Ursula Klingenböck
»in kleinen wellen gegen den strich / gebürstet«1
Donau-Konzepte in der Gegenwartsliteratur
Der Beitrag fokussiert auf das Crossover-Phänomen »Donau« in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Der Fluss interessiert dabei sowohl als ästhetisches Konstrukt als auch in seiner intra- wie extratextuellen Funktion (Gegenstand der Beschreibung, Ort der Handlung, häufig metaphorischer Träger politischer, sozialer und kultureller Bedeutung) für unterschiedliche literarische Genres wie die Anti-Idylle der Öko- und Katastrophenliteratur, Mythos und Mythosparodie, Phantastik und Contemporary Fantasy, Kriminal- und Reiseliteratur. Aus der Lektüre konkreter lyrischer, narrativer und dramatischer Texte entsteht ein für die zeitgenössische Literatur charakteristisches Tableau vielfältiger, mitunter auch widersprüchlicher literarischer Konzepte der Donau.
0. Vorbemerkungen. Come in
»Die Donau gibt es nicht [...].« (Esterházy 1992, S. 29) Was das erzählende Ich in Peter Esterházys Donau abwärts angesichts mehrerer Ursprünge, hydrologischer wie symbolischer Quellen und künstlicher Quelltöpfe konstatiert, gilt umso mehr für die literarische Donau – und das nicht nur aufgrund des unterschiedlichen epistemischen Status von empirischem Raum (Georaum) und fiktionalem Raum (Textraum):2 Die Donau – oder auch die Donau gibt es tatsächlich nicht. Ob als Gegenstand der Beschreibung, als Ort der Handlung oder als Träger politischer, sozialer und kultureller Bedeutung – die ästhetischen Modellierungen der Donau sind vielfältig. Einen Eindruck ihrer literarischen Präsenz von der römischen Antike bis zur Gegenwart vermitteln neben Einzeltexten Donau-Anthologien (z. B. Fridrich 2012, Heger 2008), Sammelbände (z. B. Hoiß 2008, Schaber 1993), die Edition Die Donau hinunter sowie Literatur-Ausstellungen wie jene des Stifterinstituts Linz 1994 und zuletzt der Wienbibliothek 2016/17.
Die folgenden Überlegungen fokussieren auf literarische Donau-Konstruktionen in überwiegend deutschsprachigen Texten3 unterschiedlicher Genres. Dabei sollen nicht nur Stereotypen der Donau und Konstanten ihrer Darstellung benannt werden; vielmehr gilt es, die Donau und ihre Funktionen insbesondere für die Literatur der Gegenwart neu zu perspektivieren und, wie es der Titel des Beitrags in Aussicht stellt, gegebenenfalls auch gegen die Strömung zu lesen.
1. Idylle und Anti-Idylle
Das Bild der blauen Donau, wie es die Walzerpartie op. 314 von Johann Strauss Sohn (1867) zunächst über ihren Titel und dann verstärkt in der zweiten, nationalromantischen Textfassung Franz von Gernerths (2012, S. 245 ff.) – dazwischen liegt der nach wie vor gerne missinterpretiert, nur als Zeitsatire zu verstehende Text von Joseph Weyl – distribuiert, ist zweifellos die populärste Vorstellung der Donau. Auch 150 Jahre danach ist die literarische Donau in guter Tradition von Strauss/ Gernerth »blau« und zitiert oder reflektiert eine nicht zuletzt über die symbolische Qualität der Farbe und eine Ästhetisierung des Stromes eingerichtete, natur- und sozialidyllisch begründete Behaglichkeit, indem sie diese ironisiert oder konterkariert. Dass die (literarische) Donau darüber hinaus in sämtlichen Schattierungen von grün und braun, gold-, platin-, bleifarben und fast durchsichtig, aber auch schwarz, grau und rot erscheint, ist weniger den Erkenntnissen empirischer Untersuchungen zuzuschreiben4 als einem (neuen) Realismus, der dem empfindsamsentimentalen Narrativ von der Donau einerseits technik- und ökokritische Texte,5 andererseits Katastrophentexte6 entgegensetzt.
1.1 »Gezähmt, eingebunkert, nichts als ein Grund zur Traurigkeit« (Reichart 2005, S. 28)
Auch ungeachtet des legendären, zum Epitheton ornans gewordenen »blau« existiert die von Gernerth beschriebene Donau nicht bzw. nicht mehr: In zwei großen Bauprojekten (ab 1870 und ab 1972) wurde die alte (d. h. »natürliche«) Donau, die der Walzer besingt, reguliert. Von den kulturellen Transformationsprozessen ist insbesondere die Kanalisierung des Altarms (der Donaukanal) zum Gegenstand von Donau-Texten (vgl. insbesondere Messner/Schörkhuber 2012) geworden. Als moderne bzw. postmoderne Phänotypen einer umweltkritischen Literatur fokussieren sie in einem engeren Sinn auf die ökologischen Folgen, aber auch auf die kulturellen und sozialen Implikationen einer Regulierung und Kanalisierung der Donau. In einem weiteren Sinn versuchen sie über die Konstellierung von Fluss und Stadt die ontologischen und ethischen Dimensionen eines krisenhaften Verhältnisses von Natur und Kultur auszuloten. Als Momentaufnahme des immer Gleichen zeigt Georg Bydlinskis kurzes Gedicht Sommer in der Stadt, das zweite aus dem Zyklus Im Fluss. Fünf Gedichte (vgl. Bydlinski 2004, S. 14), eine durch den verdichteten Kulturraum der Stadt verdrängte und beschädigte Natur, die fast ausschließlich über Verfahren der Uneigentlichkeit bewusst gemacht wird/werden kann: in der metaphorischen Verwendung der Sprache, in der Substitution des Gegenstandes durch technisch generierte und vermittelte (Spiegel, Kamera) Abbilder, in einer zwar vorhandenen, aber nur bei Ausblendung der ersten hörbaren, zweiten auditiven Schicht unter der Regie des seinerseits geregelten Straßenverkehrs.
