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Schwarze Hände
Der Alte hat die Tür hinter mir zugemacht. Ich bin eingesperrt, gefangen wie ein Vogel im Käfig. Wir hatten vereinbart, dass er mir diesen Keller zeigt, in dem Dope gestreckt, gewogen und abgepackt wird. Er sollte bei mir bleiben, während ich ein paar Fotos schieße. Danach wollte er mich mit zu sich nach Hause nehmen und mir bei einem Mokka noch mehr über das alles erzählen. Es riecht tatsächlich nach Shit hier, aber auch nach Schweiß – schwer zu sagen, welcher Geruch penetranter ist. Der Alte zögert nicht lange. »Wo Menschen sind, stinkt es nach Scheiße«, grummelt er und ist schneller weg, als es sein Hinkebein vermuten ließe. Hier im Viertel traut man dem Alten nicht über den Weg, weil er alle mit Informationen versorgt – die Verpeilten und die Dealer, die Mieter ebenso wie die Vermieter, auch die Bullen –, solange nur etwas für ihn herausspringt, ob Naturalien oder ein Gefallen. »Schreiben Sie einen gesalzenen Artikel über die Dealer im B, dann wird die Stadtverwaltung dieses verfluchte Gebäude schon irgendwann abreißen, und keiner wird ihm eine Träne nachweinen.« Das ist der Deal zwischen uns. Journalist zu sein heißt auch, sich ein bisschen manipulieren zu lassen, man muss sich dessen nur bewusst sein und darf nicht die Kontrolle verlieren.
Aber wider Erwarten sind die Dealer vom B gerade selbst in ihrem Keller. Als wir hereinkommen, strecken, wiegen und verpacken sie. Es sind drei kleine Strauchdiebe, die hochschrecken wie Babys bei einer schlagenden Tür, weil sie glauben, sie hätten es mit Bullen samt Schlagstock, chemischer Keule und Handschellen zu tun. Sie wollen schon aufspringen und abhauen, durch das Loch da hinten, das wahrscheinlich mal ein Fenster war. »O Mann, sogar hier steckst du deine Journalistennase rein?« In der Stimme des Jungen, der so dick ist wie ein Kebab fettig, schwingt Erleichterung mit, denn er weiß, die Flucht wäre für ihn nicht einfach gewesen. Ja, sogar hier stecke ich meine Journalistennase rein, in dieses staubige Loch. Ich will mir ganz genau ansehen, was den Alltag dieser Kids ausmacht, über die alle Leute Mutmaßungen anstellen, ohne wirklich etwas über ihre Lebenswelt zu wissen.
Sobald wir uns wiedererkannt haben, lässt die Spannung nach, und unser aller Puls geht runter. Ich setze mich auf einen aufgeschlitzten Bürostuhl zwischen dem Dicken und Tadjidine, den ich am besten kenne. Wegen seiner näselnden Stimme, bei der man sich oft das Lachen verkneifen muss, nennen ihn alle »Ente«. Selbst seine Mutter, die ihn mir vor ein paar Monaten vorgestellt hat, nennt ihn so. »Du wirst schon sehen, er ist ein guter Junge«, sagte sie mir in ihrem kreolischen Singsang, »er will Spaß haben, immer nur Spaß haben, nichts weiter.« Sie hatte ihn am Ohr erwischt und zu mir herübergezogen. Der Bengel betrachtete mich argwöhnisch, bis ich ihm von meiner korsischen Herkunft erzählte, einfach so, um auch einen auf entwurzelt zu machen und damit er endlich aufhörte, den starken Mann zu markieren. Seitdem benutzt er meinen korsischen Spitznamen, »Baracca«, bei dem das a am Ende nicht ausgesprochen wird. »Wie Obama?«, fragte er mich beim ersten Mal. »Nein, wie das Haus, baraque«, antwortete ich. Wie das Haus meiner Familie da oben in der Alta Rocca. »Es bedeutet auch ›stark‹«, fügte ich hinzu, um das Bild zu vervollständigen. Im sich selbst überlassenen Gehirn eines orientierungslosen Jugendlichen war ein Korse aus den Bergen eine Bekanntschaft, auf die man stolz sein konnte! Ein echter Bandit, bloß nicht so gefährlich.
Eifrig erklärt er mir seine Tätigkeit. Er freut sich, dass er mir etwas zeigen kann, und genießt dieses erhebende Gefühl, der Wissende zu sein. »›Kugel‹ häckselt mit diesem Mixer 150 Gramm Dope klein, dann gibt er ein bisschen Altöl dazu, vermischt das Ganze und schüttet es in eine Tupperdose, die er in heißes Wasser stellt. Danach setzt er sich auf zwei Bretter und presst diesen Brei zu einer 200-Gramm-Platte, die ›Kaïser‹ in 20-Euro-Pieces schneidet. So machen wir ein bisschen mehr Kohle.« Kugel nickt, während er weiter Chips mampft. Kaïser zieht wie ein Todgeweihter an einem dunkel verfärbten Joint, den er die ganze Zeit zwischen den Lippen behält, damit er die Hände frei hat. Denn die braucht er, um das Dope zu strecken oder um mit dopegeschwärzten Fingern auf seinem Handy Subway Surfers zu spielen. »Danach sieht das Dope aus wie eine Olive, richtig gutes, öliges Dope, das auf die Finger abfärbt und sich kneten lässt wie ein Popel«, meint Tadjidine und deutet mit Daumen und Zeigefinger die Bewegung an. Alle drei sind »Schwarze Hände«, Minijobber im Drogenhandel.
