Mary und Shelley
Im August des Jahres 1814 beschloss ein junger, unglücklich verheirateter Dichter namens Percy Bysshe Shelley, die anarchistischen Theorien seines Mentors William Godwin, die sich gegen Kirche, Staat und Ehe richteten, wörtlich zu nehmen. Er entführte Godwins Tochter Mary und floh mit ihr und ihrer Stiefschwester Claire Clairmont aus England. Die abenteuerliche Reise führte die drei Ausreißer quer durch das von den Napoleonischen Kriegen verwüstete Frankreich in die Schweiz, wo der idealistische Percy ein »Paradies in den Bergen« zu finden hoffte. Er schrieb seiner Ehefrau einen freundlichen Brief, in dem er sie einlud, ihm und seiner Geliebten zu folgen. Ein verwegener Plan, der sich als unrealisierbar erwies. Es fehlte an den nötigen Geldmitteln, denn niemand hatte bedacht, dass der Eingang ins Paradies nicht umsonst war. Enttäuscht verließ das Trio die erhabene Alpenlandschaft und machte sich niedergeschlagen auf den strapaziösen Heimweg.
Das erste Buch Mary Godwins, »History of a Six Weeks’ Tour« (»Flucht aus England«), berichtete von dieser ungewöhnlichen Reise, als sei sie ein munterer Spaziergang gewesen. Aus den Tagebüchern erfahren wir allerdings einiges über die tatsächlichen Umstände: schmutzige Unterkünfte, in denen Ratten herrschten, primitive Landbewohner, endlose Fußmärsche in dafür völlig ungeeigneten Stadtkleidern. Immerhin sollte die bald so erfolgreiche Autorin viele der Erfahrungen in ihren Werken nutzbar machen. Als sie mit Claire und Percy durch Frankreich und Deutschland in die Schweiz wanderte, arbeitete sie bereits an einer ersten Erzählung mit dem Titel »Hate« (»Hass«). Inspiriert wurde sie möglicherweise durch eine Begegnung mit drei Studenten der Straßburger Universität, die Mary in den Tagebüchern festgehalten hatte: »Schwitz, ein recht gutaussehender, gutgelaunter junger Mann; Hoff, eine Art unförmiges Wesen, mit schweren, häßlichen, deutschen Gesichtszügen; und Schneider, der beinahe ein Idiot war, und dem seine Kameraden ständig tausenderlei Streiche spielten.«
Die Erzählung gilt bis heute als verschollen. Genauso wie Marys frühe Schreibversuche, die sie zusammen mit einigen Briefen in einem Holzkästchen aufbewahrte. Dieses Kästchen wird in Percy Shelleys Tagebuch erwähnt. Am 2. August 1814 sahen Mary und Shelley die darin enthaltenen Papiere gemeinsam durch, und Mary versprach ihrem Geliebten, er dürfe alle ihre Arbeiten lesen und studieren. Percy verschob die aufmerksame Lektüre auf einen späteren Zeitpunkt, doch weder die Texte noch das Holzkästchen werden je wieder erwähnt. Offenbar wurde alles in dem Pariser Hôtel de Vienne vergessen. Ein schmerzlicher Verlust für eine junge Schriftstellerin, doch Mary verlor ihr Leben lang kein Wort über diesen Vorfall.
Percy B. Shelley erkannte die Begabung seiner künftigen Ehefrau, die als Mary Shelley, Autorin des »Frankenstein«, berühmt werden sollte. Er förderte sie, so gut er konnte, und ermunterte sie unablässig zum Schreiben. Er selbst war seit seiner Kindheit von Literatur und phantastischen Einfällen durchdrungen. Schon als Schüler hatte er Gedichte, Pamphlete und ganze Bücher geschrieben und veröffentlicht. Der für sein Aufbegehren gegen Kirche und Staat und seine anarchistischen und atheistischen Überzeugungen geschmähte Shelley war auch ein begeisterter Leser von Schauerromanen. Früh versuchte er seinen Idolen Charlotte Dacre und Charles Brockden Brown nachzueifern. Shelleys Cousin Thomas Medwin erinnerte sich später, man habe im Winter 1809/10 gemeinsam an einer »wilden und außergewöhnlichen Abenteuergeschichte« gearbeitet, die nicht veröffentlicht wurde und verlorenging. Es ist denkbar, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich, dass es sich hierbei um eines der beiden frühen Werke Shelleys handelte: »Zastrozzi« und »St. Irvyne«.
Der Roman »Zastrozzi«, der 1810 erschien, als Shelley noch die Schulbank in Eton drückte, ist eine etwas morbide Geschichte über die Intrigen eines atheistischen Schurken. Erst auf der letzten Seite wird sein Geheimnis gelüftet: Zastrozzi hatte seiner Mutter am Totenbett geschworen, an ihrem treulosen Liebhaber und dessen Familie Rache zu üben.
Shelleys zweite »gothic novel«, »St. Irvyne; or, the Rosicrucian«, ist ein reichlich bizarrer Roman, der seine Vorliebe für alchimistische Geheimnisse dokumentiert: Ein junger, von seiner Familie verstoßener Adliger namens Wolfstein schließt sich einer Räuberbande an und begeht einer schönen Frau zuliebe allerlei Morde. Er trifft den Alchimisten Ginotti, der von der Idee des ewigen Lebens besessen ist und einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat: Dieser will ihm die Unsterblichkeit gewähren, wenn er Wolfstein dazu bringt, die Existenz Gottes zu leugnen. Die Geschichte erinnert ein klein wenig an Mary Shelleys »Frankenstein«. Das Monster, das Ginotti im Traum erscheint, kann durchaus als Vorbild für die traurige, aus Leichenteilen zusammengebastelte Kreatur Victor Frankensteins gelten.
