Jenseits der Grenzen der bekannten Welt
Wo Norden ist, hängt zunächst vom geografischen Standpunkt des nach Norden Schauenden ab. Ein Beispiel: Die 49 Quadratkilometer große Vulkaninsel Bouvetøya ist fast völlig mit Eis bedeckt. Niemand wohnt dort, und seit einem halben Jahrhundert ist sie Naturschutzgebiet. Sie trägt einen norwegischen Namen und gehört auch zu diesem Land. Dem französischen Seefahrer Jean-Baptiste Charles Bouvet de Lozier und seinen Begleitern gelang es wegen der hohen Gletscherkliffe nicht, die Insel 1739 zu betreten. Die legendäre deutsche Valdivia-Expedition nahm sie vom 24. bis 28. November 1898 in Augenschein. Zunächst hatte Großbritannien einen Anspruch auf das Eiland erhoben; das änderte sich jedoch, als der Norweger Harald Horntvedt sie im Jahre 1927 genauer untersuchte und bei dieser Gelegenheit auch die norwegische Flagge hisste. Großbritannien erklärte sich bereit, die Insel abzutreten.
Bouvetøya liegt in nördlicher Richtung, allerdings nur vom Südpol aus gesehen, denn die Insel befindet sich zwischen Südafrika und der Antarktis. Manchen gilt sie als »einsamster Ort der Welt«, denn hier sind nur Robben, Pinguine sowie für diesen Teil der Erde typische Meeresvögel zu Hause.
Der Norden beginnt, wo der Süden aufhört. Aber wo genau verläuft die Grenze, und an welchen Merkmalen lässt sie sich festmachen? Johann Wolfgang von Goethe sah noch den Brennerpass in den Alpen als »Grenzscheide des Südens und des Nordens«. Der aus Cornwall stammende britische Chemiker Humphry Davy, der 1824 im Rahmen einer siebenwöchigen Reise bis zur norwegischen Küste und nach Schweden vorstieß, wähnte sich schon im Norden, als er Hannover erreichte. Für den Schweizer Dichter Charles Victor de Bonstetten war es dann ein Jahr später die Heidelandschaft, wo er zum ersten Mal den Norden zu erblicken meinte:
»Bei Lüneburg beginnt der Anblick des Landes sich zu verändern; in diesen Haiden sah ich zum ersten Male jene so reichlich über den Boden nördlicher Länder hingebreiteten Seen. Diese stehenden Gewässer auf morigen Ebenen vermehren den traurigen Anblick der Landschaft; der gleichsam leblose Boden verengt den Horizont; ein niederdrückendes Gefühl von Einsamkeit bemächtigt sich der Seele; es scheint, als sei die Erde nichts wie ein dunkler Punct, den Nebel bald vermischen würden.«
Ähnlich ging es dem jungen französischen Historiker Jean-Jacques Ampère – Sohn des bekannten Physikers André-Marie Ampère –, der sich 1826 von Paris aus zunächst auf den Weg nach Osten und bald darauf nach Norden begab. Noch vor Berlin erfasste ihn das Gefühl, die Grenze zur Natur des Nordens, genauer zu der Skandinavien und Russland bedeckenden Vegetationszone, zu überschreiten: »Tannen auf Bergen, das hätte in der Schweiz, der Auvergne und der Dauphiné sein können; Tannen im Flachland, auf einer Sandebene, das war der Norden Europas. Wäre ich eingeschlafen und an achthundert Ortschaften vorbeigefahren, hätte ich genau dieselbe Natur wiedergefunden, wenn ich an den Ufern des Ob [Fluss im Westen Sibiriens] erwacht wäre.« Preußen war für Ampère so etwas wie das Vorzimmer seines skandinavischen Traums. Man merkt seinen Beschreibungen an, wie er den Übergang auskostete und die Kilometer am liebsten in die Länge gezogen hätte; immer wieder variierte er die assoziativen Zuschreibungen ein wenig. Rügen sah er als »eine Art Probe und Vorposten Skandinaviens«.
Hin- und hergerissen schien man bei der Zuordnung des deutschen Kulturraums gewesen zu sein, wie der Historiker August Ludwig von Schlözer in seiner Allgemeinen Nordischen Geschichte (1771) schrieb, hier wohlgemerkt noch hundert Jahre vor der Reichsgründung: »Wir Deutschen rechnen uns nicht mehr zum Norden; allein der Franzos begreift schon unser Land unter seinem Nord, und spricht von Berlin, wie wir von Stockholm. Den spanischen Schriftstellern ist es sehr geläufig, unter dem Norden Großbritannien zu verstehen, und es ist natürlich, daß der Afrikanische Erd- und Geschichtsschreiber das Mittelländische Meer die Nordsee nennt, und sich alle Europäer wie Nordische Völker denkt.« Es war also kompliziert. Und im Falle von Deutschland war neben Faktoren wie Kleinstaaterei und konfessionellen Unterschieden die Zuordnung auch dadurch erschwert, dass das Gebiet nur zum Teil natürliche Grenzen durch Flüsse und Meere aufwies.
Auch für jemanden, der in abgelegenen nördlichen Regionen lebt, ist seine Heimat nichts weniger als das Zentrum der Welt, die normale geografische Mitte. Und am Nordpol, dem »absoluten Norden«, stellt sich die Frage nach der Himmelsrichtung nicht einmal. Für die Dänen ist die »Nordsee« das Westmeer, Vesterhavet. In Großbritannien war die Nordsee lange mit dem Begriff »the German sea« belegt.
