Vorrede:
Die Erkenntnislehre der Bhagavad Gita
„Keiner sei gleich dem anderen, doch gleich sei jeder dem Höchsten. Wie das zu machen? Es sei jeder vollendet in sich.“
Es gibt wohl kein Buch in der Welt, das bei allen, die es kennen, in so hohem Ansehen steht als die Bhagavad Gita, das Lied von der Gottheit, enthaltend die Lehre von der menschlichen Vollkommenheit im göttlichen Dasein. Auch hat noch jeder, der den Geist des wahren Christentums begriffen hat, dieses Buch als unübertrefflich erkannt. Unter anderen sagt Wilhelm von Humboldt, dass er Gott danke, weil Er ihn habe lange genug leben lassen, um dieses Werk kennen zu lernen. Je öfter man es liest, um so mehr fühlt man sich erhoben zu den Regionen des Lichtes der Wahrheit; je mehr man in den Geist dieser Lehre eindringt, um so mehr nähert man sich der Erkenntnis des göttlichen Grundes alles Daseins bis zu einer Tiefe, die der nur oberflächlichen, äußerlichen Naturforschung, die sich ja nur im Reiche der Erscheinungen bewegen kann, ein unerforschliches Geheimnis bleibt.
Im Lichte der Bhagavad Gita betrachtet, erscheint uns die Welt als etwas ganz Anderes und viel Erhabeneres, als wenn wir sie nur vom materiellwissenschaftlichen Standpunkte betrachten. Da sehen wir statt des leblosen Raumes einen Weltenraum voll Licht und Leben; da fassen wir die Natur nicht mehr als ein zusammengesetztes Stückwerk von lebenden und leblosen Dingen auf, sondern erkennen sie als eine Einheit, als einen allesumfassenden Organismus von unsichtbaren Kräften, ein lebendiges All, vom göttlichen Geiste, der in allen Dingen nach Offenbarwerden strebt, durchdrungen, und wir erkennen den Menschen selbst als ein überirdisches Wesen, an einen irdischen Körper gebunden, dessen Konstitution sich im Laufe der Evolution zu jener Vollkommenheit entwickelt hat, die nötig war, um sie zum Innewohnen des himmlischen Geistes tauglich zu machen und den Menschen zu befähigen, schließlich die Gottheit selbst als den Grund seines eigenen wahren Wesens und als die ewige Ursache seines Daseins zu erkennen. Mit dem Erwachen dieses Bewusstseins erlangt aber auch sein Leben einen ganz anderen und vorher nicht begreifbaren Zweck. Er findet, dass weder der Besitz äußerlicher Dinge, noch die Belustigung seiner Sinne, noch die Befriedigung seiner wissenschaftlichen Neugierde, sondern vielmehr die Erkenntnis des göttlichen Daseins und das dadurch bedingte Bewusstwerden seiner Unsterblichkeit der wahre Zweck seines Daseins ist. Wird ihm das innere Auge des Geistes durch das Verständnis der Lehren der Bhagavad Gita eröffnet, so findet er, dass, ebenso wie sein irdisches Wesen zu allen anderen Wesen auf Erden in Beziehung steht, sein geistiges Wesen mit den Bewohnern des Reiches der Geister verkehren kann. Er findet, dass er tatsächlich schon jetzt im Himmel ist, weil der „Himmel“ oder die „Überwelt“ die der äußeren Natur und allen ihren Geschöpfen zu Grunde liegende geistige Wesenheit ist, und ohne das Vorhandensein der Seele auch keine Offenbarung derselben in sichtbaren Formen stattfinden könnte. Durch das Erwachen der innerlichen Erkenntnis reicht er hinaus über den Bereich der Theorie und wird durch die eigene Erfahrung belehrt. Der in ihm zum Selbstbewusstsein erwachte göttliche Geist erkennt sein eigenes geistiges Wesen und damit auch die übersinnliche Welt des Geistes, die seine Heimat ist.
Aber dieses Erwachen des Geistes wird nicht ohne schwere Kämpfe errungen. Wohl dringt das göttliche Licht der Wahrheit in die Seele des Menschen ein, ohne dass er dabei dem Lichte behilflich sein kann; aber es stellen sich diesem Eindringen eine Menge Hindernisse in der Form von Begierden und Leidenschaften, falschen Vorstellungen und verkehrten Anschauungen in den Weg, und die Bhagavad Gita lehrt, was diese Feinde sind und wie sie überwunden werden können. In ihr wird der Kampf zwischen dem unsterblichen und dem sterblichen Teile des Menschen geschildert und der Weg zum Siege des Göttlichen über das Tierische im Menschen gezeigt.
