Der erste Russe
Fritz Pleitgen
Den ersten Russen, der in meinem Leben eine Rolle spielte, habe ich durch die Erzählung meiner Mutter kennengelernt. Sie sprach mit ihm, aber sie erhielt keine Antwort. Sie konnte ihn auch nicht sehen. Die Umstände erlaubten es nicht. Er saß in einem Panzer. Und sie lief vor ihm her.
Die Geschichte spielte in Niederschlesien, wohin meine Mutter mit den beiden jüngsten von fünf Kindern evakuiert worden war. Kurz darauf wurde unsere Wohnung in Essen durch englische Luftminen völlig zerstört. Der Krieg zerriss unsere Familie. Mein Vater musste in Essen bleiben. Er arbeitete bei Krupp. Ein Rüstungsbetrieb. Unabkömmlich. Auch meine Schwester Marlies (21) galt ab unabkömmlich. Sie arbeitete bei Rheinstahl in Essen. Erst als sie von Telefunken übernommen und ihr Werksteil ins niederschlesische Kloster Leubus verlegt wurde, kam sie im Oktober 1944 zu uns. Mein ältester Bruder Günter war an der Ostfront schwer verwundet worden und lag seitdem in einem Lazarett in Brandenburg. Mein Bruder Hans-Georg (16) durfte Essen auch nicht verlassen. Er hatte als Flakhelfer die Stadt gegen Luftangriffe zu verteidigen.
In einer Siedlung bei Parchwitz hatte meine Mutter eine Notunterkunft gefunden. Zwölf Häuser, links und rechts einer Landstraße. Ärmlich, aber eine liebliche Moränenlandschaft. Und keine Bombenangriffe!
Im Januar 1945 war es vorbei mit dem Frieden. Endlose Trecks von Flüchtlingen zogen durch unsere Siedlung. Das Brüllen der Front rückte näher. Die Nazioberen brachten sich auf Lkw mit reichlich Hab und Gut in Sicherheit. Die Bevölkerung ließen sie sitzen. Auch die Natur zeigte sich wenig menschenfreundlich. Das Quecksilber fiel unter minus 20 Grad.
An einem frühen Morgen wurden wir mit dem Ruf »Die Russen kommen« aus den Betten gejagt. Wir waren vorbereitet. Voll angekleidet hatten wir die Nacht verbracht. Meine Schwester Marlies und mein Bruder Horst (11) stürzten aus dem Haus, spannten sich vor einen Schlitten und einen Handwagen, die sie mit zwei Koffern beladen hatten, und marschierten los; zunächst 25 Kilometer nach Liegnitz, wo wir uns bei Bekannten treffen wollten, falls wir auf der Flucht auseinandergerissen wurden. Ich war damals sechs Jahre alt und hatte Frost in den Füßen. Da ich die Strecke zu Fuß nicht schaffte, transportierte mich unser Hausbesitzer Zipter in einem Fahrradanhänger zum drei Kilometer entfernten Bahnhof Leschwitz, wo angeblich ein Zug wartete, um uns vor den Russen zu retten.
Meine Mutter war ein herzensguter Mensch. Wir liebten und verehrten sie sehr, was sie allerdings vor Spott nicht schützte, wenn die Rede auf ihre notorische Unpünktlichkeit kam, der sie selbst im Krieg treu blieb. Als in Essen die Bomben fielen, hatte sie immer noch etwas in der Wohnung zu erledigen, bevor sie Schutz suchte. Meist war sie die Letzte, die es in den Bunker schaffte. Und als die Russen kamen, verhielt sie sich nicht anders. Sie versuchte vergeblich, noch etwas im längst gepackten Koffer zu verstauen. Unnützes Zeug vermutlich. Später wurde in unserer Familie kolportiert, es seien Kleiderbügel gewesen. Beweise gab es dafür nicht. Der Koffer wurde auf der Flucht geklaut.
Als meine Mutter endlich das Haus verließ, kroch der erste russische Panzer in die Siedlung. Trotzdem trat sie auf die Straße. Und ging los. Einfach vor dem Schützenpanzer her. Sie hatte einen guten Vorsprung, bot aber auf der schnurgeraden Straße ein leichtes Ziel. »Die werden doch keine wehrlose Frau abknallen«, redete sie sich ein. Sicher war sie sich ihrer Sache nicht, wie sie mir später anvertraute.
Weil sie sich fürchtete, begann sie ein Gespräch mit dem Panzerschützen. »Deine Mutter hat dich sicher zu einem anständigen Menschen erzogen. Sie wäre traurig, wenn du einer Mutter von fünf Kindern das Leben nimmst.« Sie rechnete nicht mit einer Antwort, registrierte aber nach langen Minuten, dass das Rasseln und Quietschen hinter ihr aufhörte. Der Panzer hatte offenbar haltgemacht.
Meine Mutter wagte nicht, sich umzudrehen. Ihr ohnehin schwaches Herz pochte wie wild. »Nehmen sie dich jetzt ins Visier?«, fragte sie sich. Die deutschen Volkssturmleute, die am Ende der Siedlung mit Panzerfäusten bewaffnet in den mit Schnee gefüllten Gräben lagen, riefen ihr zu, endlich in Deckung zu gehen. Aber sie ging weiter. Sie wollte zu ihren Kindern. Angetrieben von der Sorge, zu spät zu kommen, hetzte sie mit ihren beiden Koffern die drei Kilometer zum Bahnhof Leschwitz. Sie hatte Glück. Der Zug stand noch da. Er hatte nicht abfahren können, weil auf der eingleisigen Strecke nach Liegnitz ein Truppentransporter abgewartet werden musste.
