5 Die optimale Hirnfunktion
5.1 Das Gehirn als Teil des Körpers – Top-down und Bottom-up
Unser Gehirn, dieses seltsame Ding in unserem Schädel – so langsam begreifen wir, dass es ein Teil unseres Körpers ist wie andere Organe auch. Gleichzeitig unterscheidet es sich aber deutlich von anderen Organen, weil es in seiner Funktion etwas gänzlich Unkörperliches produziert, das wir als Psyche bezeichnen. Psyche können wir nicht anfassen, vermutlich fällt uns daher das Begreifen des Wesens der Psyche auch so schwer.
Psyche ist ein Konstrukt, das geschaffen wurde, um menschliches Verhalten beschreibbar zu machen. Sigmund Freud, dem Vater der Psychoanalyse, verdanken wir die ersten Versuche, Psyche besprechbar zu machen – im therapeutischen wie im wissenschaftlichen Sinne. Erst wenn wir etwas benennen, können wir uns darüber austauschen, was es ist oder sein kann. Das Mittel zur Erforschung der Psyche ist die Beobachtung. Die Beschreibung und Interpretation von Beobachtungen der Psyche sind aber selbst bereits psychische Prozesse, die durch Kontextfaktoren beeinflusst werden. Damit kann die Beschreibung von Psyche auch stets nur so gut sein, wie vorhandenes Wissen zur Beschreibung genutzt werden kann.
Wir wissen bei weitem noch nicht alles über das Gehirn, aber doch deutlich mehr als Sigmund Freud zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Verfügung stand. Diese neuen Erkenntnisse müssen in das bisherige Wissen integriert und auf ihre Plausibilität geprüft werden, denn das alte Wissen ist dadurch nicht wertlos. Aber es muss geprüft werden, ob bisherige Annahmen – beispielsweise in der Diagnostik und Behandlung von psychischen und psychosomatischen Störungen – noch gültig bleiben können. Gültige Erkenntnisse müssen stets auf ihren Nutzen im Sinne der Zielerreichung überprüft werden, d. h. auch auf ihre Funktionalität in Bezug auf das Ergebnis.
Bereits Sigmund Freud erkannte, dass sich zwischen Menschen Prozesse abspielen, die sich auf die Psyche auswirken – auf das Verhalten, auf das Denken, auf die Beziehung zwischen den Menschen. Aber auch auf die Gesundheit und die Persönlichkeit, also auf die Rolle, die der Einzelne innerhalb der Gemeinschaft einnimmt. Zwischenmenschliche Beziehung kann verändern, aber auch Veränderung verhindern. Zwischenmenschliche Beziehung kann krankmachen, aber auch gesund. Das ist uns allen irgendwie klar. Aber wie funktioniert das?
Beginnen wir noch einmal bei der Psyche und ihren Störungen. Wir sprechen von psychischen bzw. psychosomatischen Störungen, und nicht Krankheiten. Das liegt daran, dass wir bei psychischen und psychosomatischen Störungen keine körperliche Ursache finden – oder bisher nicht gefunden haben. Es gibt in der Regel keinen körperlichen Befund, der das Vorliegen einer Erkrankung beweist, also keinen Laborwert, keinen Nachweis in der Bildgebung, keinen Nachweis in der Funktionsdiagnostik. Und dennoch können wir krank sein. Oder eben gestört. Psychisch oder psychosomatisch gestört.
Solange wir kein Problem haben, bemerken wir gar nicht, dass wir eine Psyche haben. Und wenn unsere Psyche uns wissen lässt, dass wir ein Problem haben, dann wissen wir häufig auch, woran das liegt: in der Regel nicht an uns selbst, sondern an den anderen. Oder an den Rahmenbedingungen, die unser Leben beeinflussen. Mitmenschen und Rahmenbedingungen, die uns belasten, die uns stressen und uns daran hindern, unser Leben so zu gestalten, wie wir es am besten finden. Die uns in unserem Wohlbefinden stören. In unserem Gleichgewicht, unserer Homöostase.
Was denken Sie, wer in Ihrem Körper am Steuer sitzt? Sie selbst oder Ihr Gehirn?
Das Gehirn ist – räumlich gesehen – ziemlich weit oben in Ihrem Körper (sofern Sie aufrecht stehen). Daher sprechen wir häufig von einer »Top-down«-Regulation, wenn das Gehirn oder vielmehr der präfrontale Kortex (als Sitz der bewussten Aufmerksamkeitssteuerung) uns das Gefühl vermittelt, wie würden unser Verhalten selbst steuern. Für unsere Überlegungen ist es nicht relevant, ob wir überhaupt in der Lage sein können, unser Verhalten bewusst zu steuern. Dies merke ich an, da aktuell die neurowissenschaftliche Gemeinschaft sich damit auseinandersetzen muss, dass es Hinweise darauf gibt, dass das Bewusstsein immer erst kurz nach dem Impuls zum Verhalten glaubt, selbst entschieden zu haben.
