Einleitung
Flecken begleiten uns im Alltagsleben; genauer gesagt, sie verfolgen uns seit Kindesbeinen auf Schritt und Tritt und geben uns auch als Erwachsene nicht unbedingt Ruhe. Mal geht im Restaurant etwas daneben und verunreinigt das Tischtuch, mal ist ein Behälter undicht und hinterlässt hässliche Stellen, mal ist es ein Schreibutensil, das kleckst. Früher war es der Füllfederhalter, der regelrechte Katastrophen im Kleinformat herbeizuführen in der Lage gewesen ist, heute ist es eher – obwohl auch dieses Gerät im digitalen Zeitalter zu einer vom Aussterben bedrohten Spezies gehört – der Kugelschreiber, der manch unschöne Überraschung bereitzuhalten vermag.
Flecken sind abstoßend, unansehnlich, hässlich, ja zuweilen abscheulich. Nicht umsonst gelten sie als Störquellen, die es möglichst rasch wieder zu entfernen gilt. Jedenfalls war die Kindheit früher so organisiert, dass die Kleinen geradezu dressiert wurden, dem Fleck möglichst keine Überlebenschance zu bieten. Überall, wo das Malheur passiert war, galt es mit Unterstützung der unterschiedlichsten Hilfsmittel einzugreifen. Für diese Aufgabe sind Fleckenentferner zuständig. Wer etwa in der Abteilung Haushaltsmittel eines Supermarkts danach Ausschau hält, der wird mit einem kaum zu überschauenden Angebot konfrontiert. Obwohl es sich bei Fleckenentfernern um traditionelle, wenn nicht gar konventionelle Mittel handelt, so sind sie doch zu keiner Zeit wirklich aus der Mode gekommen.
Es gibt verschiedene Typen von Flecken: es gibt weiße, es gibt schwarze, es gibt dunkle und es gibt blinde Flecken. Am geläufigsten sind vielleicht jene, die auf die Redewendung vom »weißen Fleck auf der Landkarte« zurückzuführen sind. Wer Landkarten vergangener Jahrhunderte zur Hand nimmt, dem wird rasch klar, wie groß in manchen Erdteilen wie Afrika oder Australien etwa Gebiete waren, die als »weiße Flecken« und damit als unerschlossen galten. Von ihrer Tendenz her waren die Küstengebiete am ehesten mit Zeichen versehen, die auf Bewohnt- oder Belebtheit zu schließen schienen, und je mehr man sich ins Zentrum vorwagte, umso stärker dünnten sich die Angaben aus, bis sie schließlich in völlig unbestimmte, im Urzustand der Kartographie als »weiß« verbliebene Zonen erschienen. Dass dies nicht gleichbedeutend mit der Nichtexistenz von Menschen, Tieren, Pflanzen und der Natur insgesamt war, wusste man natürlich schon in der Vergangenheit. Nicht umsonst war deshalb häufiger die Rede von einer »terra incognita«. Es bedeutete, dass dieses Gebiet, diese Region oder dieses Land durchaus etwas aufweisen konnte, etwa unbekannte, früher zumeist noch als Volksstämme bezeichnete Ethnien, eine reichhaltige Fauna oder nur eine blühende Vegetation. Dass es auf der Landkarte weiß markiert war, bedeutete lediglich, dass es für eine derartige Zone im Auge des Betrachters nichts zu verzeichnen gab. Das konnte sogar ihren Reiz ausmachen. Nicht umsonst galt etwa Zentralafrika, insbesondere der Kongo, in früheren Jahrhunderten als geheimnisvoll. Heute jedoch, wo es in den Zeiten von Google Earth so gut wie keine unerschlossenen Gebiete auf der Erdkugel gibt, wird die Rede von dem oder den weißen Flecken fast nur noch in einem übertragenen Sinne verwendet. Sie figuriert durchweg als eine Metapher für unbekannte Wissensgebiete.
Wer hingegen von dunklen Flecken in einem physiologischen Sinne spricht, dem geht es nur allzu häufig um Alarmsignale für bestimmte Erkrankungen. So können in der Dermatologie etwa dunkel bis schwarz eingefärbte Hautpartien als mögliche Hinweise für die Entstehung eines Melanoms angesehen werden, also für eine bösartige Veränderung der Zellstruktur, die zu einer Krebserkrankung führen kann. In einem übertragenen Sinne stehen dunkle Flecken für etwas Negatives oder aber zumindest Bedrohliches. Sie gelten zumeist als Warnhinweis für irgendein Unheil. Insofern stellen sie den Vorboten eines drohenden Unglücks dar. Ganz ähnlich ist es um die Rede von den braunen Flecken bestellt. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte geht es hier nur noch selten etwa um Obst, dessen Verfallszeit überschritten ist. Seit dem Ende des Nationalsozialismus ist damit in erster Linie eine politische Symptomatik gemeint – die Gefahr einer als Bedrohung der Demokratie wahrgenommenen Renazifizierung.