35 Jahre später – ich war inzwischen ARD-Korrespondent in der DDR – fuhr ich mit meiner Frau und unseren Kindern von Ostberlin nach Parchwitz im heutigen Polen. Die Kleinstadt heißt nun Prochowice und ist wie zu deutschen Zeiten Zentrale im Kreis Liegnitz, der sich jetzt Powiat Legnicki nennt. Auch sonst hatte sich wenig geändert.
Nur unsere Siedlung war verschwunden. Im Nachbarort Jurcz, den ich als Jürtsch in Erinnerung hatte, traf ich einen Polen, der mir in einem wilden Mix aus Deutsch, Englisch und Russisch erzählte, dass die deutschen Soldaten – vermutlich verstärkt durch den Truppentransporter, den unser Zug abwarten musste – der vorrückenden Roten Armee in unserer Siedlung erbitterten Widerstand geleistet hatten, wobei alle Häuser zerstört worden waren.
In einem ähnlichen Gemisch aus Deutsch, Englisch und Russisch erklärte ich meinem polnischen Gegenüber, dass Deutsche und Russen nicht immer Feinde gewesen seien, sondern häufig gemeinsame Sache machten, nicht zuletzt zulasten der Polen, aber auch gegen andere. Nicht weit von hier zum Beispiel.
Zwischen Katzbach und Wütender Neiße hatten Deutsche und Russen mit vereinten Streitkräften die französische Armee geschlagen. 1813 war das, im Befreiungskrieg gegen Napoleon – von dem die Polen hofften, er würde sie von den beiden Besatzern befreien. Unser Schriftsteller Theodor Fontane hatte mir auf die Sprünge geholfen. Vor unserer Parchwitzreise hatte ich seine Wanderungen durch die Mark Brandenburg gelesen, in denen er Terrain und Verlauf der mörderischen Schlacht akribisch beschreibt.
Keine Literatur, aber erstaunlich detailliert war der Bericht des Stabes der 13. sowjetischen Armee an den Stab der 1. Ukrainischen Front vom 9. März 1945. Wie bin ich darangekommen? Ganz einfach! Ich wollte wissen, vor wem wir im Januar 1945 in Panik geflüchtet waren, und rief Igor Butz in Moskau an. Der findige Rechercheur und umsichtige Organisator war über viele Jahre eine unverzichtbare Stütze unserer Korrespondenten in Moskau.
Igor Butz reagierte schnell. In der russischen Militär-Enzyklopädie fand er heraus, dass Vorauseinheiten der 6. Garde- und der 112. Schützendivision die Oder in der Nacht zum 26. Januar an zwei Stellen östlich von Jürtsch überquert hatten. Von dort war es nur noch ein Kilometer durch den Wald bis zu unserer Siedlung.
Östlich der Oder war die deutsche Front offensichtlich völlig zusammengebrochen. Die Ukrainische Front unter Marschall Iwan Konew brauchte für die Strecke von der Weichsel bis zur Oder nur gut zwei Wochen. Auf einer Karte, die mir Igor Butz geschickt hatte, war zu sehen, dass die Rote Armee wie eine gigantische Feuerwalze auf die Oder vorrückte. Dem Bericht der 13. Armee war zu entnehmen, dass sowjetische Vorauseinheiten nach einem Vorstoß über 31 Kilometer die Oderüberquerung sofort in Angriff nahmen, ohne Vorbereitung. Der Brückenkopf am Westufer sei schnell ausgeweitet worden.
Nur an einer Stelle – zwischen den Dörfern Jürtsch und Lampersdorf – sei es den deutschen Gegnern gelungen, die sowjetischen Einheiten vorübergehend zurückzudrängen.
Für meinen Bruder Horst war das eine interessante Nachricht! Am Vorabend unserer Flucht stoppten zwei Busse in unserer Siedlung. Sie transportierten deutsche Soldaten an die Front, wo sie eine Kompanie zwischen den Dörfern Jürtsch und Lampersdorf ablösen sollten.
Der Kommandeur fragte nach dem Weg. Mein elfjähriger Bruder wusste Bescheid. Der Offizier wollte ihn gleich mitnehmen. Unsere Mutter war dagegen. Mein Bruder, soeben Mitglied im Jungvolk geworden und entsprechend auf Heldentaten gedrillt, wollte unbedingt mitfahren. Der Offizier gab sein Ehrenwort, ihn wieder zurückzubringen. Es sei eilig, sie dürften sich nicht verfahren. Die Russen seien im Anmarsch. Erstaunt fragt er, warum die Zivilisten nicht schon längst geflüchtet seien. Dies sei Frontgebiet. Unsere Mutter erklärte ihm, dass es noch keine Räumungserlaubnis gegeben habe.
Mein Bruder saß schon im Bus, unsere Mutter blieb voller Angst um ihr Kind zurück. Da nicht bekannt war, ob die sowjetische Armee die Oder bereits überquert hatte, fuhren beide Busse ohne Licht. Wie sich mein Bruder erinnert, wurde während der Fahrt kein einziges Wort gesprochen. In sich gekehrt starrten die blutjungen Soldaten in die Dunkelheit des eisigen Winterabends. Wahrscheinlich waren sie mit den Gedanken bereits bei den Kämpfen, die ihnen gegen die feindliche Übermacht bevorstanden. In Jürtsch und Lampersdorf erfolgte die Ablösung ohne viele Worte. Mit den völlig erschöpften Soldaten der abgelösten Kompanie an Bord kehrten die beiden Busse zurück. Mein Bruder wurde in der Siedlung abgesetzt, wo er von unserer Mutter sehnlichst erwartet wurde.
Der Bericht der 13. sowjetischen Armee vermerkt, dass um Jürtsch und Lampersdorf acht Tage gekämpft wurde. Am 3. Februar war der deutsche Widerstand gebrochen. Von Gefangenen ist in dem Bericht keine...