Ardschuna (der Mensch) befindet sich auf dem Schlachtfelde (dem Felde der Tat, das das irdische Leben ist) zwischen zwei feindlichen Heeren, wovon das eine die höheren (Pandavas), das andere die niederen Seelenkräfte (Kurus) bedeutet. Da steht der Sohn Kuntis (der Seele) gegenüber seinen Verwandten, den Söhnen Dhritaraschtras (das materielle Dasein) und wird von der Selbstsucht, dem Eigenwillen, dem Eigendünkel, dem Selbstwahne und seinen Begierden, Lust, Leidenschaft, Hass, Zorn usw. bedroht. Aber auch auf seiner Seite stehen mächtige Krieger. Da ist vor allem er selbst, der Wille zum Guten, die Ergebung (Yudhistira); die Liebe zur Wahrheit, das höhere Selbstbewusstsein (Gottvertrauen), die Kraft der Überzeugung (Glaube), Erhabenheit, Pflichtgefühl, Beständigkeit, Aufrichtigkeit, Gerechtigkeitsgefühl, Selbst- beherrschung usw.. Ardschuna erkennt, dass die Feinde, die er bekämpfen soll, wenn nicht sein eigenes Selbst, so doch seine „nächsten Verwandten, Freunde und Lehrer“ (denn auch die Leidenschaften belehren den Menschen) und somit Teile seines Selbstes sind. Da entsinkt ihm der Mut zum Kämpfen und er lässt seinen Bogen (den Willen) fallen.
Nun erscheint Krischna, der dem Menschen innewohnende und ihn „beschattende“ göttliche Mensch und belehrt Ardschuna über die wahre Natur des Menschen und seine Stellung zu Gott. Er erklärt ihm, dass das, was der persönliche Mensch für sein Selbst hält, nur eine Täuschung ist; dass alle aus dieser Täuschung entspringenden Zustände, Begierden und Leidenschaften auch nur vorübergehende Erscheinungen sind, und dass der Mensch dadurch zur Erlösung kommt, dass er sie überwindet und sich mit Gott, dem unsterblichen Sein aller Wesen, vereint. Die Bhagavad Gita lehrt somit die höchste von allen Wissenschaften, die Vereinigung des Menschen mit Gott (Yoga) und den Weg zur Unsterblichkeit.
Wie alle heiligen und wahrhaft religiösen Dinge, wenn sie von dem Standpunkte des gemeinen, tierischen und beschränkten Verstandes betrachtet und oberflächlich beurteilt werden, dadurch in das Reich der Gemeinheit, des Unverstandes und Irrtumes herabgezogen und verkehrt aufgefasst werden, so erging es auch vielfach der Bhagavad Gita in den Händen der Sprachforscher und Buchgelehrten. Äußerlich und oberflächlich betrachtet stellt sie eine Episode während eines Kampfes dar, der in der Mahabharata, einem Teile der Veden, beschrieben wird. Das Alter der in den Veden niedergelegten Lehre wird nach den in demselben enthaltenen astrologischen Angaben auf mindestens 25.000 Jahre geschätzt, und die Gelehrten unter den Brahminen sind ebenso uneinig darüber, um welche Zeit der Kampf zwischen den Kurus und Pandavas stattgefunden habe, als die Theologen des Mittelalters darüber uneinig waren, um welche Zeit Adam in den „Apfel“ gebissen hätte, wo das „Paradies“ gelegen habe usw.. Eine Verständigung über diese für uns höchst uninteressante Angelegenheit können wir getrost den Philologen, Theologen und Geschichtsforschern überlassen; wir haben es nicht mit leeren Worten und Formen, sondern mit dem Geiste der in den Veden enthaltenen Lehren zu tun, der der Geist der Wahrheit und folglich ja auch der Geist des wahren Christentum ist. Die Erhabenheit dieser Lehren fängt jetzt auch an in Europa allgemein anerkannt zu werden. Sie versetzten sogar den griesgrämigen und verbitterten A. Schopenhauer in eine gewisse Begeisterung, denn als er sie teilweise in einer persisch-lateinischen Übersetzung, genannt das „Oupnek´- hat“, d. h. „das zu bewahrende Geheimnis“, kennen gelernt hatte, schrieb er folgendes:
„Wie wird doch der, dem durch fleißiges Lesen das Persisch-Latein dieses unvergleichlichen Buches geläufig geworden ist, von jenem Geiste (der Veden) im Innersten ergriffen! Wie ist doch jede Zeile so voll ernster, bestimmter und durchgängig zusammenströmender Bedeutung! Aus jeder Zeile treten uns tiefe, ursprüngliche, erhabene Gedanken entgegen, während ein hoher und heiliger Ernst über dem Ganzen schwebt. Alles atmet hier indische Luft und ursprüngliches, naturverwandtes Dasein. Und, o wie wird hier der Geist reingewaschen von all dem früh eingeimpften jüdischen Aberglauben und allen diesem fröhnenden Philosophien! Es ist die belehrendste und erhabenste Lektüre, die (den Urtext ausgenommen) auf der Welt, möglich ist; sie ist der Trost meines Lebens gewesen, und wird der meines Sterbens sein“ (Aus `Parerga´).
Der Umstand, dass das lange Gespräch zwischen Krischna und Ardschuna beim Beginne des Kampfes auf dem Schlachtfelde stattfindet, was doch wahrlich kein Ort für ausgedehnte philosophische Diskussionen ist, und dass „die Hauptstadt Hastinapura“ das Himmelreich bedeutet, hätte wohl, so sollte man glauben, gewisse gelehrte Ausleger der Bhagavad Gita auf den Gedanken bringen können, dass es sich hier, wie ja auch in der Bibel und in anderen Schriften mystischer Natur, um geistige Dinge und nicht um alleinstehende historische Ereignisse handelt, wenn sie auch in der Form von Erzählungen dargestellt sind, um die darin enthaltene Wahrheit dem Verständnisse näher zu bringen. Es ist da nicht von Dingen, die einmal geschehen sind und jetzt der Vergangenheit angehören, die Rede, sondern von der...