2 DER DRUCK STEIGT
Warum eine Bildungsrevolution notwendig ist
»Bildung für alle, und zwar sofort!«17
Motto der Schüler- und Studentenstreiks 2008/2009
In Deutschland ist der Wunsch nach höherer Bildung ungebrochen: Mehr als die Hälfte eines Jahrgangs erwirbt inzwischen die sogenannte Hochschulzugangsberechtigung, fast zehnmal mehr als 1960. In einzelnen Bundesländern liegt der Anteil noch deutlich höher, in Nordrhein-Westfalen zuletzt bei zwei Dritteln.18 Die Bedeutung der Hauptschule hingegen hat rasant abgenommen: Besuchten zu Beginn der sechziger Jahre noch knapp 70 Prozent der Schüler eines Jahrgangs diese Schulform, taten dies 2013 nicht einmal mehr 15 Prozent (siehe Abbildung 1).19
Entsprechend entscheidet sich mittlerweile der überwiegende Teil der Schulabgänger für ein Studium und gegen eine duale Ausbildung (siehe Abbildung 2).20 Waren unsere Hochschulen ursprünglich darauf ausgelegt, eine kleine akademische Elite auszubilden, ist Studieren inzwischen zum Normalfall geworden. Die Zahl der Hochschulabsolventen hat sich allein in den vergangenen zwanzig Jahren von gut 200000 auf jährlich weit über 400000 mehr als verdoppelt.21 Ausbildungsberufe wie Erzieherinnen oder Krankenpfleger, die in anderen Ländern ein Hochschulstudium erfordern, sind in dieser Statistik noch gar nicht berücksichtigt.
Bildung wird zur Massenware
Was in Deutschland seit einiger Zeit als »Akademikerwahn-Debatte« die Feuilletons beschäftigt, ist anderswo auf der Welt schon lange akzeptierter Standard, wenn nicht explizites politisches Ziel. In Korea erreichen inzwischen fast sieben von zehn Jugendlichen eines Jahrgangs einen Hochschulabschluss,22 in den USA strebt man sogar das »College for all« an.23 Bildungsforscher gehen davon aus, dass sich die Zahl der Studierenden binnen der nächsten zehn Jahre weltweit auf dann über 260 Millionen verdoppeln wird.24
In den Schwellenländern ist die Dynamik besonders groß: Staat und Familien investieren massiv in die Zukunftschancen ihrer Kinder. So wird die Hälfte aller Hochschulabsolventen aus OECD- und G20-Staaten im Jahr 2030 aus China und Indien kommen.25 Dort hat sich bereits im vergangenen Jahrzehnt die Zahl der Hochschulen verdoppelt und die Zahl der Absolventen vervierfacht. Bis zum Ende des Jahrzehnts will China knapp 200 Millionen Menschen zu einem Hochschulabschluss führen.26 Zum Vergleich: Im deutschen Arbeitsmarkt sind derzeit gerade einmal 8 Millionen Akademiker tätig.27 Und auch in der beruflichen Bildung sind die Dimensionen der geplanten Expansion enorm: Indien hat sich bis 2022 vorgenommen, 500 Millionen Menschen qualifiziert auszubilden28 – eine Aufgabe, für die das deutsche Ausbildungssystem mit seinen derzeitigen Kapazitäten fast tausend Jahre bräuchte.
Die Motive – Aufstiegswunsch auf der einen Seite, Abstiegsangst auf der anderen – mögen unterschiedlich sein, das Ergebnis ist das gleiche: Das Streben nach mehr und höherer Bildung vereint die Welt. Experten gehen trotz des weltweiten Bildungshungers davon aus, dass der globale Arbeitsmarkt noch lange nicht gesättigt sein wird. Denn der Mangel an Akademikern und Fachkräften ist bereits heute groß und droht immer größer zu werden. Es fehlen Naturwissenschaftler und Ingenieure, ebenso Ärzte und Pflegepersonal.29 Auch in Deutschland ist trotz der von manchen befürchteten Akademikerschwemme kein Sättigungseffekt auf dem Arbeitsmarkt abzusehen. Im Gegenteil: Die Arbeitslosenquote bei Akademikern liegt konstant auf einem extrem niedrigen Niveau zwischen zwei und drei Prozent.30 Davon profitieren Staat und Bürger gleichermaßen: Je höher das Bildungsniveau eines Landes, desto stärker das Wirtschaftswachstum und desto geringer die öffentlichen Sozialausgaben.31 Hochschulabsolventen sind häufiger und länger erwerbstätig, arbeiten öfter in Vollzeit und verdienen deutlich mehr.32
Die Hörsäle quellen über
Doch der globale Bildungsdrang bietet nicht nur neue Chancen, sondern bringt auch neue Herausforderungen. Lässt sich personalisiertes Lernen überhaupt verwirklichen, wenn Bildung zur Massenware wird und die Vielfalt an Schulen, Unis und in Betrieben immer weiter wächst? Können wir uns so viel Bildung in Zeiten knapper Kassen leisten? In westlichen Industriestaaten mit öffentlicher Bildungsfinanzierung stehen vor allem die Hochschulen unter Druck. So auch in Deutschland: Die Universitäten sind überfüllt, seit Jahren schon ächzen sie unter dem endlosen »Studentenberg« und arbeiten weit über ihre Kapazitätsgrenzen. Wer an beliebten Hochschulen studieren will, muss für viele Fächer Bestnoten mitbringen und sich auf umfangreiche Auswahlverfahren einlassen.33 Oft hilft allenfalls ein Umzug in eine weniger attraktive Stadt, und in Fächern wie Psychologie oder Medizin kommt – trotz des absehbaren Ärztemangels – noch eine lange Wartezeit hinzu. Wer es dann endlich an eine Hochschule geschafft hat, dem kann es passieren, dass er im ersten Semester viel Zeit im Kino verbringt – um per Liveübertragung einer überfüllten Einführungsvorlesung aus dem Audimax zu lauschen.34 So sehr sich die Hochschulen auch bemühen: Persönlicher Kontakt, vielleicht sogar ein fachlicher Austausch mit dem Professor, bleibt für viele Studenten mindestens während ihres Bachelors ein Wunschtraum. Gelernt wird, was das Lehrbuch vorgibt und die Klausuren der vergangenen Jahre für die Prüfung erwarten lassen.