Eine ambivalente Darstellung der kanalisierten Donau findet sich Srđan Kneževićs Erzählung Kanal (vgl. Knežević 2012, S. 53–56): Bei einem Stadtspaziergang zunächst vom »virtuelle[n] Wasser« durch die Straßen getragen und im Flanieren »von der Flut mitgenommen«, »rutschen« (wenn auch nur bildlich) der namenlose Ich-Erzähler und sein geistig behinderter Bruder Akif ab »in den Kanal hinein, in dem trübere Abwässer fließen« (ebd., S. 55). Der räumliche Gegensatz von oben und unten wird auch zu einem gesellschaftlich und kulturell codierten – allerdings sind die Grenzen durchlässig, bleibt das Überschreiten, wie sich zeigen wird, reversibel: Am Ende werden der Erzähler und Akif ausgeworfen, zurück in den öffentlichen Raum der Stadt. Die »Kanalwasserfarbe« (ebd.), die als Trigger fungiert und durch eine unorthodoxe Farbenlehre als Unfarbe klassifiziert wird, kontrastiert mit den leuchtenden Graffitis am Kanalrand, deren Präsenz und deren kommunikativer Qualität. Stärker als ihre Extravertiertheit beeindruckt angesichts der aktuellen Erfahrung des topografischen Ortes »Donaukanal« und einer diffusen Bedrohung durch regulative Praktiken des Ordnens und des Normierens, die immer auch zu einem Normalisieren werden (vgl. die Metapher des »Durch-den-Kanal-gehen- Müssen[s]«, Knežević 2012, S. 56), eine Aufschrift, die auf eine andere Lesart verweist: »Wir sind Parallelkanal« (ebd.), eine Analogbildung zu ganz unterschiedlich kontextualisierten Slogans der realen Welt, steht in Kneževižs Erzählung für ein kulturelles und soziologisches Konzept, das sich über Demokratie und Diversität konstituiert. Als Parallelwelt im Sinne einer kulturwissenschaftlich verstandenen possible-worlds-Theorie7 und im Bild des Flusses/der Donaulandschaft um Wien bleibend, steht der Kanal für eine von vielen Optionen abseits des Mainstreams.
1.2 Ein »Inferno aus glucksenden und sprudelnden Wassern« (Riess 2010, S. 254)
Werden Flüsse in der Literatur als Naturphänomene bzw. -gewalten inszeniert, bleiben Darstellungen von Niederwasser die Ausnahme. Der 26. von Zsuzsanna Gahses Donauwürfeln (eine Sammlung von 27 mal 10 zehnzeiligen Gedichten) beschreibt – ganz im Habitus der Umweltliteratur und in der Dramaturgie des Katastrophenberichts –, wie die Donau aufgrund einer ungeklärten hydrologischen Dürre und mit dramatischen Auswirkungen auf das Leben von Mensch (Trinkwassermangel), Tier (Fische werden mit bloßen Händen aus dem Schlamm gegraben, Krähen stürzen ins Flussbett) und das Ökosystem Fluss (als 20 cm tiefes Rinnsal quält sich die Donau durch ein verschlammtes Becken) versiegt, um in einer riesigen Flutwelle, als »hohe Wand [...] herbeistürzende[r] Wassermengen« (Gahse 2010, S. 134) wiederzukehren. Ökologie und Ökonomie sind auch Thema in Erwin Riess’ Roman Herr Groll und der rote Strom. Das »fünfzig-, wenn nicht gar [...] hundertjährige[]« (Riess 2010, S. 253; eigentlich: -jährliche) Donau-Hochwasser ist in der Darstellung des 48-jährigen rollstuhlfahrenden Altkommunisten, Klassenkämpfers und Sozialkritikers aus Floridsdorf, Lebensberaters, Flussschiffexperten, Ermittlers und Ich-Erzählers Groll ursächlich mit wirtschaftlichen Interessen von Kraftwerksbetreibern und Reedern sowie mit politischem Kalkül korreliert. Schauplatz, zugleich Tat- und Fundort – die junge Prostituierte Jana wird bei einem sogenannten »Herrenabend« (Riess 2010, S. 136) von Primar Mondl, Nobelwinzer Walter Göttlicher und Odilo Graetz von Hardengraetz, Sektionschef im Finanzministerium, missbraucht,...