Die Bedeutung niederer Spannungszustände für die psychische Strukturbildung
Die Aussagen der Säuglingsforscher über differenzierte Wahrnehmungs-, Gefühls- und Interaktionsfähigkeiten basieren in der Regel auf der Beobachtung relativ spannungsarmer Alltagssituationen oder auf Experimenten im Labor, bei denen der Säugling ruhig und zufrieden ist. Wir wissen heute, daß er rein quantitativ die meiste Zeit des Tages in solchen Zuständen verbringt und daß die Zeiten starker negativer Affektspannungen, etwa heftigen Schreiens, bei normalen Säuglingen in den ersten drei Lebensmonaten nicht mehr als 7–29 Minuten der insgesamt 24 Stunden eines Tages umfassen (also etwa 0,5 bis 2,0 %) – mit abnehmender Tendenz bei zunehmendem Lebensalter (s. Wolff 1987, S. 80ff.; Räihä et al. 1995, S. 211; Papousek/Papousek 1996, S. 21; Drummond et al. 1999, S. 456).[3] Die psychische Bedeutsamkeit solcher Momente kann jedoch größer sein als ihre rein zeitliche Dauer. Auch ein Orgasmus dauert nur kurz und ist dennoch psychisch signifikant. Die Psychoanalyse ging in einem großen Teil ihrer Theorietradition davon aus, daß intensive Erlebnisse von besonderer Bedeutung für die psychische Strukturbildung sind. Das Bild vom hungrigen Säugling, der gierig an der Brust trinkt und danach mit seligem Lächeln glücklich in den Schlaf sinkt, ist der Prototyp dieser Denkweise. Die Säuglingsforscher meinen jedoch, daß die alltägliche, oft undramatische und relativ spannungsfreie Interaktion von ebenso großer Bedeutung ist, ja vielleicht sogar von größerer als die kurzen Augenblicke hoher Spannung. Dies wird »low-tension-learning« genannt, und ein guter Teil der normalen und auch der pathologischen Interaktion zwischen Eltern und Kind, aber auch ein guter Teil der explorativen Aktivität des Kindes findet in solchen Zuständen niederer Spannung statt.
Köhler (1985, S. 123f.) hat in Anlehnung an Sander dargestellt, daß es schon in den ersten Lebenswochen im Interaktionszyklus zwischen Mutter und Kind ein besonders wichtiges Segment gibt, den Spielraum. »Das Kind ist gebadet, gewickelt und gestillt. Mutter und Kind haben vielleicht etwas miteinander gespielt. Vielleicht setzt die Mutter es in ein Babystühlchen, so daß es sie in seiner Nähe fühlt, aber sie selbst tut derweilen etwas anderes, sie beschäftigt sich nicht mit ihm. Das Kind ist in einem Gleichgewichtszustand. Weder ist es von inneren Bedürfnissen bedrängt, noch nimmt die Mutter das Kind gefangen. Der Spielraum ist ein ›privater Raum in der Zeit‹ (Sander), in der das Kind eine Wahlmöglichkeit hat und nicht von innen oder außen determiniert ist. Es kann seinen Interessen und seiner Aufmerksamkeit nachgehen. Es kann eigene Handlungen in Gang setzen, Initiativen entwickeln und deren Wirkung beobachten. Es kann die Erfahrung von Kontingenz, von Wechselseitigkeit machen. Wir stehen an der Schwelle des Selbst als Agenten (…) Wir Analytiker sind gewohnt, die Triebbefriedigung durch das Objekt als das Wesentliche für die Entwicklung psychischer Strukturen anzusehen. Hier hören wir, daß die Triebbefriedigung die Voraussetzung dafür ist, daß ein Spielraum entsteht, in dem sich das Selbst entwickelt.«
In solchen Spielräumen, aber auch in anderen interaktiven Situationen niederer Spannung wird über das Selbst und die Welt der Objekte viel gelernt.[4] Möglicherweise werden diese Prozesse, weil sie undramatisch sind, später nicht mehr mit der gleichen Deutlichkeit erinnert wie die hohen Spannungszustände. Ihre Auswirkung und Bedeutung für die Entstehung von psychischen Strukturen, kognitiven Stilen, Charaktereigentümlichkeiten und Charakterpathologien ist deshalb nicht genügend beachtet worden. Die Säuglingsforscher plädieren für eine Würdigung der Bedeutung von Interaktion und Aktivität in niederen Spannungszuständen und für die Ausarbeitung ihres Beitrags zur normalen und pathologischen Strukturbildung. Stern (1985, S. 271) meint, »daß vorwiegend die gewöhnlichen Ereignisse des Lebens die repräsentationale Welt konstituieren, nicht die außergewöhnlichen. Außergewöhnliche Momente sind vermutlich nicht mehr als vorzügliche, aber leicht atypische Beispiele des Gewöhnlichen« (ähnlich Lichtenberg 1983, S. 114).