Hier zeigt sich ein scheinbar unauflösliches Dilemma des Humboldtschen Bildungsideals. Der preußische Reformer wollte Bildung für die Masse, doch nun droht die Qualität an der Masse zu scheitern. Forschendes Lernen und ganzheitliche Bildung, ein Studentenleben in akademischer Freiheit, letztlich die individuelle Selbstverwirklichung – diese Ansprüche sind kaum noch zu erfüllen, wenn mehr als die Hälfte eines Jahrgangs an die Hochschulen strebt.
In Ländern wie Indien sind die Probleme noch gravierender: Dort sitzen oft sechzig Kinder und mehr in einem Klassenzimmer, immer wieder fällt der Unterricht wegen Lehrermangels aus. Diejenigen, die trotzdem einen guten Schulabschluss schaffen, wollen meist an die Universität. Nur kommen mittlerweile auf einen Studienplatz bis zu fünfzig Bewerber.35 Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder ins Ausland, der große Rest hat das Nachsehen. Das System kann das breite Streben nach Aufstieg durch Bildung nicht bewältigen. Massenschule und Massenuniversität sind der Preis für die Befriedigung des globalen Bildungshungers.
Vielfalt wird zur Normalität
Mit der Masse kommt die Vielfalt. Egal ob in Kita, Schule, Hochschule oder beruflicher Weiterbildung: Je mehr Menschen dort lernen, desto unterschiedlicher sind die jeweiligen Veranlagungen, Interessen und Leistungen. Wenn der Anteil der Gymnasiasten heute mehr als doppelt so groß ist wie vor fünfzig Jahren und die Zahl der Hochschüler sich im gleichen Zeitraum verzehnfacht hat,36 dann ist Vielfalt die neue Normalität – und wird zur größten Herausforderung, der die Bildungseinrichtungen begegnen müssen.
Verantwortlich für diese Entwicklung sind Politik und Eltern. Über alle Parteigrenzen hinweg hat man seit Jahrzehnten den Ausbau und die Öffnung von Gymnasien und Hochschulen betrieben. In Universitätsstädten wie Freiburg gibt es Stadtteile, in denen über 90 Prozent der Eltern ihre Kinder aufs Gymnasium schicken.37 Ähnlich verhält es sich in den teuren Wohngegenden der Großstädte, zum Beispiel im Hamburger Westen. Der Elternwille macht das Gymnasium zur neuen Gesamtschule der Mittelschicht – und fächert dort das Leistungsniveau immer weiter auf. In der Konsequenz liegen selbst an Gymnasien in Bayern, wo die strengsten Zugangsbedingungen gelten, zwischen den stärkeren und den schwächeren Schülern mehrere Jahre an Leistungsabstand.38
Neben der Intelligenz von Kindern sind es in hohem Maße auch soziale, ethnische oder geschlechtsspezifische Faktoren, die die Leistungsvielfalt in den Schulen erklären. Das ist keine ganz neue Erkenntnis. Schon 1964 prangerte Georg Picht in seinem Buch Die deutsche Bildungskatastrophe soziale Benachteiligungen an.39 Nur sind die Risikogruppen heute andere. Was damals die katholischen Arbeitermädchen vom Lande waren, sind heute die männlichen Migrantenkinder aus bildungsfernen Familien in der Großstadt.
An den Hochschulen sieht es nicht anders aus: Wenn Studieren der Normalfall wird, wächst auch hier die Vielfalt und das vermeintlich Atypische wird zunehmend typisch. Längst führt der Weg an die Hochschule nicht mehr nur direkt über das Abitur – bereits 22 Prozent der Studierenden in Deutschland haben eine abgeschlossene Berufsausbildung. Ein berufsbegleitendes, duales oder Fernstudium machen immerhin schon zwölf Prozent – mit eindeutig steigender Tendenz.40 Egal ob der Handwerksmeister, der Fachabiturient mit kaufmännischer Ausbildung oder die neben dem Beruf...