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Die Ausweitung der Bekenntniskultur - neue Formen der Selbstthematisierung?

neue Formen der Selbstthematisierung?

AutorGünter Burkart
VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl362 Seiten
ISBN9783531902883
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis46,99 EUR
Das Buch untersucht die zunehmende Selbstthematisierung, Selbstbeobachtung und Selbstaufmerksamkeit und damit auch die wachsende Problematisierung des eigenen Selbst in der modernen Gesellschaft.

Dr. Günter Burkart ist Professor für Soziologie an der Universität Lüneburg.

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Leseprobe
Einleitung. Selbstreflexion und Bekenntniskultur (S. 7)

Gunter Burkart

1. Eine neue Bekenntniskultur?

Im Januar 2006 wurde in der ARD ein ausführliches Interview mit der Archäologin Susanne Osthoff gesendet, die vorher im Irak entführt worden war. Nach ihrer Freilassung, deren Umstände von den Behörden geheim gehalten wurden, war in den Medien viel spekuliert worden und sie zum Teil heftig kritisiert. Reinhold Beckmann, der Interviewer, versuchte die Geschichte zu durchleuchten.

Dabei legte er großen Eifer an den Tag, Frau Osthoff persönliche Bekenntnisse abzuringen: zu ihrem Glauben, ihren familiären und persönlichen Beziehungen, ihren Gefühlen gegenüber den Entführern, ihrer kulturellen Identität, ihrer Dankbarkeit für Deutschland.

„Sind Sie dankbar, Frau Osthoff?, fragte Beckmann immer wieder, während er ihr Feuer gab - eine (angesichts der heute fast skandalösen Praxis, im Fernsehen zu rauchen) seltsam antiquierte Höflichkeitsgeste, die in scharfem Kontrast zur unhöflichen Insistenz des bohrenden Fragens stand. Aber trotz dieser intensiven Befragung gelang es dem Moderator nur selten, Bekenntnisse zutage zu fördern.

Auffällig am Interview mit Susanne Osthoff war gerade, dass sie darauf bestand, nicht über ihre privaten Angelegenheiten sprechen zu wollen. Diese Bekenntnis-Verweigerung wirkte fast noch skandalöser als die Missachtung des Rauchverbots - gemessen an der Alltäglichkeit und Selbstverständlichkeit, mit der heute Menschen jeglicher Art öffentlich zu ihren persönlichen Lebensumständen befragt werden und meist auch bereitwillig antworten.

Sie geben Auskunft über sich und ihr Innenleben, weil sie gelernt haben, sich selbst zum Thema zu machen. Selbstaufmerksamkeit und Selbstbeobachtung der Individuen scheinen zugenommen zu haben und damit auch die biografische Reflexivität. Insbesondere die inzwischen weiter ausgefacherte Tsychoszene hat Diskurse der Selbstreflexion und der Selbstverwirklichung hervorgebracht und intensiviert, wie es sie in diesem Ausmaß wohl noch nie gab.

Diese Diskurse - so die weitere Vermutung - sind tief in den Alltag eingedrungen, jedenfalls in den Bildungsschichten, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung stetig gewachsen ist. Eine Gesprächskultur der Selbstthematisierung ist entstanden, die vielfach die Form von Bekenntnis und Geständnis, von sanktionsfreier Selbstenthüllung, annimmt.

Viele Tabus sind inzwischen zurückgedrängt oder gebrochen, es darf über private und intime, das Selbst betreffende Dinge gesprochen werden, wie es früher in diesem Ausmaß nicht möglich war. Dazu kommen neue mediale Formen der Selbstdarstellung und des Identitätsmanagements. Immer wichtiger wird darüber hinaus eine kompetente Balancierung zwischen Selbsterkenntnis und Selbstdarstellung, zunehmend auch im beruflichen Bereich, wo Selbstreflexion und Selbstcoaching zu neuen Zauberformeln der Managerweiterbildung geworden zu sein scheinen.

