Exkurs zur Vater-Kind-Mythologie
Ohne weiteres deutlich ist die Verwandtschaft dieses Motivs mit dem Oidipus: dort setzt der Vater den Sohn wegen eines Unheilorakels aus. Entmythologisierend muß diese Prognose des Unglücks, welches der Sohn bringen soll, als mythische Form des Generationenkonflikts gesehen werden oder als Versuch, zu verhindern, was das Sprichwort verspricht: daß große Kinder große Sorgen bringen. Der Sohn wird Ärger machen: ist die Prämisse, die bewußt oder unbewußt das Handeln motiviert. Der Versuch des Vaters, durch die Tötung des Sohnes seine eigene zu vermeiden, mißlingt. Als Moment ist so auch im Oidipusgeschehen: daß die Handlungen sich gegen ihre Subjekte wenden; hier wie überhaupt, kommt es anders als man glaubt.
Prima vista und im Gefolge der eingefahrenen Brautexegese möchte man meinen, Schiller habe das Motiv aus dem Sophokles entnommen; es sind bei ihm jedoch ganz wesentliche Verschiebungen der klassischen Figurenkonstellation eingetreten. Seine Motivstrukturierung funktioniert nicht mehr nach dem von Freud beschriebenen Oidipusgeschehen: daß der Sohn den Vater tötet, um über die Mutter verfügen zu können. Der Vater ist nur noch, weil schon gestorben, Vertreter des Institutionellen, das die Kinder in ihrer Entwicklung bestimmte. Sie leiden zwar an dem, was er hinterließ. Der tödliche Konflikt aber ist in die Kindergeneration verlagert.
Einer der stärksten Züge des Stückes ist, was Schiller weiter mit diesen Vorgängen um die Tochter machte; die Mutter Isabella
vereitelte
Den blutgen Vorsatz und erhielt die Tochter
Durch eines treuen Knechts verschwiegnen Dienst. (V. 1328ff.)
Sie läßt Beatrice in ein Kloster bringen und dort verborgen vor dem Vater heranwachsen. Sie verhindert also, daß Barbarisches wirksam wird, sie humanisiert den Mythos. Was bei den Griechen noch eine Göttin durchführt: die Rettung der Iphigenie durch Artemis, ist in der Dichtung schon Werk des Menschen[20]. Aber, und das genau ist das Starke: auch diese bestimmte Negation des barbarischen Befehls durch seine Humanisierung verhindert nicht das Unheil: daß beide Söhne sich in die ihnen unbekannte Schwester verlieben und der eine den andern aus Eifersucht tötet. Gezeigt wird so in der stilisierten Zeichnung einer sonst, wenn man will, haarsträubenden Handlung: daß auch Humanisierung nur ein Prozeß ist, der das Humane selbst nicht herstellt. Die Verhinderung der Tötung bedeutet doch Leben fernab der Familie in der Einsamkeit des Klosters.
So ist jedenfalls, und nur darauf war vorab hinzuweisen, Schuld schon in der Vorgeschichte. Die auf der Bühne handelnden Individuen verfangen sich in diesen Fallstricken, die sie selbst nicht gelegt haben.
Andrerseits ist das Stück nicht rein analytisch; es benutzt auch progressive Technik: baut die Schuld, den großen Fehler in der Handlung selbst auf. Darauf wird im einzelnen einzugehen sein. Nur als Hinweis: vieles erscheint den Interpreten als mangelnde dramatische Motivation, als Schwäche des Dramas, so etwa: Don Cesar entfernt sich, als vom Auffinden der Beatrice die Rede ist er erführe ja sonst Entscheidendes zu früh[21]. Das ist eine zu schlichte, formalistische Auslegung. Die Entfernung ist wohl motiviert aus dem Wunsch, die vermeintlich entführte Schwester zu retten. Vielmehr ist diese Entfernung ein Signal, ein Hinweis in freilich poetischer Vertestung: sie zeigt die mangelnde Kommunikation der Handelnden, aus der das Unheil mit entsteht. Es wäre, bei umfassendem ue spräch, vermeidbar gewesen.
