumbus der Erwerb von Pfeffer ein wichtiges Motiv auf der Suche nach dem Seeweg nach Indien, da Ende des 15. Jahrhunderts der Landweg durch islamische Wirtschaftsräume versperrt war. Vasco da Gama erreichte schließlich als erster Europäer im Jahr 1498 Indien auf dem Seeweg, und er landete in Calicut/Malabar, also genau dort, wo der Pfeffer wuchs. So wurde für die Portugiesen Pfeffer zu einem der wichtigsten Handelsgüter. Auch andere europäische Mächte, wie etwa die Niederlande, unternahmen große Anstrengungen, Pfeffer aus Südindien nach Europa zu importieren – und zugleich andere Handelsmächte davon fernzuhalten. Im Jahr 1719 formulierte die Direktion der 1602 gegründeten Niederländischen Ostindienkompanie in einem Schreiben an die Kolonialverwaltung in Batavia (Indonesien), daß es «schon immer unsere Absicht gewesen ist, und an ihr halten wir fest, alle anderen Nationen so weit wie möglich aus dem Pfefferhandel auszuschließen und unter Einsatz aller merkantilen Mittel zu verhindern, daß sie sich in Indien größerer Mengen an Pfeffer, und das vielleicht gar noch zu niedrigen Preisen, bemächtigen, damit wir in Europa in den Stand versetzt werden, den betreffenden Markt zu beherrschen, dann können unsere Konkurrenten den Pfeffer – aufgrund der geringen Fehlmengen – mit nur sehr geringem oder mit überhaupt keinem Gewinn nach Europa importieren, obwohl dies oft ihre alleinige Geschäftsgrundlage ist».
Der Handel mit Pfeffer sowie mit anderen Gewürzen und Edelmetallen aus Übersee bildete eine wesentliche Grundlage für die Entstehung der Weltwirtschaft seit dem frühen 16. Jahrhundert – und Europa spielte dabei eine zentrale Rolle. Im Unterschied zur Wirtschaft des Mittelalters, die über den Fernhandel bereits unterschiedliche Kontinente miteinander verband, zeichnet sich die Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit nach der Entdeckung Amerikas und des Seewegs nach Indien durch eine zunehmende europäische Expansion und Dominanz sowie durch die Verdichtung und Integration der globalen Wirtschaftsräume aus. Wolfgang Reinhard spricht dementsprechend von einer «Globalgeschichte der europäischen Expansion». Der Pfefferhandel steht geradezu prototypisch für diesen Prozeß, weil an ihm deutlich wird, daß sich die Schwerpunkte des Handels und der wirtschaftlichen Entwicklung zwischen dem 16. und der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich verschoben. Nicht mehr Asien mit den weltweit bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Regionen Indien und China war am Ende des hier zu betrachtenden Zeitraums die wichtigste Wirtschaftsregion, sondern Europa, das freilich kein monolithischer Block war, sondern aus unterschiedlichen Mächten bestand, die, wie das Beispiel des Pfefferhandels zeigt, miteinander im Wettbewerb um wirtschaftlichen und politischen Einfluß standen.
Mitte des 19. Jahrhunderts stellte Europa etwa die Hälfte der weltweiten Wirtschaftskraft – vor allem bedingt durch den Übergang zur Industrialisierung seit dem 18. Jahrhundert – und kontrollierte fast zwei Drittel der Landfläche weltweit. Diese weltwirtschaftliche Verschiebung sowie die ihr zugrunde liegenden unterschiedlichen Entwicklungsbedingungen und -verläufe sind in die Wirtschaftsgeschichte als «Große Divergenz» («Great Divergence») eingegangen und haben seit der gleichnamigen Publikation von Kenneth Pomeranz umfangreiche Diskussionen ausgelöst, an der sich Wirtschaftshistoriker aus aller Welt beteiligten. Diese bilden für die vorliegende Publikation eine wichtige Grundlage, auch wenn es weniger um eine Geschichte des (globalen) Kapitalismus, um Aspekte des weltwirtschaftlichen Wachstums oder die Frage nach weltwirtschaftlichen Disparitäten geht, sondern um das Zusammenwachsen unterschiedlicher Wirtschaftsräume zu einer Weltwirtschaft, um Mechanismen der Verflechtung, der Integration und Interaktion, wobei auch nach Expansion und Durchdringung sowie nach Dominanz und