»Geheimdienste müssen von ihren Mythen befreit werden.«
Ein Gespräch mit Ex-BND-Präsident Gerhard Schindler
Gerhard Schindler, Jahrgang 1952, war als leitender Beamter im Bundesgrenzschutz, Bundesamt für Verfassungsschutz und Bundesministerium des Inneren mit dem Fachgebiet öffentliche Sicherheit und Terrorismusbekämpfung betraut. Von 2011 bis 2016 war er Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND).
Autor: Welches ist der größte Mythos über den BND?
Gerhard Schindler: Dass er sich als Geheimdienst verselbstständigt hätte und ohne politische Führung oder rechtliche Beschränkungen agiert. Der BND und andere Nachrichtendienste schleppen diesen Mythos vom Staat im Staate leider noch immer mit sich herum. Das mag früher einmal so gewesen sein, heute ist das Unsinn. Ich würde heute sogar so weit gehen zu sagen, dass der BND eine der am strengsten kontrollierten Behörden in Deutschland ist.
Autor: Pullach oder die neue BND-Zentrale in Berlin. Ist es gut, einen Mythos um seine Geheimdienstzentrale zu haben?
Gerhard Schindler: Der BND gehört in die Hauptstadt Berlin, wo die politischen Entscheidungsträger sind. Dort kann man ihn im wahrsten Sinne des Wortes anfassen, da der Bürgersteig direkt an der Außenwand entlangführt. Mit dem Mythos der alten BND-Zentrale in Pullach konnte weder ich noch das Gros der Mitarbeiter etwas anfangen. Das bringt nichts für die konkrete Arbeit. Dort zählen nur Erfolge.
Autor: Mythos St. Georgs-Medaille, mit der BND-Mitarbeiter ausgezeichnet werden. Diese Auszeichnung aus der Gehlen-Zeit haben sie reaktiviert. Warum?
Gerhard Schindler: Um einen Korpsgeist, einen Teamgeist zu festigen. So etwas zu entwickeln ist sehr schwer. Deshalb habe ich zum Beispiel auch das alte Logo wieder eingeführt, um Tradition herzustellen. Bei all der Abschottung im Nachrichtendienst braucht man auch ein Wir-Gefühl.
Autor: Manche Bundeskanzler lasen lieber die Zeitung und wollten ihren BND-Chef gar nicht sehen. Wie gut ist die Berichterstattung des BND an die Regierung?
Gerhard Schindler: Das kann man am Feedback messen. Der BND bekommt im Monat rund 900 Berichtsanfragen aus allen Bereichen der Sicherheitsbehörden, Ministerien und des Bundeskanzleramtes. Das zeigt mir, dass unsere Berichte gefragt waren. Der BND ist ein echter Dienstleister für die Politik geworden.
Autor: Was halten Sie von der Gegenspionage, also dem Kampf der Geheimdienste gegeneinander? Ist das die Königsdisziplin des Metiers?
Gerhard Schindler: Da sehe ich keine zentrale Aufgabe. Das muss man entweder richtig machen mit enormem Aufwand oder es sein lassen. Die Herausforderungen in den Bereichen Terrorismus, Proliferation von Massenvernichtungswaffen, militärische Konflikte und sonstige Krisen sind so hoch, dass sie prioritär bearbeitet werden müssen. Aber da habe ich wahrscheinlich eine andere Meinung als viele im Kanzleramt oder im BND.
Autor: Wie schädlich sind gegnerische Spione oder Doppelagenten im eigenen Haus? In ihrer Amtszeit gab es da ja auch den Fall des BND-Mitarbeiters Markus R., der Informationen an die CIA verkaufte.
Gerhard Schindler: Ein Spion im Haus ist immer schlecht, aber es kommt auch darauf an, wo er platziert ist. Ganz sensibel ist es dort, wo menschliche Quellen geführt werden, das wäre ein GAU. Der Fall Markus R. war natürlich unschön, aber der Schaden war gering. Fast alles, was er der CIA verkauft hat, hätte ich einem befreundeten Dienst auch auf offiziellem Weg gegeben. Insofern hat sich der Aufwand für die CIA nicht gelohnt.
Autor: Was ist dran am Mythos von Berlin als Hauptstadt der Spione?
Gerhard Schindler: Schwer zu beurteilen, darüber habe ich – leider oder Gott sei Dank – keine Statistiken geführt. Aber natürlich ist Deutschland für gegnerische Spione hochinteressant, und in Berlin konzentrieren sich die Zielobjekte, darunter auch der BND. Das zieht Spione an. In Pullach waren die BND-Mitarbeiter aber auch nicht sicherer. Auch dort wurden die Mitarbeiter an Ein- und Ausgang von anderen Diensten fotografiert.
Autor: Mythos Mord, Entführung, Kommandoaktionen – sind Geheimdienste hier wirklich gut?
Gerhard Schindler: Das ist keine Aufgabe des BND. Seine Befugnisse sind im Gesetz geregelt, und das besagt, dass der BND ausschließlich aufklärt und keine Kommandoaktionen durchführen darf. Andere Dienste machen das natürlich, mit unterschiedlicher Qualität.
Autor: Mythos »Lizenz zum Töten« – wie oft greifen BND-Mitarbeiter wirklich zur Waffe?
