1. Migration und Flucht im 21. Jahrhundert
«Krise» ist seit dem 19. Jahrhundert ein vieldeutiges Schlagwort. Krise sei, so Reinhart Koselleck in seinen «Historischen Grundbegriffen», zur «strukturellen Signatur der Neuzeit» geworden. Die Diagnose einer Krise kann Ausdruck einer Deutung politischer, wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Entwicklungen sein, die als Resultat oder Vorboten größerer Umwälzungen gesehen werden. Unsicherheit und Instabilität kennzeichnen Zeiten der Krise. Krise kann sowohl eine einmalige Zuspitzung, einen Wendepunkt, eine Situation der Entscheidung und Veränderung beschreiben als auch einen chronischen Zustand. Krisen kommen und gehen, lösen einander ab, gehen ineinander über. Klingt die eine Krise ab, werden die Vorboten der nächsten Krise ausgemacht. Krise ist zum Schlagwort geworden: Demokratie, Parteien, Politik, Regierungen, Euro, Wirtschaft – für alle wurden in den vergangenen Jahren Krisen ausgerufen, wobei für die Wirtschafts- und Finanzkrisen noch die objektivierbarsten Indikatoren vorliegen. Ob eine politische Konstellation als Krise verstanden wird, hängt von den Interpretationen und Interessen der beteiligten Akteure ab. «Krise!» kann auch als politischer Kampfbegriff verwendet werden, der Handlungsdruck erzeugen und die Durchsetzung politischer Ziele erleichtern soll. Regierungen von Aufnahmestaaten können angesichts von Flüchtlingsbewegungen bewusst krisenhafte Zuspitzungen herbeiführen, indem sie sich weigern, rechtzeitig Vorsorge für Schutz und Unterbringung zu treffen. Potentielle Abgabeländer setzen ihr Wanderungspotential auch als Druckmittel ein: So wurden in den 1990er Jahren Szenarien erheblicher Zuwanderungsgrößen von Regierungen potentieller Herkunftsländer gezielt eingesetzt, um westliche Länder zu Zugeständnissen und vor allem zu wirtschaftlicher Unterstützung zu veranlassen.
Entwicklungen, die als Flüchtlingskrisen verstanden wurden, hat es in Europa nach dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs mehrfach gegeben: die Wanderungsbewegungen Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre, die dazu beigetragen haben, den Zugang zu Asyl stark einzuschränken, sowie die Fluchtbewegungen als Reaktion auf den Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahren aus Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo-Krieg. Mit den gegenwärtigen Flüchtlingsbewegungen verbindet sich mehr. Die Anschläge in zahlreichen europäischen Ländern, die Bilder aus dem Nahen und Mittleren Osten von Kriegswirren, terroristischer Gewalt und dem Exodus von Millionen lassen Ahnungen und Ängste entstehen. Auch die europäischen Kernstaaten, die auf eine historisch einmalige Phase des Friedens und der Prosperität zurückblicken, werden nicht länger von den Folgen der Verheerungen in zahlreichen afrikanischen Staaten, im Nahen und Mittleren Osten, unbehelligt bleiben. Die europäische Peripherie wirkt nicht länger geeignet, eine Pufferfunktion zwischen den Herkunftsregionen und den Zielstaaten wahrzunehmen. Flüchtlingsbewegungen wie die der Jahre 2014 und vor allem 2015 hat es in diesem Ausmaß seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben. Hinzu kommt: Die Flüchtenden kommen aus weit entfernten Weltgegenden, und was sie im Gepäck haben, sind zunächst die Erfahrungen entgrenzter, in Teilen religiös legitimierter Gewalt. Was das bedeutet, weiß niemand. Krisen drängen zu Entscheidungen. Sie sind im beginnenden 21. Jahrhundert allerdings in der Europäischen Union im Kollektiv der Mitgliedstaaten zu treffen. Deren Interessen sind selten gleichgerichtet, im Fall der Flüchtlingspolitik spielen nationale Identitätspolitiken eine wichtige Rolle. Identitätskonflikte werden meist unnachsichtig ausgefochten, so dass Kompromisse schwerer zu erreichen sein werden als auf anderen Gebieten. «Krisenmanager» der besonders betroffenen Mitgliedstaaten müssen die zahlreichen innerstaatlichen Akteure zu pragmatischem Improvisieren und zu Reformen motivieren, und sie müssen darüber hinaus die europäischen und internationalen Akteure von den Handlungsnotwendigkeiten, die sie sehen, überzeugen.