Abhängigkeiten gefragt wird. Dabei kristallisieren sich fünf Faktoren heraus: 1. die Bevölkerungsentwicklung, und hier vor allem die (freiwillige und Zwangs-)Migration zwischen großen Wirtschaftsräumen; 2. Ideen und Weltanschauungen, die Handel und wirtschaftlichen Austausch beförderten oder auch behinderten; 3. der Austausch von Wissen und Technologie unter besonderer Berücksichtigung von Wirtschaftskontakten und Transporttechnologie (Schiffbau, Nautik, Navigation, Kommunikation); 4. die Rolle von Politik und Gewalt, wobei der Staat als Akteur und seine Wirtschafts- bzw. Handelspolitik sowie Militär, Kriegführung und Sklaverei in den Blick kommen, und schließlich 5. die Rolle von Institutionen, insbesondere hinsichtlich Handel, Recht und Märkten. Eine Gewichtung dieser fünf Faktoren erscheint wenig sinnvoll, wenn nicht gar unmöglich. Allerdings gibt es einige Aspekte, die sich über ihre Bedeutung als Antriebsfaktoren hinaus wie ein roter Faden durch die einzelnen Gliederungspunkte ziehen und somit als zentrale Thesen des Buches gelten können. Das betrifft die Rolle Europas in diesem Prozeß des Aufstiegs der Weltwirtschaft, die Gewalt als seine Begleiterscheinung sowie das Phänomen der Globalisierung, wonach die Entstehungsphase der Weltwirtschaft im Sinne einer «Proto-Globalisierung» (A. G. Hopkins; Ch. A. Bayly) als langfristiger ökonomischer Prozeß betrachtet wird, der schließlich in die erste Globalisierungsphase Ende des 19. Jahrhunderts mündete, die nach einem «Backlash» von fast einem Jahrhundert erst mit der Globalisierung seit den 1980er Jahren ihre Fortsetzung fand.
Von einer besonderen Bedeutung Europas, gar von einem «europäischen Sonderweg» im Zuge der Entwicklung der Weltwirtschaft zu sprechen, bedarf in Zeiten der Globalgeschichte und der Kritik am Eurozentrismus einer ebenso besonderen Begründung. Dabei kann noch einmal auf das Beispiel des Pfefferhandels verwiesen werden, welches zeigt, daß es in erster Linie europäische Initiativen waren, die die unterschiedlichen Wirtschaftsregionen der Welt miteinander verknüpften und durch die Entdeckung der Amerikas – auf der Suche nach dem Seeweg nach Indien – einen Kontinent einbezogen, ohne den schwerlich von einer Weltwirtschaft gesprochen werden kann. Der Aufstieg der Weltwirtschaft wird somit auf die Zeit nach 1492 datiert. Dies unterscheidet sich von Ansätzen, die von unterschiedlichen regionalen und «kleinen Weltwirtschaften» (Immanuel Wallerstein) ausgehen oder die schon für das Spätmittelalter von einer Weltwirtschaft «before the European Hegemony» (J. L. Abu-Lughod) sprechen. Schließlich waren es vor allem die Europäer, die an Gewürzen und Edelmetallen außerhalb Europas interessiert und bereit waren, dafür die Risiken und Kosten eines interkontinentalen Handels in Kauf zu nehmen. Zwar gab es auch grenzüberschreitenden Handel und Mobilität von Chinesen, Indern, Japanern oder Osmanen, doch beschränkten sich diese auf Regionen des gleichen Kontinents (mit wenigen Ausnahmen). Umgekehrt gab es keine asiatischen (von afrikanischen oder amerikanischen ganz zu schweigen) Handelsstützpunkte in Europa oder Amerika, keine asiatischen Schiffe im Atlantik und keinen asiatischen Imperialismus in Amerika oder Afrika, und es gab auch wenig Interesse Asiens am Import europäischer Waren. Allein Europa war nach der Entdeckung Amerikas und Australiens auf allen fünf Kontinenten präsent und gewann somit einen «eindeutigen Vernetzungs- und Informationsvorsprung» (Bernd Hausberger). Dies zu betonen bedeutet nicht, einem eurozentrischen Weltbild zu huldigen, sondern der Tatsache Rechnung zu tragen, daß der «Drang zur Grenzexpansion» (Bernd Hausberger), die Herstellung und Verdichtung von Handelsbeziehungen und -netzwerken, der Wissensaustausch und der Technologietransfer seit dem 16. Jahrhundert in deutlich stärkerem Maße von europäischen als von außereuropäischen Mächten ausging – und schließlich in die bereits erwähnte...