1. KAPITEL
Eine neue, wagemutige Denkweise
Depressionen kennen wir alle. Fast jede Familie auf diesem Planeten kommt damit auf die eine oder andere Weise in Berührung. Doch erstaunlicherweise wissen wir sehr wenig darüber.
Zu dieser Erkenntnis gelangte ich eines Tages während meiner ersten Ausbildungsjahre zum Psychiater, als ich ein Aufnahmegespräch mit einem Patienten in einer ambulanten Klinik führte, die dem Maudsley Hospital in London angeschlossen war. Auf meine strikt nach Lehrbuch formulierten Fragen zur Erfassung seiner Krankengeschichte vertraute er mir an, dass er sich in einem emotionalen Tief befand, dass ihm jede Lebensfreude abhandengekommen war, dass er nachts aufwachte und nicht wieder einschlafen konnte, dass er unter Appetitlosigkeit litt und abgenommen hatte, dass er Schuldgefühle wegen seiner Vergangenheit verspürte und die Zukunft pessimistisch betrachtete. »Ich glaube, dass Sie eine depressive Störung haben«, eröffnete ich ihm. »Das weiß ich bereits«, erwiderte der Patient geduldig. »Deshalb habe ich meinen Hausarzt ja gebeten, mich an diese Klinik zu überweisen. Was ich wissen möchte, ist, warum ich depressiv bin und was Sie dagegen tun können.«
Ich versuchte, ihm die Wirkungsweise von Antidepressiva zu erklären, beispielsweise von Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern, kurz SSRI genannt. Ich stellte fest, dass ich das Lehrbuchwissen über Serotonin und die Theorie nachplapperte, dass eine Depression durch einen Mangel an diesem Neurotransmitter und sogenannten Wohlfühlhormon verursacht wurde. Psychiater mit mehr Erfahrung in solchen Situationen pflegten mit unerschütterlicher Selbstsicherheit den Begriff Ungleichgewicht zu erwähnen. »Ihre Symptome werden höchstwahrscheinlich von einem Serotonin-Ungleichgewicht im Gehirn ausgelöst; die SSRI stellen das homöostatische Gleichgewicht wieder her und balancieren den Serotonin-Haushalt aus«, erklärte ich dem Patienten und wedelte mit den Händen, um zu demonstrieren, wie man etwas ins Lot bringen konnte, was aus dem Lot geraten war, und die Stimmungsschwankungen auszugleichen vermochte. »Und woher wissen Sie das?«, hakte der Mann nach. Ich begann, sämtliche Informationen abzuspulen, die ich den Lehrbüchern über die Serotonin-Theorie der Depression entnommen hatte, bevor er mich unterbrach: »Nein, ich meine, woher wissen Sie, was mir fehlt? Woher wissen Sie, dass der Serotoninspiegel in meinem Gehirn aus dem Gleichgewicht geraten ist?« Um der Wahrheit die Ehre zu geben: von Wissen konnte keine Rede sein.
Das war vor 25 Jahren, doch noch heute fehlen gesicherte oder übereinstimmende Antworten auf diese und viele andere Fragen, die sich auf die Entstehung und Behandlung von Depressionen beziehen. Spielt sich die Depression ausschließlich im Kopf ab? Ist sie »einzig und allein« von negativen Denkmustern abhängig? Doch warum wird sie dann so oft mit Medikamenten behandelt, die sich auf die Nervenzellen auswirken? Ist sie wirklich nur im Gehirn verortet? Freunde und Familienmitglieder, die unter Depressionen leiden, mögen wir nicht darauf ansprechen, denn wir wissen nicht, was wir sagen könnten. Und wenn wir selber depressiv sind, schämen wir uns vielleicht, es offen einzugestehen.
Die Mauer des Schweigens, die Depressionen und andere psychische Störungen umgibt, ist heute nicht mehr derart undurchdringlich wie früher. Wir verstehen uns inzwischen besser darauf, das Thema anzuschneiden, auch wenn die Meinungen der Experten nicht immer übereinstimmen. Uns ist bewusst, dass Depressionen weit verbreitet sind, dass sie die Betroffenen in vielfacher Hinsicht erheblich beeinträchtigen und sowohl die Lebensqualität mindern – ein Merkmal schwerer Depressionen ist die Unfähigkeit, Freude zu empfinden – als auch die Lebenszeit verkürzen: Depressive Menschen haben einer geringere Lebenserwartung. Es überrascht daher nicht, dass die wirtschaftlichen Kosten von Depressionen und ähnlichen Erkrankungen gewaltig sind1,2: Wäre Großbritannien ab dem Beginn des nächsten fiskalischen Jahres in der Lage, die Depression im Lande vollständig auszumerzen, würde sich das Bruttoinlandsprodukt ungefähr um 4 Prozent erhöhen oder die geschätzte jährliche Wachstumsrate von 2 Prozent auf 6 Prozent verdreifachen. Könnte sich gleich welches Land auf wundersame Weise von der Volkskrankheit Depression befreien, würde das jeweilige Volksvermögen massiv steigen.