Wenn von «Flüchtlingskrise» die Rede ist, muss zuallererst die Krise der Flüchtlinge selbst in den Blick genommen werden. Bei vielen von ihnen hatte sich die Lage derart zugespitzt, dass sie sich zu einer Entscheidung gezwungen sahen: das Wagnis der Flucht (oder einer weiteren Flucht im Fall von Menschen in den Erstaufnahmestaaten) auf sich zu nehmen. Die Fluchtursachen sind in erster Linie in einer Krise der Herkunftsländer zu suchen, in denen sich langandauernde humanitäre Krisen zuspitzen und verdichten, so dass die Abstoßungsfaktoren immer stärker werden. Schutz finden die Flüchtlinge in erster Linie in benachbarten Ländern, die meist zu den wirtschaftlich schwächsten weltweit gehören. Soziale und politische Spannungen können in diesen Ländern ebenfalls krisenhafte Entwicklungen auslösen oder verstärken. Werden die Erstaufnahmestaaten nicht adäquat unterstützt, werden sie sich ihrer Aufgabe zunehmend verweigern – und die Flüchtlinge das Weite suchen. Krisenverstärkend können sich Flüchtlingsbewegungen für Transitstaaten auswirken, die nicht über die nötige Infrastruktur verfügen, um Hunderttausenden, die in kurzer Frist das Land betreten (in Griechenland rund 911.000 Personen im Jahr 2015), Schutz, Versorgung und Unterkunft zu gewähren. Auch in den Zielländern von Flüchtlingen kann die Situation als krisenhaft erlebt und gedeutet werden: wenn etwa die Aufnahmekapazitäten überfordert oder Überfremdungsängste geschürt werden, die rechte und rechtsradikale Parteien erstarken lassen und damit die innenpolitischen Spannungen erhöhen.
Migration und Flucht weltweit
Über 90 Prozent der Weltbevölkerung bleiben sesshaft und wandern nicht. 2013 schätzten die Vereinten Nationen die Zahl der internationalen Migranten weltweit auf 232 Millionen Menschen, das entspricht 3,2 Prozent der Weltbevölkerung. Grundlage hierfür sind die Angaben für jene Teile der Bevölkerung, die im Ausland geboren sind, oder – wenn diese Daten nicht zur Verfügung stehen – der Anteil der ausländischen Bevölkerung. Einschließlich der rund 40 Millionen Binnenflüchtlinge, also jener, die innerhalb ihrer Länder Schutz suchen, sind insgesamt rund vier Prozent der Weltbevölkerung auf der Flucht. Die jährliche Zunahme lag zwischen 2000 und 2010 bei 2,3 Prozent, fiel dann aber auf 1,6 Prozent. Weit darunter liegen die Schätzungen zu den Migrationsbewegungen, also zur Gruppe derjenigen, die tatsächlich innerhalb eines bestimmten Zeitraums über internationale Grenzen gewandert sind. Ihre Größenordnung liegt zwischen 2005 und 2010 bei 41,5 Millionen, was 0,6 Prozent der Weltbevölkerung entspricht. Trotz stark zunehmender Wanderungsgelegenheiten und der Durchdringung der Welt mit «westlichen» Werten, Lebensstilen und Bildern des Wohlstands ist die Zahl der Migranten in den vergangenen Jahrzehnten nur langsam gestiegen. Migration ist also bei weitem nicht der «Normalfall», sondern die Ausnahme.
Rund 40 Prozent der Migranten weltweit bewegen sich vom «armen» Süden in den «reichen» Norden. Etwa ein Drittel bewegt sich innerhalb des Südens und rund 20 Prozent innerhalb des Nordens. Afrikanische Migranten bewegen sich mehrheitlich innerhalb des Kontinents (innerhalb Westafrikas beschränken sich 70 Prozent der Wanderungen auf die Region). Migranten aus Süd-Asien und Süd-Ost-Asien wandern vorwiegend nach West-Asien und Nordamerika. Zu den Zielländern von Lateinamerikanern gehören Nordamerika und Staaten Südeuropas. Wanderungen nach Europa haben ihre Ausgangspunkte in nahezu allen Weltregionen.
Weltweit werden die Flüchtlingszahlen vom Hochkommissar für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR), Regierungen und Nichtregierungsorganisationen erhoben. Für Angaben zu 63 Ländern ist der UNHCR die einzige Quelle, in 61 Ländern werden die Daten nur von staatlichen Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Die Aussagekraft von Daten zum weltweiten Flüchtlingsaufkommen ist daher zwangsläufig eingeschränkt. So beziehen sich die Angaben des UNHCR lediglich auf Flüchtlinge, die unter sein Mandat fallen (es zählen unter anderem weder die palästinensischen Flüchtlinge noch sämtliche Binnenflüchtlinge dazu). Die Zahlen zum Flüchtlingsaufkommen beruhen in der Regel auf Registrierungen, Zensusdaten und anderen Erhebungen sowie Schätzungen. Letztere gelten vor allem für unvorhergesehene Notsituationen und für Länder mit hohem Flüchtlingsaufkommen, die nicht über entsprechende Behörden und Kapazitäten zur Erhebung von Daten verfügen (wie in den großen Flüchtlingslagern Jordaniens oder des Libanon). Diese Unsicherheiten, die nur die Einschätzung von Größenordnungen ermöglichen, beschränken sich aber nicht allein auf Entwicklungsländer.
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