II. Kasualpredigten – Trauung
01. Die Besonderheit der christlichen Liebe
1. Johannesbrief 4, Vers 16-21
Friedenkirche Hanau, 12.12.1999
Liebes Brautpaar, liebe Festgäste, liebe Gemeinde,
“Sonntags tun die so fromm, aber in den eigenen vier Wänden streiten die wie die Rösser”, oder “ der rennt in die Kirche, aber zu Hause...”, das sind Sätze und Gedanken, die uns allen mehr oder weniger vertraut sind. Den einen oder anderen Satz haben wir doch auch schon gebraucht, sind wir doch ehrlich; heute dieser Tag, wir haben doch klare Vorstellungen. Viele gute Vorsätze, eben alles das nicht tun, was in den ersten Sätzen angesprochen wurde, denn in Ihrer Ehe soll ja alles besser werden, sie soll ja Bestand haben, sollen die “Brocken” eben gerade nicht hingeworfen werden! Passen solche Aussagen und Überlegungen eigentlich in unsere Zeit und zu uns, die wir uns Christen nennen, aber es im Alltag gar nicht so genau nehmen, mit der christlichen Ethik? Ich denke, hier gibt es einige Dinge, die sich näher zu beleuchten lohnt, gerade zu einem Zeitpunkt, zu dem Liebe und das Miteinander so wichtig geworden sind. Ich bin davon überzeugt, dass uns die Bibel gerade heute zu diesem Fragenkreis einiges zu sagen hat. Aus diesem Grunde habe ich eben diesen Predigttext ausgesucht, denn er befasst sich mit Liebe zwischen den Menschen; er steht im 1. Brief des Johannes, im 4. Kapitel, in den Versen 16-21:
“Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.
Darin ist die Liebe bei uns vollkommen, dass wir Zuversicht haben am Tag des Gerichts; denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt.
Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht rechnet mit Strafe. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe.
Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt.
Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht?
Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.”
Haben Sie es auch gespürt? Dieser Text meint uns, uns in den vielfältigsten Situationen unseres Lebens. Ich gehe noch einen Schritt weiter, denn ich bin überzeugt davon, dass er gestern in jeder Tageszeitung, irgendwo in Deutschland gestanden haben könnte - die letzten Verse in jedem Fall!
Möglich, dass Ihnen das Bild der Bruderliebe überzogen scheint; ist es aber nicht, denn ganz im Gegenteil - “Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er dann Gott lieben, den er nicht sieht?”
Die Bruderliebe wird zum Prüfstein der rechten Gottesliebe gemacht. Eigentlich eine ganz neue Perspektive, denn heute geht es nicht um die Liebe zum Nächsten oder die Feindesliebe, die es uns vordergründig oft leicht machen. So weit geht unser Text heute nicht. Er macht die Selbstverständlichkeit der Liebe in der Familie, der Ehe, der Hausgemeinschaft oder auch in der Gemeinde zum Maßstab für die Gottesliebe. Daraus ergibt sich dann als Konsequenz: Wo selbstverständliche Liebe nicht funktioniert, wie kann da Raum und Funktion für Gottesliebe sein?
Unsere Überlegungen wären sinnlos, wenn wir uns nun nicht fragen würden, was das für unseren Alltag heißt; “seid nett zueinander und zankt nicht!” Kann das gemeint sein? Ich hätte da meine Bedenken, denn wir wissen alle, dass solches Verhalten schnell dazu führen kann, dass über Probleme nicht mehr gesprochen wird und Konflikte unter den Tisch gekehrt werden. Das kann es also bei näherem Betrachten nicht gewesen sein. Liebe soll, so unser Text, in der Familie, der Ehe, Gemeinde oder Hausgemeinschaft etwas ganz selbstverständliches sein, etwas unspektakuläres, nichts Großartiges, sondern etwas ganz normales, so selbstverständlich, dass man darüber nicht mehr nachdenken oder gar sprechen muss. So alltäglich und normal wie die Tatsache, dass ich meinen Bruder liebe.
Ich weiß, dass ich mich mit dieser Aussage auf sehr dünnes Eis begebe, denn wenn ich in die Familien hineinschaue, dann sehe und höre ich alles, nur nicht die Selbstverständlichkeit der Bruderliebe. Ich gehe noch einen Schritt weiter: In den täglichen Talk-Shows höre ich das Gegenteil von dem, was ich eben gesagt habe: Ich hasse meine Familie! Hier liegen Lichtjahre zwischen dem, was Gott von uns erwartet und dem, was wir tun! Dabei begründet der Text selbst, warum wir einander lieben sollen: “Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt!”