Gerhard Schindler: Ganz selten. Mit dem Griff zur Waffe ist man enttarnt. Da war ich immer besonders stolz auf BND-Mitarbeiter, die in gefährliche Situationen geraten sind, nicht zur Waffe gegriffen haben – und trotzdem gut herauskamen. Die Mitarbeiter werden darauf trainiert, dass ein Waffeneinsatz wirklich nur das allerletzte Mittel sein darf. Damit sie überhaupt in solche Situationen geraten und Waffen führen, müssen sie schon in Krisengebieten operieren. Ansonsten ist der BND-Mitarbeiter ohnehin nicht bewaffnet.
Autor: Was macht einen guten Spion im Außeneinsatz aus?
Gerhard Schindler: Bei angeworbenen menschlichen Quellen ist entscheidend, dass sie gut platziert und gut zu steuern sind. Bei einem BND-Mitarbeiter im Ausland ist wichtig, dass es kluge Leute sind, die eben nicht wie James Bond »verbrannte Erde« hinterlassen. Sie müssen zurückhaltend und flexibel agieren, Situationen gut und schnell richtig einordnen, aber auch Mut haben, ein kalkulierbares – kein dummes! – Risiko einzugehen. Und natürlich, dass man ihnen das alles nicht zutraut. Man darf einem Agenten nicht ansehen, dass er ein Schlitzohr ist. Solche klugen und unscheinbaren Leute braucht man.
Autor: Welche Rolle spielen Nachrichtendienste in militärischen Konflikten?
Gerhard Schindler: Dienste wie der BND können positiv am Konfliktmanagement mitwirken. Zum Beispiel durch ihre Kontakte. Der BND hatte mit Gerhard Conrad als Vermittler zwischen Israel und der Hamas bzw. Hisbollah einen überaus erfolgreichen Konfliktmoderator. Dienste können in Konflikten also stabilisieren. Hierzu tragen auch realistische Lagebilder bei. Unrealistische Einschätzungen oder Maßnahmen können hingegen gefährlich werden.
Autor: Wie viel Geheimhaltung braucht ein moderner Nachrichtendienst?
Gerhard Schindler: Es gibt notwendige Geheimhaltung im Kerngeschäft, bei den Operationen, den Mitarbeitern oder der Methodik. Dort muss sie streng und kompromisslos eingehalten werden. Aber alles andere ist kaum geheimhaltungswürdig. Niemand braucht Geheimhaltung, nur um den Mythos eines Geheimdienstes am Leben zu halten. Das gilt auch für die Historie. Der BND musste Ballast abwerfen. Wenn ich z. B. Legendierungen von BND-Außenstellen auf Wikipedia nachlesen kann, dann kann man auch das Schild »Bundesnachrichtendienst« am Eingang anbringen. Ich habe z. B. auch die Systematik abgeschafft, dass jeder einzelne BND-Mitarbeiter einen Arbeits-Decknamen hat. Diese Praxis beruhte mehr auf Gewohnheit als auf Erforderlichkeit. Jetzt kann man sich auf das wirklich Schützenswerte konzentrieren.
Autor: Kann man in modernen Nachrichtendiensten überhaupt noch Geheimhaltung gewährleisten?
Gerhard Schindler: Das wird immer schwieriger. Durch moderne Technik werden immer mehr geheime Informationen und Dokumente produziert, mit einem riesigen Umlauf. Der BND hat allerdings eine ausgeprägte Kultur, auf Geheimnisse zu achten. Die Flut an Informationen ist das größte Problem.
Autor: Was ist das größte Problem bei der Kontrolle der Nachrichtendienste?
Gerhard Schindler: Dass sie geheim ist, das ist für alle schwierig, den Dienst, die Öffentlichkeit und auch die Kontrolleure. Es ist für viele schwer nachzuvollziehen, dass eine geheime Kontrolle genauso effizient sein kann wie eine offene. Geheimhaltung ist aber per se nicht undemokratisch oder gar schlecht.
Autor: Wie ist das Verhältnis zwischen Nachrichtendienst und Journalisten?
Gerhard Schindler: Die Öffentlichkeit hat zu Recht ein Informationsbedürfnis. In mancher Hinsicht sind sich Journalismus und Nachrichtendienst sehr ähnlich, es geht um die Ware Information, die aus verschiedenen, auch konspirativen Quellen beschafft und ausgewertet wird, bevor ein Bericht daraus entsteht. Ich habe versucht, mit Journalisten eine themenorientierte Öffentlichkeitsarbeit aufzubauen, z. B. durch regelmäßige Runden als Hintergrundgespräche. Diese waren vertrauensvoll und zielführend und haben allen, gerade der Öffentlichkeit, genutzt.
Autor: Mythos Spy Fiction. Können Sie Spionageromanen und -filmen etwas abgewinnen?
Gerhard Schindler: Filmen weniger, da ärgere ich mich zu sehr über die überzogenen Darstellungen. Der BND könnte hier noch viel von den amerikanischen Diensten lernen, die eigene Einheiten haben, die Filmproduzenten beraten. Ich selbst lese lieber Spionageromane.
John le Carré zum Beispiel finde ich super, weil er einzelne Typen sehr gut beschreibt, und wie verschiedene Mechanismen in einem Dienst ineinandergreifen. Nähe zur Realität zeichnet einen guten Spionageroman aus … zumindest für jeden, der selbst beim...