Damit ist eine zeitdiagnostische These umrissen, die sich auf ein ganzes Bündel von Vermutungen stützt, die genauerer Prufung bedürfen. Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes bemühen sich an ausgewählten Aspekten und unterschiedlichen Themen um einen Beitrag zur Klärung dieser komplexen These.

Diese Einleitung versucht einen Rahmen abzustecken, in dem die einzelnen Beiträge verortet werden können. Zunächst wird Selbstreflexion/ Selbstthematisierung als eine von drei Dimensionen von Individualisierung konzipiert. Nach einem ersten Überblick zur neuen Kultur der Selbstthematisierung und einer kurzen Diskussion theoretischer Grundlagen und begrifflicher Probleme werden die historischen Hintergründe dieser Entwicklung skizziert.

Die Frage nach einer möglichen Reflexionselite wird kontrastiert mit der These der Verallgemeinerung und Demokratisierung: ehemals exklusive Formen der Selbstthematisierung werden nun zunehmend für alle zugänglich. Gerade in den neuen Medien, so scheint es, sind solche Demokratisierungstendenzen zu finden.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt5
Einleitung. Selbstreflexion und Bekenntniskultur8
1. Eine neue Bekenntniskultur?8
2. Individualisierung und Selbstthematisierung9
3. Eine neue Kultur der Selbstthematisierung12
4. Theoretische Ankerpunkte16
5. Selbsterkenntnis, Geständnis und Bekenntnis20
6. Strukturelle Hintergründe und historische Markierungspunkte22
7. Funktionen der Selbstthematisierung und ihre Bedeutung für Liebe und Partnerschaft27
8. Veralltaglichung und Demokratisierung. Autobiografie für jedermann und die neuen Medien29
9. Arbeit und Selbstverwirklichung32
Literatur36
Selbstthematisierung. Von der ( Er-) Findung des Selbst und der Suche nach Aufmerksamkeit42
Einleitung42
1. Individualisierung und die Geschichte der Selbstthematisierung: Von der Entdeckung über die Leugnung bis zur Vervielfältigung des Selbst45
2. Selbstthematisierung in der visuellen Kultur58
3. Selbstthematisierung im Kampf um Aufmerksamkeit63
Literatur68
Vom Beichtstuhl zum Chatroom. Strukturwandlungen institutioneller Selbstthematisierung74
Einleitung74
1. Entwicklungen moderner Institutionen der Selbstthematisierung76
2. Selbstthematisierung im Chat86
3. Schluss98
Literatur100
'Magic Mirrors'. Zur extensiven Ausleuchtung des Subjekts106
Einleitung106
1. Marktgerechter Selbstbezug und gesteigerte SelbstkontroIIe als Vergesellschaftungsmodus109
2. Das Subjekt und sein Begehren - ein Ensemble unbewusster Strukturen und Machtwirkungen111
3. Ökonomien der Manifestation des Subjekts und des Selbstmanagements116
4. Imaginäre und phantasmatische Mechanismen der Subjektbildung und Selbstmanifestation121
Literatur124
Serielle Einzigartigkeit und Eigensinn128
1. Schattenseiten der Individualisierung128
2. Das Konzept des 'romantischen Individualismus'130
3. Gegentendenzen zur Dominanz des romantischen Individualismus133
4. Serielle Einzigartigkeit135
5. Die 'Dialektik' von Individualisierung und Standardisierung137
6. Ressourcen des Eigensinns140
7. Resümee144
Literatur144
Transformationen des Selbst im spätmodernen Raum. Relational, vereinzelt oder hyperreal?146
Einleitung146
1. Raum und Selbst. Theoretische Vorüberlegungen148
2. Das relational Selbst im elektronischen Raum152
3. Das Selbst am Nicht-Ort157
4. Fazit. Das Selbst im spätmodernen Raum162