Am interessantesten aber ist vielleicht die Rede von dem oder den »blinden Flecken«. Auch hier lässt sie sich in ihrer Verwendung zunächst zwischen verschiedenen Gebieten unterscheiden. Die Rede ist von der Augenheilkunde und von der Psychologie oder Sozialpsychologie. In der Ophthalmologie, wie die das Auge betreffende Heilkunde unter Medizinern genannt wird, existiert ein blinder Fleck in einem wortwörtlichen Sinne. Damit wird jene Stelle des Gesichtsfeldes bezeichnet, auf die sich die Austrittsstelle des Sehnervs im Außenraum projiziert. Da sich an dieser Stelle keine für die Erkennbarkeit nötigen Lichtrezeptoren der Netzhaut befinden, entsteht ein sogenannter blinder Fleck. Das bedeutet, dass es in dieser Region zu einem Ausfall des Gesichtsfeldes kommt. Das Tückische an diesem Phänomen besteht aber darin, dass der blinde Fleck überhaupt nicht als Mangel zur Kenntnis genommen wird. Denn das Gehirn überdeckt den Ausfall, indem es ein vollständiges Blickfeld liefert. Diese Merkwürdigkeit vom blinden Fleck war von dem französischen Physiker Edme Mariotte de Chazeuil bereits im Jahre 1660 entdeckt worden. Das Gründungsmitglied der Akademie der Wissenschaften hatte sich eingehend mit der Funktion der Netzhaut für das Sehvermögen beschäftigt. Seine Entdeckung vom blinden Fleck des Gesichtsfeldes präsentierte er bald voller Stolz dem Hofe von König Ludwig XIV.Mühelos ließ er eine Münze aus dem Gesichtsfeld des Sonnenkönigs »verschwinden«.
Ganz anders verläuft dagegen das Verständnis vom blinden Fleck in psychologischer Hinsicht. Hier geht es um Ausfallerscheinungen des Selbsts oder Ichs, das nicht mehr dazu in der Lage ist, alle Teile seiner Persönlichkeit unbeeinträchtigt wahrzunehmen. In der Psychoanalyse etwa ist in diesem Zusammenhang die Rede von einem Abwehrmechanismus, mit dem sich das Subjekt vor der Einsicht in für dieses schmerzhafte Eigenheiten oder Erlebnisse bewahren will. Die beiden US-amerikanischen Sozialpsychologen Joseph Luft und Harry Ingham sind Mitte der fünfziger Jahre auf die Idee gekommen, den blinden Fleck im Selbstbild eines Menschen durch das sogenannte Johari-Fenster zu illustrieren, in dem bewusste und unbewusste Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmale im Verhältnis zwischen einem Einzelnen und anderen beziehungsweise einer Gruppe dargestellt werden. Damit soll vor allem der Unterschied zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung aufgezeigt werden. Die Differenz macht den blinden Fleck im Auge des Selbst aus. Verstanden werden soll darunter all das, was vom Betroffenen aus gesendet und vom Empfänger wahrgenommen wird, ohne dass sich der »Sender« dessen bewusst ist. So viel zur Typenlehre der Flecken und zu den Besonderheiten im Zusammenhang mit der Rede von den blinden Flecken.
Heutzutage von »blinden Flecken« zu sprechen, ist längst zu einem Gemeinplatz geworden. Das gilt in objektiver wie in subjektiver Hinsicht. In beiderlei Hinsicht bedeutet es zunächst nicht sehr viel mehr, als auf Erkenntnislücken zu verweisen und auf diesem Wege zugleich neue Erkenntnisziele zu markieren. Wer in einer Angelegenheit nach »blinden Flecken« sucht, der erweckt jedoch nur zu rasch den Eindruck, als ginge es ihm in Wirklichkeit darum, »dunkle Flecken« ausfindig zu machen, um die es immer dann geht, wenn das Ziel darin besteht, etwas Belastendes und insofern etwas Negatives herauszufinden. Doch das muss keineswegs so sein. Zwar ist nicht auszuschließen, dass bei der Untersuchung derartiger Flecken gewissermaßen dunkle Stellen zum Vorschein kommen, grundsätzlich aber gilt, dass der Erkenntnisprozess ergebnisoffen verlaufen sollte. Das gilt selbstverständlich auch für einen vielschichtigen, nur schwer eingrenzbaren und mit Deutungsangeboten geradezu überladenen zeithistorischen Komplex wie den der 68er-Bewegung.
Zum 50. Jahrestag eines so bedeutenden wie bis auf den heutigen Tag nachhaltig wirksamen Ereigniszusammenhanges nicht etwas zu schreiben, um ihm im übertragenen Sinne eine weitere Girlande zu flechten, bedarf keiner näheren Begründung. Insbesondere deshalb nicht, weil in Teilen der Öffentlichkeit bereits seit Langem ein gewisser Überdruss existiert, mit diesem Thema ein weiteres Mal behelligt zu werden. Die Episoden, so heißt es nur allzu häufig, seien bis zum Überdruss erzählt, die dabei verwendeten Narrative längst erstarrt und die Geschichten hingen einem mehr oder weniger zum Hals heraus.
Diese Wahrnehmung mag in mancher Hinsicht vielleicht sogar zutreffen...