Vor allem in der psychosexuellen Entwicklungslehre stehen die hohen spektakulären Spannungszustände im Mittelpunkt. Orale Spannungen etwa und ihre Befriedigung schaffen erste libidinöse Inseln im psychischen Apparat. Anale Kämpfe führen zu Charaktereigentümlichkeiten wie Zwang, Kontrolle und Sparsamkeit. Das ödipale Drama ist wesentlich an der Überichbildung beteiligt. Spannung, Kampf und Drama sind Begriffe, die die Relevanz hoher Spannungszustände bezeugen. Diese Sichtweise hat nach wie vor ihre Berechtigung, aber sie sollte ergänzt werden durch Untersuchungen zur psychischen Relevanz niederer Spannungszustände (s.a. Demos 1983, S. 109f.; Beebe/Lachmann 1994).[5]
Eine mögliche Konsequenz dieser Betrachtungsweise ist, daß das Vorherrschen von Triebbedürfnissen sowohl beim Kind als auch in der analytischen Situation nicht unbedingt eine Bestätigung der Triebtheorie ist, sondern das pathologische Resultat einer Entwicklung sein kann, in welcher der Spielraum für die freie Entfaltung des Selbst zu klein war. Die Labilität des Selbstgefühls und die Heftigkeit der Triebe und Affekte, die so charakteristisch für das klinische Bild von narzißtischen und Borderline-Patienten sind, sind die Folge eines auf mangelhaft regulierenden Objektbeziehungen beruhenden pathologischen Ich-Selbst-Systems und einer daraus resultierenden Unfähigkeit, Triebe und Affekte als dynamisch zu empfinden und dennoch sicher zu integrieren und zu genießen. Triebe und Affekte werden als bedrohlich empfunden, obwohl sie es »von Natur« aus nicht sein müssen. Steht das im Vordergrund, so ist es eher ein Indiz für eine pathologische als für eine normale Entwicklung (Kohut 1977; Köhler 1985, S. 125). Wo die traditionelle Psychoanalyse also Ontologie sieht, sehen diese Autoren eher Pathologie.
Die psychoanalytische Tradition ist reich und hat deshalb auch für diese Sicht der Dinge einige Vorläufer anzubieten. Balints Theorie der Grundstörung und des Neubeginns (1968) enthält eine schöne Ausarbeitung der Bedeutsamkeit von harmonischen, relativ spannungsfreien Elementen in der analytischen Situation und ihren heilsamen Wirkungen. In einem mehr entwicklungspsychologischen Kontext hat Winnicott (1958) zwischen einer ruhigen Ich-Erregung, die ebenfalls für die gesunde Entwicklung wichtig ist, und einer Es-Erregung unterschieden. Ich-Erregung findet sich beim Kind im konzentrierten Spiel und beim Erwachsenen, der hingerissen einem Konzert lauscht oder ein Buch liest. Auch in Kohuts Theorie der strukturbildenden Verinnerlichung (1971) wird betont, daß es alltägliche und geringfügige Empathiemängel der Eltern sind, die einen Anreiz zur Verinnerlichung elterlicher Funktionen darstellen. Grobe Mängel führen zu pathologischen Strukturen und/oder Entwicklungsstillständen. Man könnte also drei Modelle psychischer Strukturbildung unterscheiden. Eines, in dem alltägliche, befriedigende Interaktionen internalisiert werden, ohne daß Frustrationen eine Rolle spielen; ein zweites, in dem Mikrofrustrationen den Hauptanreiz für Verinnerlichungen abgeben; und ein drittes, das auf die Bedeutung stärkerer Frustrationen bzw. hoher Spannungen für die Strukturbildung abhebt. Alle drei haben ihre Berechtigung. Das erste ist in der Psychoanalyse nicht ausreichend gewürdigt worden. Pointiert formuliert besagt es, daß psychische Strukturen nicht in Anlehnung an die »großen Körperbedürfnisse« entstehen, sondern in Anlehnung an die kleinen alltäglichen Ereignisse.
Die Veränderung im Begriff des Traumas, die im Verlauf der Jahrzehnte in der Psychoanalyse stattgefunden hat, bezeugt ebenfalls die Relevanz niederer Spannungszustände. Das kindliche Trauma wurde zunächst als ein besonders schwerwiegendes Ereignis oder Erlebnis betrachtet (Stichwort: Verführung). Auch andere einschneidende Lebensereignisse wie Geburt und Tod naher Familienangehöriger, Erkrankungen, Entwöhnung und Reinlichkeitserziehung galten als traumaverdächtig. Sie sind und bleiben das zu Recht, aber es wächst die Erkenntnis, daß nicht nur solche dramatischen Ereignisse und ihre Bearbeitung in der Phantasie einen pathogenen Effekt haben können, sondern auch chronische, subtile, auf den ersten Blick kaum wahrnehmbare Verzerrungen der Interaktion. Khans Konzept des kumulativen Traumas (1963) und das kumulative Prinzip von Spitz (1965 a, S. 157) waren wichtige Schritte in diese Richtung, aber noch nicht das letzte Wort. Gaensbauer (1982, S. 59) meint, »daß sogenannte traumatische Ereignisse als solche eine sehr viel geringere Rolle bei der Bildung pathologischer seelischer Strukturen spielen als die Störungsmuster, die aus täglich wiederholten Erfahrungen entstehen, welche ihrer Natur nach weniger dramatisch, aber dafür hartnäckiger sind«. Spiegel (1987) vertritt ebenfalls die Auffassung, daß kontinuierliche Erfahrungsmuster eher als spezifische Erfahrungen die Vorläufer und Ursachen von Pathologie sind. Deshalb...