Hinter dieser begründenden Aussage steckt eine tiefe, menschliche Einsicht, die uns nicht verborgen bleibt: Lieben und Liebe weitergeben kann nur der, der Liebe erfahren hat, wenn man sich selbst geliebt weiß. Wo wird die Liebe Gottes zu uns nun für uns sichtbar? Zuerst immer da, wo wir Liebe erfahren, wo wir geliebt werden: Die Liebe der Eltern zu ihrem Kind, die Liebe zwischen Mann und Frau, zwischen Eheleuten, um nur einige Beispiele zu nennen. Das sind Zeichen der Liebe Gottes.
Da ich Sie aber für eine kritisch denkende Gemeinde halte, gehe ich davon aus, dass Sie mir das alles so nicht abnehmen; es gibt da eben eine andere Seite, die ich leider auch beschreiben muss: Menschen fern aller Erfahrung von Liebe; Kinder die geboren, aber ohne Liebe aufwachsen müssen, manche ohne Eltern; Ehen werden geschlossen und wieder getrennt, heute schon fast jede 2. Ehe; natürlich gehen wir heute alle davon aus, dass Ihre Ehe Bestand haben wird, dass die Liebe stärker sein wird als alle aufkommenden Probleme und Sorgen, denn sonst wäre der heutige Festtag kein Festtag mehr. Viele Menschen sind sich aber selbst überlassen, sind abgeschoben oder verlassen, vergessen, sterben in totaler Vergessenheit und Isolation, werden manchmal erst nach Monaten durch Zufall oder wegen des Verwesungsgeruches gefunden. Es gibt Augenblicke, Zeiten und Leben, in denen keine Zeichen der Liebe erkennbar sind. Wo ist oder bleibt da die Liebe Gottes?
Vielleicht sollten wir bescheidener werden, mit den Hinweisen, wo wir der Liebe Gottes begegnen können zurückhaltender werden; vielleicht sollten wir uns über eine gelungene Liebesbeziehung mehr freuen und weniger deuten. Der Liebe Gottes begegnen wir anderswo, wenn wir dem Verfasser des Briefes Glauben schenken. “Darin ist erschienen die Liebes Gottes unter uns, dass Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen”. Das sollte uns genügen! Gott ist nicht fern geblieben, hat sich nicht vor uns verborgen, sondern er ist in Jesus Christus Mensch geworden. Er kennt alle unsere Höhen und Tiefen im täglichen Leben; er kennt unsere Stärken und Schwächen. Er weiß um unsere Verzweiflung in der Ausweglosigkeit der Krankheit, um unsere Schmerzen, und er kennt unser tägliches Ringen um den Glauben.
Es gibt ein Gebet von Franz v. Assisi, dessen 2. Strophe so lautet: “ Herr, lass du mich trachten: nicht dass ich getröstet werde, sondern dass ich tröste, nicht dass ich verstanden werden, sondern dass ich verstehe, nicht das ich geliebt werde, sondern dass ich liebe”.
Ein Gebet, vielleicht manchmal schwer so zu denken und erst recht zu beten, aber ein Leitmotiv für eine gute Ehe!
Setzten wir in unserem Denken nochmals neu an; schauen wir in die Geschichte Jesu, dem Sohn Gottes hinein! Leben, Leiden, Sterben und Auferstehung kommen zu der unumstößlichen Erkenntnis: “Wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat”. Er fährt dann fort: “ Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm”.
Gott ist die Liebe, das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Die Größe, das Schöpfertum Gottes, seine Allmacht, alles ist in dieser einen Aussage, einem einzigen Satz zusammengefasst: “Gott ist die Liebe”. Alle unsere Vorstellungen über Gott werden sich daran messen lassen müssen. Paulus schreibt im 1. Brief an die Korinther im 13. Kapitel, im Vers 7. “Sie erträgt alles, sie hofft alles, sie duldet alles”, die Liebe. Unser Predigttext sagt es noch einfacher, noch großzügiger und prägnanter: “ Die Liebe Gottes bleibt!” Sie bleibt, auch dann, wenn die Fragen kommen und uns quälen, auch dann, wenn Leid kommt, das wir nicht verstehen. Die Liebe Gottes bleibt und ist uns immer nahe, in allem was uns Angst macht, in allem Kummer, in allem Bedrohlichen, in allem, das leise über uns hereinbricht und beständig an unserem Glauben nagt.
Ich kann an dieser Stelle nicht vorbei, ohne eine kleine Episode von einer goldenen Hochzeit zu erzählen, denn darin wird deutlich, welchen Stellenwert Liebe hat und wie sicher und selbstbewusst sie Menschen machen kann:
Das “goldene Brautpaar” steht vor dem Kollegen; während des Orgelspiels spricht der Pfarrer die Braut an, mit der Absicht sie zu beruhigen. “Sie sind eine schöne Braut”. “Klar”, antwortet die Braut, “wissen sie Herr Pfarrer, wer eine schöne Birne war, der wird auch eine schöne Hutzel”. Trotz des...