Leider denken die meisten bei der Erwähnung Mary Shelleys immer nur an ihr berühmtestes Werk. Die Vielseitigkeit und das Talent dieser Autorin offenbart die rechtzeitig zu Shelleys 200. Geburtstag wiedergefundene Erzählung »Maurice or the Fisher’s Cot« (»Maurice oder die Fischerhütte«). Das lange Zeit verschollene Manuskript entdeckte Cristina Dazzi im November 1997 im Archiv ihrer Familie, als sie Material über den italienischen Dichter Leopardi suchte, der im Winter 1827 ihre Ururgroßmutter Margaret Mason in Pisa besucht hatte.
Margaret Mason, die mit ihrem Liebhaber George Tighe und den zwei unehelichen Töchtern Laurette und Nerina seit 1814 in Pisa lebte, freundete sich mit Mary und Percy Shelley an, nachdem diese aus gesundheitlichen, politischen und finanziellen Gründen England 1818 den Rücken gekehrt hatten und nach Italien gereist waren, wo man damals für relativ wenig Geld gut leben konnte. Mary Shelleys Mutter, die Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft, hatte Mrs. Mason in ihrer Jugend als Gouvernante betreut. Sie hatte ihrem Schützling einiges von ihren politischen und sozialen Überzeugungen, die sich gegen jede Form von Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung wandten, und die entsprechende Einstellung zur Kindererziehung und Gleichberechtigung der Frau vermittelt. 1791 heiratete Margaret den Earl of Mountcashell, ohne ihre durch ihre Gouvernante ermutigten Kontakte zu den Revolutionären in England und Irland aufzugeben. In London lernte sie auch Mary Shelleys Vater, den Sozialphilosophen und Verlagsbuchhändler William Godwin, kennen, der eines ihrer Kinderbücher veröffentlichte. 1804 verließ sie ihren Mann, dem sie sieben Kinder geboren hatte. Sie hatte sich in den unprätentiösen Gelegenheitsdichter und Privatgelehrten George William Tighe verliebt, einen Freund Mountcashells. Während die Napoleonischen Kriege Schrecken, Zerstörung und Tod verbreiteten, reisten die Liebenden durch Europa und verbrachten einige Jahre in Deutschland, wo Mrs. Mason – wie sich Lady Mountcashell nach einer Romanfigur Mary Wollstonecrafts nun nannte –, als Mann verkleidet, Medizinvorlesungen an der Universität besuchte. Nachdem sie vergeblich um das Sorgerecht für ihre in England zurückgelassenen Kinder gekämpft hatte, ließ sie sich mit Tighe in Pisa nieder, wo sie zwei Töchter zur Welt brachte und unter anderem einen Ratgeber für junge Mütter verfasste.
Mary Shelley, die die ungewöhnliche Familie während ihres langen Italien-Aufenthaltes kennenlernte, war Laurette, der elfjährigen Tochter von Mrs. Mason, besonders zugetan und schenkte ihr zum Geburtstag die schon bald verschollene und so viele Jahre später erst wiedergefundene Erzählung »Maurice, or the Fisher’s Cot«. Es ist die anrührende Geschichte eines Vaters, der seinen vor langer Zeit entführten Sohn sucht, und eines Waisenknaben, der bei einem alten, einsamen Fischer ein neues Zuhause findet. Nach dem Tod des Fischers treffen die beiden zufällig zusammen und erzählen einander ihr Schicksal. Aus Rückblenden und Erinnerungen entsteht allmählich ein komplettes Bild des Entführungsfalles und die Hoffnung auf ein neues Leben. Mary schickte 1820 eine Abschrift des Manuskripts an Godwin in London, der wegen der Kürze des Textes von einer Veröffentlichung abriet. Dabei ist jene melancholische und packende Erzählung sicherlich eine der schönsten Mary Shelleys.
Nach dem tragischen Tod ihres Mannes, der 1822 im Golf von Spezia ertrank, kehrte Mary Shelley nach England zurück. Ihr Roman »Frankenstein«, der 1818 erschien, war inzwischen in aller Munde, und eine spektakuläre Bühnenversion sorgte für die wachsende Popularität dieser wundersamen und erschreckenden Geschichte. Ihr größter Erfolg neben »Frankenstein« war ein Buch, das heute so gut wie vergessen ist: »Lodore«. Diesen Roman hätte man beinahe zu all den namenlosen Texten zählen müssen, die in Redaktionsstuben und Verlagsbüros verlorengingen, nur dass in diesem Fall lediglich die letzten 36 Seiten des dritten Teils verschwanden. Mary Shelley wunderte sich wochenlang über das Schweigen ihres Verlegers Richard Bentley, der das Manuskript verzweifelt suchte und seine Veröffentlichung immer weiter hinauszögerte. Als die Angelegenheit schließlich offenbar wurde, blieb der Autorin nichts anderes übrig, als den fehlenden Teil neu zu schreiben.
»Lodore« erschien 1835 und ist ein im Stil der »silver-fork-novels« oder »Moderomane« geschriebenes Werk. Es handelt von einer jungen Frau, die bei ihrem Vater in der amerikanischen Wildnis aufwächst und nach dessen Tod in die vornehme Londoner Gesellschaft eingeführt wird. Ein dunkles Familiengeheimnis und die Intrigen der High Society sorgen für Spannung. Der...