Doch trotz der wachsenden Aufmerksamkeit, die den zunehmenden depressiven Episoden und psychischen Störungen der Menschen im eigenen Umfeld zuteilwerden, und der gewaltigen Ausmaße der Herausforderung, die Depressionen weltweit für das öffentliche Gesundheitswesen darstellen, sind die Therapiemöglichkeiten noch immer begrenzt. Zwar gibt es einige weithin zugängliche und mäßig wirksame Behandlungsmethoden, doch in den letzten dreißig Jahren wurden keine bahnbrechenden Fortschritte erzielt. Die Mittel, die uns in den 1990er Jahren zur Bekämpfung der Depression zur Verfügung standen – die umsatzstarken Blockbuster-Medikamente wie Prozac (Fluoxetin) und die Psychotherapie – sind auch heute noch ungefähr alles, was wir therapeutisch einsetzen können. Und sie sind offensichtlich nicht gut genug: andernfalls wäre die Depression nicht auf dem besten Weg, sich bis zum Jahre 2030 weltweit zur größten einzelnen Krankheitsursache zu entwickeln.
Was fehlt, ist eine neue, wagemutige Denkweise.
1989, vor der Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie, als ich den klinischen Teil meines Medizinstudiums absolvierte, wurde eines Tages eine Frau Ende fünfzig mit einer rheumatoiden Arthritis, einer entzündlichen Erkrankung der Gelenke, bei mir vorstellig. Ich werde sie Mrs P. nennen. Sie litt seit vielen Jahren unter »rheumatischen« Beschwerden. Die Gelenke der Hände schmerzten, waren geschwollen und durch Narben deformiert. Die kollagenen Strukturen und die Knochen in den Knien waren zerstört, sodass die Gelenke nicht mehr einwandfrei funktionierten und das Gehen erschwerten. Gemeinsam arbeiteten wir uns durch die lange Liste der physischen Anzeichen und Symptome, die auf der Standard-Checkliste für die Diagnose der rheumatoiden Arthritis aufgeführt waren. Danach stellte ich ihr einige Fragen, die sich nicht auf die standardisierten Klassifikationsmerkmale bezogen. Ich informierte mich über ihre Geistesverfassung und ihre Gemütslage, und im Verlauf der nächsten etwa zehn Minuten berichtete sie leise, aber ohne Umschweife, dass sie unter Antriebslosigkeit und Schlafstörungen litt, keinerlei Freude mehr zu empfinden vermochte und ständig negative Gedanken und Schuldgefühle hatte. Sie war eindeutig depressiv.
Ich war zufrieden mit mir. Ich dachte, ich hätte eine kleine medizinische Entdeckung gemacht, indem ich die erhobenen Befunde verdoppelte. Sie war mit einer rheumatoiden Arthritis zu mir gekommen; ich hatte eine depressive Störung hinzugefügt. Ich beeilte mich, den Oberarzt der Station von dieser wichtigen Neuigkeit in Kenntnis zu setzen: »Mrs P. leidet nicht nur unter Arthritis, sondern auch unter Depressionen.« Er zeigte sich unbeeindruckt von meinem diagnostischen Scharfsinn. »Depressionen? Kein Wunder, würde Ihnen in dieser Situation genauso ergehen, oder?«
Wir konnten beide erkennen, dass Mrs P. sowohl unter Depressionen als auch unter einer entzündlichen Erkrankung litt. Doch die konventionelle medizinische Lehrmeinung lautete in jener Zeit, dass sie nur deshalb Depressionen hatte, weil sie wusste, dass eine chronische entzündliche Erkrankung vorlag. Depressionen spielten sich ausschließlich im Kopf ab, wie man damals glaubte. Keiner von uns beiden kam auf die Idee, dass es primäre körperliche Ursachen für ihren Zustand geben könnte. Dass Mrs P. depressiv sein könnte, weil Entzündungsprozesse in ihrem Körper stattfanden, und nicht etwa, weil der Gedanke an ihre chronische Erkrankung sie depressiv machte. Als Mrs P. die Klinik verließ, war die Wahrscheinlichkeit, dass sich die depressiven Episoden oder Erschöpfungszustände wiederholten, um keinen Deut geringer als bei ihrer Ankunft. Wir hatten nicht gewagt, anders zu denken und nichts getan, um einen entscheidenden Unterschied zu bewirken.
Ungefähr dreißig Jahre später waren wir erheblich besser darauf eingestellt, die Verbindungen zwischen Depressionen und Entzündung und zwischen Körper und Geist aus einer neuen wissenschaftlichen Perspektive zu betrachten, wie ich unlängst nach einem Zahnarztbesuch selber feststellen konnte.
Wurzelkanal-Blues
Vor ein paar Jahren war eine alte Füllung in einem meiner Backenzähne porös geworden, sodass sich das darunterliegende Gewebe entzündete und meine Zahnärztin das Loch bis zu den Zahnwurzelspitzen aufbohren musste. Eine Wurzelkanalbehandlung ist ein operativer Eingriff und gehört nicht gerade zu meinen bevorzugten Freizeitaktivitäten, aber ich wusste, dass kein Weg daran vorbeiführte. Ich war dennoch einigermaßen wohlgelaunt, als ich folgsam auf dem Behandlungsstuhl Platz nahm und den Mund aufsperrte. Doch sobald die Prozedur vorüber war, wollte ich nur noch nach Hause, mich in meinem Bett verkriechen und mit niemandem reden. In der Abgeschiedenheit meiner häuslichen vier Wände versank ich in eine Grabesstimmung, bis mich der Schlaf übermannte.
Am nächsten Morgen stand ich auf, ging zur Arbeit und vergaß das Thema Sterblichkeit wieder. Ich hatte das Aufbohren des Zahns ertragen, eine Zahnfleischverletzung davongetragen und kurzfristig ein paar denkwürdige psychische und Verhaltenssymptome entwickelt: Antriebslosigkeit, sozialer Rückzug, morbide Gedanken. Man könnte sagen, dass es sich um den Anflug einer Depression...