Eine Familienchronik
Das Hochzeitsbild zeigt ein hübsches Paar. Unser Vater, Karl, eine stattliche Erscheinung, stammte aus einer angesehenen Aargauer Bauernfamilie mit eigenem Hof und galt als gute Partie. Unsere Mutter, Elsa, eine dunkelhaarige Italienerin in einem Tüllkleid mit langen Ärmeln, war über Umwege in die Schweiz gelangt, arbeitete in einer Industriellenfamilie als Mädchen für alles und erhielt bei dieser Tätigkeit einen Schliff, der ihr kurz zuvor noch ein Buch mit sieben Siegeln gewesen sein musste.
Elsa stammte aus mausarmen Verhältnissen am Rande der Gesellschaft. Streckte sie als Kind die kleinen Hände aus, konnte sie die Bergspitzen der verschneiten Berninagruppe beinahe berühren, wie sie uns einmal erzählte. Ihre Eltern verdingten sich in einer kargen Bergregion Norditaliens als Ziegentreiber. Die vielköpfige Kinderschar litt Hunger und Armut; beides beflügelte den Streit und die Rauheit zwischen den wilden Söhnen und Töchtern sowie den Hang der Eltern, die Ausweglosigkeit der Misere in Rotwein zu ertränken. Die Steinhütte, in der sie hausten, ein von der Umwelt abgeschnittener Kosmos, funktionierte nach sozialdarwinistischen Regeln und einem Schweigekodex, der jede Hilfe von außen unmöglich machte. Über die genauen Umstände dieser Jahre blieb Elsa schweigsam. Zu Erzählungen kam es in späteren Jahren allenfalls, wenn sie zusammen mit ihrer Mutter zu tief ins Glas blickte.
Sanken die Temperaturen in ihrer Heimat unter null, besuchte uns Nonna jeweils in der Schweiz. Mehr als einmal war sie plötzlich wie vom Erdboden verschwunden, und erst nach langen Suchaktionen fanden wir sie beduselt in einem Beet liegend oder nach einem Sturz an einer steilen Waldböschung im Gehölz sitzend. Beide Frauen konnten trinken, anpacken und herumpöbeln wie Fuhrknechte, und diese Art der frühen Gleichberechtigung, die sich aus der Not und der Armut ergeben hatte, legten sie nie mehr ab. Bruchstückhafte Erinnerungen habe ich daran, wie Mutter und Nonna einander zuprosteten und jene Angepasstheit, die Elsa im Rahmen einer als erfolgreich geltenden Integration an den Tag legte, sich mit steigendem Promille-Level in Luft auflöste.
Als Kind durfte ich zweimal nach Verceia reisen. Ein mir beinahe unbekannter Mann – Großvater – lag reglos auf einer Pritsche. Ich war vierjährig und sah zum ersten Mal einen Toten. Die Erwachsenen vergossen keine Tränen, drängten mich an die Bettstatt und wiesen mich an, dem Leichnam einen Kuss zu geben. Ich schrie wie am Spieß und wollte danach wochenlang nicht mehr schlafen. Meine Vorstellungen zur Heimat meiner Mutter – blühende Orangenhaine und ein azurblaues Meer – wurden auch bei späteren Besuchen nicht erfüllt. Nonna stand in der rauchschwarzen Küche, und als Abendessen klatschte sie mir eine Handvoll heiße Polenta in die Hand. Auf der Treppe sitzend, trank ich frisches Quellwasser, das mit Rotwein vermischt worden war, und blickte in eine karge, graue Landschaft. Die Familie meiner Mutter brachte einen zähen und unruhigen Menschenschlag hervor. Nonna und ihre Tochter fanden Zeit ihres Lebens weder Frieden mit der Welt noch Versöhnung mit dem Gewesenen, und manche Blessuren ihrer geschundenen Seelen übertrugen sie auf die nachfolgende Generation.
Beim Hochzeitstermin war Elsa bereits schwanger. Mit mir. Je nach Lust und Laune verkündete sie meine ganze Kindheit hindurch, dass dieser Umstand ein Glück oder ein Unglück gewesen sei. Wie auch immer, meine Eltern waren im Grunde genommen wie füreinander geschaffen. Vater fand in seiner Frau eine Partnerin, die sich beinahe alles zutraute, und Elsa vollzog mit der Heirat von Karl den sozialen Aufstieg.
In den 1950er-Jahren war die Ankunft eines »Tschinggs«, wie Elsa nicht nur hinter vorgehaltener Hand genannt wurde, in einer kleinen Schweizer Gemeinde eine exotische Sensation. Während italienische Hilfsarbeiter zu Zehntausenden ihr Dasein auf dem Bau fristeten und in Zürich ein aufgebrachter Mob die Fensterscheiben ihrer provisorischen Unterkünfte einschlug, war Elsa auch nicht frei von Vorurteilen, was ihre Landsleute betraf. Bald erklärte die Dreißigjährige den Dorfbewohnern radebrechend den Unterschied: Sie, Elsa, stamme aus Norditalien. Dort seien die Menschen nicht nur groß gewachsen, blauäugig und reich, sondern, im Gegensatz zu den Süditalienern, auch grundehrlich und wohlerzogen. Am Stammtisch soll betretenes Schweigen geherrscht haben, denn wie eine Tochter aus gutem Hause wirkte Elsa beim besten Willen nicht. Der offenen Anfeindung, die ihr in den Anfangsjahren von der Dorfgemeinschaft und, ohne Schutz durch ihren Mann, auch von der Schwiegerfamilie entgegengebracht wurde, begegnete sie mit starkem Selbstbewusstsein, einer fast jährlichen Schwangerschaft und einem Arbeitswillen, der sogar einem indischen Zugochsen Respekt abverlangt hätte.