Mit diesen Bemerkungen ist auf wichtige Züge der Haupthandlung hingewiesen; auf sie bleibt genauer einzugehen. Sie wird nur voll verstehbar, wenn man die Fülle an Motiven erkannt hat, die in sie eingewoben ist.[22] Auf sie soll zunächst hingewiesen werden, besonders anhand der Äußerungen des Chores. Über dessen doppelte Funktion hat Schiller sich gegenüber Körner geäußert: Wegen des Chors bemerke ich noch, dass ich in ihm einen doppelten Charakter darzustellen hatte, einen allgemein menschlichen nehmlich, wenn er sich im Zustand der ruhigen Reflexion befindet, und einen spezifischen, wenn er in Leidenschaft geräth und zur handelnden Person wird. In der ersten Qualität ist er gleichsam außer dem Stück und bezieht sich also mehr auf den Zuschauer. Er hat, als solcher, eine Überlegenheit über die handelnden Personen, aber bloß diejenige, welche der ruhige über den passionierten hat, er steht am sichern Ufer, wenn das Schiff mit d. Wellen kämpft. In der zweiten Qualität, selbsthandelnde Person, soll er die ganze Blindheit, Beschränktheit, dumpfe Leidenschaftlichkeit der Masse darstellen, und so hilft er die Hauptfiguren herausheben. (10.05.03) In der Vorrede beschreibt er die erste Funktion, auf die es hier primär ankommt, genauer: Der Chor verläßt den engen Kreis der Handlung, um sich über Vergangenes und Künftiges, über ferne Zeiten und Völker, über das Menschliche überhaupt zu verbreiten, um die großen Resultate des Lebens zu ziehen und die Lehren der Weisheit auszusprechen.[23] Der Chor ist die Kraft der Reflexion, der zwischen die Passionen mit seiner beruhigenden Betrachtung tritt[24]. Aber er thut dieses mit der vollen Macht der Phantasie, mit einer kühnen lyrischen Freiheit, welche auf den hohen Gipfeln der menschlichen Dinge wie mit Schritten der Götter einhergeht und er thut es von der ganzen sinnlichen Macht des Rhythmus und der Musik in Tönen und Bewegungen begleitet.[25] Man wird sich, bei genauerem Hinsehen, auf einiges gefaßt machen müssen und nur durch Anstrengung der Reflexion deutlicher sehen.
Zunächst zeigt sich der Chor, geschichtstheoretisch argumentierend, als kluger Sachwalter seiner, d.h. des Volkes von Messina, Interessen:
Diese Ulmen, mit Reben umspannen,
Sind sie nicht Kinder unsrer Sonnen?
Könnten wir nicht in frohem Genuß
Harmlos vergnügliche Tage spinnen,
Lustig das leichte Leben gewinnen?
Warum ziehn wir mit rasendem Beginnen
Unser Schwert für das fremde Geschlecht?
Es hat an diesen Boden kein Recht.
Auf dem Meerschiff ist es gekommen,
Von der Sonne röthlichtem Untergang,
Gastlich haben wirs aufgenommen
(Unsre Väter! Die Zeit ist lang)
Und jetzt sehen wir uns als Knechte
Unterthan diesem fremden Geschlechte! (V. 198 ff.)
G. Kaiser hat gelehrt darauf hingewiesen, daß die Ulme mit Reben umspannen, ... der traditionelle Baum der Idylle sei.[26] Darin vermeintlich, in der Idylle, können sie nicht leben, die Sizilianer, weil die bösen Normannen sie unterdrücken. Schiller hat, und das ist ein kluger Trick,[27] in dieser Bildlichkeit die Situation der absolutistischen Herrscher eingefangen. Auch sie sind Fremde. Das ist Verfremdung der falschen Wirklichkeit in die poetische Stilisierung, die das Richtige durch Reflexion zu ermitteln erlaubt. Isabella, selbst der Herrschaft, obwohl Gemahlin des Herrschers, ausgesetzt, weiß das. Sie warnt die Söhne vor dem Chor als Vertreter des messenischen Volkes
Sie sind Nicht eure Freunde ! Glaubet nimmermehr
Daß sie euch wohlgesinnt zum Besten rathen !
Wie könnten Sies von Herzen mit euch meinen,
Den Fremdlingen, dem eingedrungnen Stamm,
Der aus dem eignen Erbe sie vertrieben,
Sich über sie der Herrschaft angemaßt?
Glaubt mir! Es liebt ein jeder, frei sich selbst
Zu leben nach dem eigenen Gesetz,
Die fremde Herrschaft wird mit Neid ertragen. (V. 337 ff.)
Damit ist ganz deutlich ein für Schiller zentrales Thema artikuliert: die Situation, Legitimation des Absolutismus. Isabella, als selbst von absolutistischer Willkür Betroffene, ist in der Lage, die Sache zu formulieren. Sie sieht, was fact ist: fremde Herrschaft provoziert Neid, was nicht übermäßig glücklich formuliert ist; zu substituieren wäre: Wut. Seltsamerweise lassen sich die Subjekte, die sich Menschen nennen, nicht gern von anderen bestimmen. Daß der Marbacher es mit diesem Thema ernst meint, zeigt, daß Isabella mit ihren Auslassungen noch lange nicht am Ende ist:
Von eurer Macht allein und ihrer Furcht
Erhaltet ihr den gern versagten Dienst.
Lernt dieß Geschlecht, das herzlos falsche kennen!
Die Schadenfreude ists, wodurch sie sich
An eurem Glück, an eurer Größe rächen.
Der Herrscher Fall, der hohen Häupter Sturz
Ist ihrer Lieder Stoff und ihr Gespräch,
Was sich vom Sohn zum Enkel fort erzählt,
Womit sie...