2.1 Heißer Sommer
Timms Roman Heißer Sommer beschreibt in drei Teilen Vorgeschichte, Höhepunkt und Zerfall der antiautoritären Studentenbewegung, bietet Einblick in ihre gesellschaftliche und politische Bedingung, und ermöglicht dem Leser somit, sich in die Situation und Frustration der Studenten der sechziger Jahre einzufühlen. Die Handlung von Heißer Sommer setzt 1967 ein, unmittelbar bevor die Konflikte zwischen Studenten, der Polizei und Teilen der Gesellschaft, durch den Tod Benno Ohnesorgs eskalieren und außer Kontrolle geraten.
Beziehung zu seiner Freundin Ingeborg beendet Ullrich scheinbar grundlos und in bewusst verletzender Weise. Doch die von ihm ersehnte Erleichterung will sich nicht einstellen. Im Gegenteil: Ihm ist „[…] als würde die schräge Mansardenwand auf ihn stürzen“. 14 Ullrich ist voll Groll: „Wie hältst du das nur aus, […] dieses Professorengequatsche über Hölderlin. Mich kotzt das an […]“. 15 Erst im weiteren Romanverlauf löst Timm mehr und mehr die Ursachen für Ullrichs Frustration auf - eine Frustration die ganz wesentlich in seinem gesellschaftlichen Umfeld zu wurzeln scheint:
„[…] [W]ieder einer, der Hitler nachtrauert. […] [D]as sind doch die Typen, die alle Langhaarigen gleich vergasen wollen. […] Ein typischer Altnazi mit einem Kochtopfhaarschnitt und in einer Freizeitjacke“. 16
Hier beschreibt Timm ganz genau die vorherrschende Frustration der Studenten der sechziger Jahre, sich mit einer noch immer faschistischen Gesellschaft konfrontiert zu sehen. Ein von Timm montiertes Gedicht Friedrich Hölderlins, liest sich im Roman wie ein Appell an Ullrich und ist bezüglich der bevorstehenden Revolte beinahe von prophetischem Charakter: „Wachs und werde zum Wald! eine [sic] beseeltere, / Vollentblühende Welt! Sprache der Liebenden / Sei die Sprache des Landes, / Ihre Seele der Laut des Volkes!“. 17
Timm, Heißer Sommer, S. 8.
Beinahe täglich werden die Studenten in den sechziger Jahren in den Medien mit brutalen Angriffen auf Vietnam konfrontiert, die „[…] allen westlich-demokratischen Idealen […]“ 20 , die für sie von Bedeutung sind, widersprechen. Erfahrungen die Timm auch in Heißer Sommer aufgreift :
„Die Amerikaner hatten chemische Mittel über den Dschungel abgeworfen. […] Er (Ullrich; S. J.) las den Artikel von einer südkoreanischen Einheit, die auf seiten der Amerikaner […] kämpfte. Sie hatten einem vietkongverdächtigen Vietnamesen die Haut abgezogen und ihn dann im Dorf an den Armen aufgehängt“. 21
Entsetzt verfolgen die Studenten das Kriegsgeschehen und die Verbrechen der Amerikaner. Mit den USA, die bis in die sechziger Jahre hinein ein wichtiges Leitbild für die Jugendlichen waren 22 , können sie sich nun nicht mehr identifizieren. All dies sind Eindrücke, die ihre Spuren hinterlassen und in den Studenten mehr und mehr Spannung und Wut erzeugen. Dies transportiert Timm, indem er in Heißer Sommer eine Stimmung erzeugt, die dem Leser fortwährend das Gefühl vermittelt, etwas liege in der Luft - etwas, das auf seinen Ausbruch wartet. Der Leser erlebt die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm, die Ruhe vor dem Tod Benno Ohnesorgs. Timm schafft diese Atmosphäre, indem er wiederholt auf die Hitze des Sommers anspielt: „Ich versteh dich nicht, sagte Ullrich, daß du bei dieser Hitze schreiben kannst“. 23 Oder an anderer Stelle: „Vielleicht gibt es heute doch noch ein Gewitter […]. Ja, es ist schwül“. 24 Die Hitze und die Schwüle, die in der Luft liegen, warten darauf, sich in einem Gewitter entladen zu können. Sie sind Vorboten für das, was mit Ohnesorgs Erschießung an aufgestauten Gefühlen aus den Studenten herausbrechen wird. Im Anschluss an die Unterhaltung zwischen Ullrich und seiner Freundin Gaby, folgt im Radio schließlich die Meldung über Ohnesorgs Erschießung. 25 Dass sein Tod die Gemüter nur noch weiter erhitzt, deutet Timm mit dem darauf folgenden Wortwechsel an: „Gibt es heute noch ein Gewitter, fragte sie (Gaby; S. J.). Ich glaube nicht“. 26 Noch baut sich die Spannung weiter auf und kann sich nicht entladen. Der Tod Ohnesorgs ist nur der Anfang: Er ist die beginnende Ausweitung der 68er Revolte. Am Schluss der Szene macht Timm dies verheißungsvoll, fast
Thränhardt, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 176.