Zudem war das, was man unter »Norden« verstehen konnte, im Lauf der Geschichte eine veränderliche, bewegliche Kategorie. Ein realer wie imaginärer Raum, der sich bis zu den Grenzen des nördlichen und keltisch geprägten Europas, des nördlichen Teils der Britischen Inseln, bis hin zum englischen Teil Nordamerikas und sogar darüber hinaus erstrecken sollte.
»Nordeuropa« wird häufig mit »Skandinavien« gleichgesetzt, dabei umfasst Letzteres genau genommen nur Schweden und Norwegen. Während der größte Teil Dänemarks zu Kontinentaleuropa zu rechnen ist, gehören Island und Finnland nicht zu Skandinavien, obwohl Finnland vom Mittelalter bis 1809 ein Teil Schwedens war und Schwedisch dort bis heute die zweite Amtssprache ist (danach war es Teil Russlands, allerdings mit eigener Gesetzgebung und Religion, und 1917 wurde es unabhängig). Ein interessanter Sonderfall sind die in der nördlichen Ostsee gelegenen Åland-Inseln, die offiziell zu Finnland gehören, wo Schwedisch aber dennoch die einzige Amtssprache ist. Und was ist mit Grönland, der größten Insel der Erde, und den Färöern, die offiziell, wenn auch mit Sonderstatus, zu Dänemark (früher zu Norwegen) gehören? Und Estland und Lettland, die über Jahrhunderte im dänischen bzw. schwedischen Reich lagen? Russland zählte im allgemeinen Verständnis bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum »Norden« oder »Nordland«, bevor in Europa das Denken in »Westen« und »Osten« dominant wurde. »Northland« ist der Norden entlang der 9000 Kilometer langen kanadischen Grenze von Amerika aus gesehen. Die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood, die einen großen Teil ihrer Kindheit in den Wäldern des nördlichen Quebec verbracht hat, schrieb einmal:
»Wo genau ist der Norden? Er ist nicht nur ein Ort, sondern auch eine Richtung, und als solche in seiner Lage relativ: für die Mexikaner sind die Vereinigten Staaten der Norden, für Amerikaner ist es Toronto, obwohl es ungefähr auf demselben Breitengrad wie Boston liegt. Wo immer er sich für uns befindet, es gibt ihn vielmals.«
Umfasst die »Nord-Welt«, wie der nicht näher bezeichnete Autor »F.M.« in seinem 1727 in Frankfurt und Leipzig erschienen Band Neu entdecktes Norden sie definierte, alle »mitternächtigen Länder und Insuln, die vom 63sten Gradu latitudinis biß unter den Polum Arcticum gelegen seynd«? Im Brockhaus von 1820 hieß es: »Unter dem Worte Norden versteht man […] die Länder, welche zunächst dem Nordpol liegen. In der letzten Bedeutung ist es ein äußerst unbestimmter Begriff, indem man bald mehr bald weniger darunter versteht. Es läßt sich vom Norden, sobald der Begriff einmal genau festgesetzt ist, eine allgemeine Charakteristik entwerfen, die dann die gemeinschaftlichen Eigenheiten der nordischen Länder und ihrer Bewohner (Nordländer) enthielte.« Eine andere Möglichkeit bestand darin, den Norden an den dort lebenden Tieren festzumachen wie etwa Friedrich Lange in seiner Erd- und Staatenkunde (1821): »In den Nordländern lebt das Rennthier und der Hund, auch geht das Pferd und das Schaf bis zum Polarkreis, nur ist das Pferd hier viel kleiner, als in den wärmeren Ländern, etwas südlicher das Pelzwild. Auch gehören die großen Meeresungeheuer, die Walfische, die Walrosse, so wie die Seebären und Seehunde den nördlichen Gegenden besonders zu. Von den Vögeln besonders die mit den warmen und weichen Daunen versehenen Eidergänse etc.«
Ist die entscheidende und interessantere Frage womöglich gar nicht, wo genau der »wirkliche« Norden oder die Arktis beginnt, sondern die, was wir für »Norden« halten? Das würde dafür sprechen, eher von vielen Norden auszugehen als von einem einzigen. Denken wir uns »Norden« im Folgenden stets mit Anführungszeichen: als ein relativ flexibles Konzept oder Konstrukt.
In diesem Sinne war der Geograf Johann Reinhold Forster (der Vater von Georg Forster), der von 1772 bis 1775 an der Cook’schen Expedition in die Antarktis teilgenommen hatte, seiner Zeit voraus. Er hatte begriffen, dass das Verständnis vom Norden »nicht zu allen Zeiten gleich gewesen« ist, sondern sich mit den Entdeckungen erst nach und nach erweiterte. Forster unterschied »unseren Norden« – er meinte damit den vertrauten europäischen Norden – von einem viel weiter gefassten, der dann auch Nordamerika, die Hudson Bay, Sibirien, Grönland und Spitzbergen miteinschloss.
Das Wort »Norden« hat indogermanische Wurzeln und bedeutet »links vom Sonnenaufgang«. Sich »einzunorden« heißt wörtlich, eine Landkarte so auszurichten, dass die Nordseite im freien Gelände nach Norden zeigt. Himmelsrichtungen ermöglichen als Koordinaten räumliche Orientierung, mit ihnen verbinden sich aber auch kulturelle und politische Bedeutungen.
Was war es, das die Menschen am Norden...