Während Vater ein geselliger, entspannter Mann blieb, der den Konflikten aus dem Weg ging, nur ungern Stellung bezog und sich so einer allgemeinen Beliebtheit erfreute, entwickelte sich seine Frau in den folgenden Jahren zu einer streitbaren und gewieften Geschäftsfrau. Ungeniert drang sie in die bäuerlichen Männerdomänen vor, und bevor sie in den Siebzigerjahren als erste Schweizerin die Lastwagenprüfung bestand, um fortan als umschwärmte Brummifahrerin große Baustellen mit Kies und Teer zu beliefern, galt sie bereits als Patriarchin der Familie Koch. Bald beherrschte sie den Schweizer Dialekt und vertrat ihre Meinung dezidiert in der männerdominierten Dorfbeiz. Manche fanden die emanzipierte Elsa genial. Andere fürchteten die zielstrebige Frau, die mit ihren Launen und Gefühlen als wankelmütig galt. Fröhlich und redselig, konnte ihre Stimmung innert Sekunden ins Gegenteil umschlagen. Die blauen Augen verdunkelten sich aufgrund eines Widerspruchs oder weil sich ein Plan zerschlug, was meist zur Folge hatte, dass sie sofort geschickt neue Wege fand, um das anvisierte Ziel doch noch zu erreichen. Hartnäckigkeit und Schlauheit gehörten zu Elsas guten Eigenschaften, doch ihre Unberechenbarkeit konnte zu extremen Ausbrüchen führen, vor denen wir Kinder nicht verschont blieben.
Elsa und Karl bewirtschafteten einen Bauernhof mit Kühen, Hühnern, Schweinen sowie einigen Hektaren Ackerland, das dem Anbau von Gersten, Weizen und Futtermais diente. Gleichzeitig betrieben sie ein »Fuhrhalterei« genanntes Transportwesen, das Holz und Kohle in Privathaushaltungen anlieferte. Diese Tätigkeit verrichteten sie zuerst mit der Arbeitskutsche und später mit dem Traktor. Anfang des 20. Jahrhunderts führten die Eltern mit einem einfachen Sargwagen die ersten Leichentransporte durch und schufen damit die Grundlage für das heutige Bestattungsinstitut Koch. Die Kutsche galt als ideales Gefährt, und meine Eltern hielten sie für eine geradezu modernistische Erfindung, da mein früh verstorbener Schwiegervater noch von Angehörigen berichtete, die die Särge mit einem Leiterwagen selbst zum Friedhof führen mussten.
Gab es einen Toten zu beklagen, war in meiner Kindheit zuerst der Dorfschreiner vor Ort. Er rückte den Angehörigen mit einem Werkzeugkoffer und klaren Vorstellungen auf den Leib, nahm mit ungerührter Miene Maß am Leichnam und nannte den Hinterbliebenen die Kosten für seine Dienste und die Art des verwendeten Materials: dreißig Franken; Tannenholz; gehobelt. Auch beim spartanischen Sargmodell, mit einer Innenausstattung aus grobem Tuch, handle es sich um einen Luxus, erklärte mir der Schreiner mit bösem Lächeln: Anderswo würden die Toten auf einem wiederverwendbaren Brett in einem Höllentempo in die Gruft gefahren werden.
Bevor die sterblichen Überreste der »Kunden«, wie Elsa die Verstorbenen nannte, bestattet werden konnten, wurden sie in den Abdankungsraum des Friedhofs überführt und im dortigen Sterbehäuschen ausgestellt. Die meisten verbrachten zuvor einige Tage im Bett liegend, im Kreise ihrer Familien, die in dieser Anwesenheit den Alltag wieder aufnahmen, aßen, schwatzten, stritten, weinten und nicht immer darauf achteten, dass ein Fenster im Haus geöffnet blieb, damit die Seele – und üble Gerüche – entweichen konnten. Zum Entzücken der Dorfkinder wurde der Sarg bei heißen Temperaturen vor den jeweiligen Häusern im schattigen Freien platziert. Obwohl wir wussten, was uns erwartete, handelte es sich um eine Mutprobe, wenn wir den Schieber, der auf dem Sargdeckel auf Kopfhöhe angebracht war, öffneten. Die eingefallenen Gesichter der Verstorbenen kamen zum Vorschein und klebten, nur einen Hauch von unseren neugierigen Augen entfernt, dicht am dünnen Fensterglas, was ihnen ein geisterhaftes Aussehen verlieh und uns laut kreischend davonrennen ließ.
Die erste Aufgabe der Eltern betraf das Einsargen des Leichnams, eine Tätigkeit, die zusammen mit dem örtlichen Schreiner vorgenommen wurde. Auf optische Extravaganzen wurde, bis auf das Schließen der Augen und das Anbringen einer provisorischen Kinnbinde, verzichtet. Die Gelassenheit und Robustheit der Eltern im Umgang mit dem Tod zeigte sich auch bei Unfallopfern oder jenen Verstorbenen, die manchmal erst nach Tagen aufgefunden wurden: Während manche Helfer beim Anblick extremer...