Literatur168
Massenmedien im und als Spiegel der Person172
1. Theorie des Spiegelselbst und moderne Identitätsproblematik172
2. Massenmedien als generalisierte Andere177
3. Massenmedien als Spiegel der Person179
4. Medien in Personenspiegeln181
Literatur183
Dissensfiktionen bei Paaren186
1. Dissensfiktionen und ihr Stellenwert in der Dialektik von Bezogenheit und Individuation in Paarbeziehungen. Einleitung in die Fragestellung186
2. Liebe und Partnerschaft als zwei miteinander verbundene Modi des Zusammenlebens als Paar187
3. Der Begriff der „Konsensfiktion" bei Alois Hahn188
4. Exkurs: Der Status des 'Als Ob' im menschlichen Handeln. Zur theoretischen Begründung des Begriffs ' Fiktion'192
5. Dissensfiktionen in Paarbeziehungen195
7. Dissens- und Konsensfiktionen und ihre Rolle bei den Modi des Paarlebens von Liebe und Partnerschaft200
Literatur205
Das erzählte Ich in der Liebe. Biografische Selbstthematisierung und Generationswandel in einem modernen Kulturmuster208
1. Einleitung208
2. Der soziale Konnex zwischen romantischer Liebe und Individualisierung210
3. Argumente für eine Generationsanalyse zum Wandel der Liebe213
4. Sample und methodisches Vorgehen216
5. Synopse historischer Rahmenbedingungen beim 'erzählten Ich in der Liebe'217
6. Fallvignetten aus drei Generationen219
7. Diskussion. Generationsdynamik im Kulturmuster 'romantische Liebe'228
8. Schlussbemerkung230
Literatur231
Die Veralltaglichung der Patchwork-Identität. Veränderungen normativer Konstruktionen in Ratgebern für autobiografisches Schreiben236
Einleitung236
1. Autobiografie als voraussetzungsvolle Form der Selbstthematisierung237
2. Verdachtsmomente für einen Normenwandel242
3. Autobiografie-Ratgeber als Forderer und Indikatoren des Normenwandels249
Literatur257
Die Herstellung von Biografie(n). Lebensgeschichtliche Selbstpräsentationen und ihre produktive Wirkung262
Einleitung262
1. „Doing biography" als Dienstleistung266
2. „Doing biography" als wissenschaftliche Aktivität270
3. Herstellung von 'Biografie' durch die Biografieforschung - fünf Aspekte271
4. Das narrative Interview als „Biografiegenerator"275
5. Fazit281
Literatur282
Eine Romantische Arbeitsethik? Die neuen Ideale in der Arbeitswelt286
1. Einleitung286
2. Die Protestantische Arbeitsethik290
3. Kultureller und struktureller Wandel der Arbeitswelt295
4. Trägergruppen299
5. Erfolg durch Selbstverwirklichung304
6. Schluss309
Literatur310
Gibt es Virtuosen der Selbstthematisierung?314
1. Einleitung314
2. Typenportraits. Pragmatiker und Virtuosen der Selbstthematisierung319
3. Spannungsverhältnisse327
4. Techniken der Selbstthematisierung. Diskurs und Praxis331
Literatur336
Wohl dem der eine Narbe hat. Identifikationen und ihre soziale Konstruktion340
1. „ Jemeinigkeit"340
2. Identifikation und Identität344
3. Identifikation durch die Stimme und das Antlitz: Ulrich und seine Familia347
4. Identifikation im Dunklen: Ruodberts Schnaufen349
5. Identifikation durch die Narbe: Ulrich und seine Frau Wendilgarth350
6. Narbenlose Identifikation: Martin Guerre350
7. Identifikation durch Werke: Tuotilo und Sintram351
8. Die Narbe des Odysseus352
9. Identifikationsdispositive354
10. Die Identifikation in der Sphare des Göttlichen357
Literatur360
Zu den Autorinnen imd Autoren362

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