prophetisch, deutlich: „Er (Ullrich; S. J.) sah, als er sich umdrehte, auf dem Schreibtisch das leere Blatt. 27 Darauf stand unterstrichen: Einleitung. Nichts weiter“. 28
„Ullrich sah die Fotos in der Zeitung. Der Student am Boden liegend. Über ihn gebeugt eine junge Frau in einem weiten schwarzen Abendkleid. Sie hält seinen Kopf. Am Hinterkopf und auf dem Boden: Blut“. 30
Es verhält sich im Roman wie in der damaligen Realität: Auch in Heißer Sommer markiert Ohnesorgs Tod die entscheidende Wende für den Fortgang der Bewegung: Ohnmächtig vor Wut und tief erschüttert, schließen sich die Studenten zusammen und demonstrieren als Antwort auf seine Ermordung. Sie werden zu einer Gemeinschaft und erkennen „[…] daß man aus seiner Isolation […], aus einer Isolation der eigenen Sichtweise, aus einem bedrängenden und beengenden Subjektivismus, aus Ängsten und Schuldgefühlen“ 31 herauskommen kann. Diese Erfahrung, die Timm in diesem Zitat beschreibt, und die auch einhergeht mit der Erkenntnis nicht allein zu sein in seinem Leiden 32 , im Kollektiv Halt und Verständnis zu finden, gibt Timm als eine für ihn und seine Generation wichtige Erfahrung in der Studentenbewegung an - eine Erfahrung, die auch in Heißer Sommer Eingang findet:
„Ihm (Ullrich; S. J.) war aufgefallen, daß er mit jedem ohne jede Peinlichkeit reden konnte und sie mit ihm. […] Und neben seiner Wut und Empörung spürte er plötzlich auch so etwas wie Freude […]. Und dann diese ziellose Unruhe, […] seit jener Nacht, als er von dem Tod Benno Ohnesorgs gehört hatte […]. Diese Unruhe spürte er auch in den anderen […]. Erst als sich der Demonstrationszug formierte, legte sich die Unruhe“. 33
Getragen von diesen Einsichten findet in Ullrich eine Veränderung statt - sowohl in seinem Bewusstsein, als auch in seinem Handeln: „Gleich nach der Demonstration hatte er sich das
Anm.: Auf Seite 42 wird beschrieben wie Ullrich mit einem Referat beginnen möchte, er jedoch nur das
Buch gekauft und in der folgenden Nacht gelesen. Persien, Modell eines Entwicklungslandes“. 34 Zum ersten Mal investiert Ullrich seine Energie in etwas, wird aktiv, verfolgt etwas mit vollem Herzen und setzt sich für etwas ein: „[…] [I]hm sei heute nacht einiges klar geworden. Ungeheuerlich. Daß es uns hier so gut geht, das liegt daran, daß es den unterentwickelten Ländern so dreckig geht“. 35 Auch hier verweist Timm erneut auf das Herannahen eines Unwetters:
„Das leise Grummeln eines aufziehenden Gewitters war hörbar, und Ullrich sah zum Fenster hinaus. Grauschwarze tiefhängende Wolken zogen über den Himmel, der Wind drückte gegen die Fensterscheiben“. 36
So hebt Timm zum einen die einsetzende Bewusstseinsveränderung Ullrichs hervor, die hier exemplarisch für die Bewusstseinsveränderung der 68er steht, und zum anderen ist auch hier wieder das Gewitter Symbol und Vorzeichen für den anschwellenden Konflikt und die sich formierende Revolte. Der Tod Ohnesorgs leitet ein neues Kapitel in der Studentenbewegung ein: Was sich seit Jahren in den Jugendlichen an Wut, Verzweifelung, Aggression und Angst angestaut hat, bricht nun aus ihnen heraus. Ein unaufhaltbarer und gleichzeitig reinigender Prozess - wie bei einem Gewitter. Die Spannung, die sich bei den Studenten entlädt, entlädt sich im Roman schließlich auch symbolträchtig am Himmel: „Die ersten schweren Regentropfen klatschten gegen die Fensterscheiben. Ullrich sah zum Fenster hinaus. […] Ein Blitz zuckte am Himmel, etwas später der Donner […]“. 37
„[…] [W]as sind das für Verwilderungen, gerade an der Uni. Studieren die überhaupt noch oder randalieren die nur noch. Niemand randaliert, ausgenommen die Polizisten, sagte Ullrich […]. Na hör mal, sagte Ullrichs Vater […], man darf doch noch mal fragen, schließlich müssen wir ja zahlen. Ullrich wußte, daß er jetzt einen roten Kopf hatte“. 39 Ebd., S. 54.
Timm beschreibt an dieser Textstelle einen ganz essentiellen Zwiespalt, in dem sich ein Großteil der...