Das Gehirn kann Verhaltensentscheidungen vermutlich in den seltensten Fällen aus sich selbst heraus treffen (»top down«), da das Gehirn selbst gar nichts wahrnehmen kann. Informationen, die das Gehirn zu Entscheidungen befähigen oder vielmehr sogar zwingen, erhält das Gehirn auf dem Weg des sensorischen Nervensystems aus dem Körper selbst bzw. von den Sinnesorganen.
Das ist im Körper wie in den meisten Organisationen: Selten kann ein Management sinnvolle Entscheidungen für das Gesamtergebnis treffen, wenn es keine Informationen aus den Teilen der Organisation berücksichtigt. Und die Informationen aus der Peripherie an die Zentrale beeinflussen die Entscheidung der Zentrale (»bottom up«). Auf das Gehirn bezogen bedeutet das: keine Entscheidung des Gehirns ohne Berücksichtigung des Körpers. Auf die Psyche bezogen: keine Psyche ohne Körper. So weit zum Dominanzanspruch der Psyche.
5.2 Hirnstamm und autonomes Nervensystem
Solange wir uns in einem sicheren Umfeld befinden, uns ungestört fühlen, können wir uns der Illusion hingeben, dass unsere höheren kognitiven Funktionen unser Verhalten und unser Denken bestimmen. Denn nur in diesem Zustand kann das Gehirn »in Ruhe« auf die Errungenschaften der evolutionären Weiterentwicklungen unseres Säugetiergehirns zurückgreifen. Dazu zählen u. a. Bewusstsein, Handlungsplanung, Zukunftsvision und Rückblick – komplexe Prozesse, die sich im Bereich unserer Großhirnrinde abspielen, jenem Teil unseres Gehirns, der unseren Schädel so weit vergrößert hat, dass wir im Vergleich zu den meisten anderen Säugetieren zu einem als frühgeburtlich zu bezeichnenden Zeitpunkt den schützenden Mutterleib verlassen müssen, da wir zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr durch den engen Geburtskanal des weiblichen Beckens passen würden.
Atmung, Kreislauf, Körpertemperatur, Energiehaushalt – das sind Basisfunktionen des Körpers, die das Überleben sichern und nicht minder komplexe Aufgaben des Gehirns, die wir aber als primitive Aufgaben bezeichnen, da wir diese mit deutlich einfacher strukturierten Lebewesen gemeinsam haben. Diese Basisfunktionen unseres Gehirns, die unser Überleben sichern, spielen sich im Hirnstamm ab, der aus evolutionsbiologischer Sicht einen deutlich älteren Teil unseres Gehirns darstellt.
Der Hirnstamm bildet anatomisch gesehen die Schnittstelle zwischen dem Groß- und Mittelhirn und dem Rückenmark, das neben den zwölf Hirnnerven die Hauptverbindung zwischen zentralem und peripherem Nervensystem darstellt. Ein Großteil der Informationen aus dem Körper durchläuft den Hirnstamm auf seinem Weg in das Großhirn. Ein nicht unwesentlicher Teil der aus der Körperperipherie eingehenden sensorischen Informationen wird bereits im Hirnstamm verarbeitet und führt ohne Einschaltung zentral gelegener Hirnareale zu motorischen Antworten zurück an die Peripherie. Hierzu dienen sogenannte Kerngebiete im Hirnstamm. Das sind Bereiche, in denen viele miteinander vernetzte Zellkerne mit Spezialisierung für bestimmte Aufgaben verortet sind und diese in autonomer Weise erledigen. Ständig, ohne Pause, im Hintergrund, meistens unbemerkt vom Bewusstsein. Diese Unabhängigkeit von zentraleren Hirnfunktionen haben sich diese Kerngebiete erhalten. Warum hätte die Evolution auch effizient für das Überleben und die Weiterentwicklung der Art arbeitende Systeme verändern sollen, die bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Entwicklung des Lebens optimiert wurden?
Möchten Sie diesen Teil Ihres Gehirns gerne kennenlernen? Es könnte sich langfristig lohnen, von seiner Existenz zu wissen und seine Bedeutung für überlebenswichtige Funktionen Ihres Körpers zu kennen. Und denken Sie stets daran: Was Sie über Ihren eigenen Körper wissen, dass wissen Sie auch über den Körper der Menschen,...