Das Dope bekommen sie von den Dealern aus dem H-Gebäude gleich in der Nähe. Das sind nicht so die Typen, die man am Ohr zieht. Und sie lassen diese kleinen Scheißer nur deshalb einen noch beschisseneren Shit als ihren eigenen verticken, weil sie neue Märkte erobern, sich noch ein bisschen weiter ausbreiten wollen. Überall lauert die Konkurrenz, schlimme Zeiten sind das, da kann es nicht schaden, wenn diese kleinen Idioten ein paar Discount-Konsumenten etwas Dope andrehen.
Der Stoff wird den Kids nur überlassen, sie verkaufen ihn zuerst und bezahlen hinterher, ein bisschen Kleingeld dürfen sie behalten. Wenn sie nicht genug Kohle machen, sind sie etwas schuldig. In Naturalien, oder sie müssen es abarbeiten: ewig lang unbezahlt Schmiere stehen, als Drogenkurier herhalten, wenn es am gefährlichsten ist, oder aber als Informant einem konkurrierenden Dealer eine Nachricht überbringen, wie ein Soldat im Mittelalter mit weißer Fahne.
So weit sind Ente, Kugel und Kaïser noch nicht. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Denn fürs Big Business eignen sie sich kein bisschen. Diese Typen sind Nichtsnutze, zur Langeweile verdammt: langsames Denken in Spatzenhirnen, die Schultern hochgezogen, als müssten sie das imaginäre Gewicht der sie umgebenden Leere tragen, den Kopf voller Dope, ein echt mieses Dope, das wirkt, als würde man mit aller Macht seine Fäuste gegen die Schläfen pressen, nur dass die Arme dieser Kids weiter untätig herunterhängen oder ihre Hände eben mit einem dicken Joint zwischen den Fingern auf ihren Knien liegen. Noch dazu rauchen sie ihr eigenes Dope. Sie kommen nicht einmal auf die Idee, sich vor ihrem Altölgepansche einen Joint zu drehen. In der drückenden Hitze werden die Schweißflecken unter Kugels Armen immer größer. Ich gehe nach oben, um Entes Mutter zu besuchen.
Die Neuankömmlinge unter den Einwanderern empfangen einen immer mit offenen Armen. Sie sind noch nicht verbittert von den bevorstehenden Zurücksetzungen und voller Hoffnung auf ein besseres Leben als die Not, der sie entflohen sind. Denn niemand verlässt grundlos seine Heimat: Es sind Hunger oder Gewalt, die einen vertreiben. Wie vor zwei Jahren ihre Schwester Miyandi bittet mich Bahuwa herein. Die beiden Schwestern führen mich durch die Wohnung, als ginge es darum, mir zu zeigen, dass sie hier rausmüssen, und zwar schnell. In jedem Zimmer schlafen mindestens vier Personen. In diesen siebzig Quadratmetern sind bestimmt fünfzehn Leute zusammengepfercht. Hier hat man also weniger Platz als im Gefängnis … »Wir zahlen 672 Euro Miete und 70 Euro Nebenkosten.« Wenn es ums Wohnen geht, wird ganz pragmatisch gedacht. »Wir schlafen in Schichten. Die einen gehen arbeiten, die anderen ruhen sich aus«, erzählt Miyandi, noch bevor ihr die Frage gestellt wird. Und weil es keine Jobs gibt, ruhen sich immer mehr aus, quälen sich durch die langen und unsinnigen Tage, schlagen die Zeit tot und träumen von einem anderen Leben. Auf dem Herd steht ein großer Topf, der den ganzen Tag und einen Teil der Nacht immer wieder aufgewärmt wird, damit alle, die kommen oder gehen, etwas zu essen kriegen. Die Männer schauen nicht einmal auf, um zu sehen, mit wem die Frauen sprechen. Mein Akzent sagt ihnen genug. »Unsere Männer hier sprechen mit Weißen nur über Arbeit oder Religion«, flüstert Bahuwa. Und ich sehe nicht aus wie ein Arbeitgeber oder ein Imam. Obwohl Nachmittag ist, stellen mir Miyandi und Bahuwa ein maélé na rougaï hin. Eigentlich ist es zu spät oder zu früh für dieses Reisgericht mit Tomaten und Zwiebeln. Aber die Gastfreundschaft abzulehnen wäre eine Beleidigung. Die beiden Schwestern möchten sich nicht dazusetzen, nicht allein mit einem Mann. Es ist mir unangenehm, dass sie stehen bleiben, fast schon hinter mir.
Ihre Jugend haben sie in einem Slum auf Mayotte verbracht. Nach ihrem dritten Kind wollte Miyandi eine bessere Zukunft für ihre Familie. Als Französin eines Übersee-Departements entschied sie sich Ende 2013 für das französische Festland – sie landete in Marseille, in Kalliste, der ärmsten Siedlung der Stadt, im Gebäude H, dem heruntergekommensten, in der erbärmlichen Wohnung eines der örtlichen Miethaie. Und sie war zufrieden. Inzwischen ist sie um einige Illusionen ärmer und hat ihr Gebäude immer mehr verwahrlosen lassen, »damit es endlich abgerissen wird und wir woanders unterkommen«. Sie geht oft zu ihrer Schwester im Gebäude B. Als ich Bahuwa befrage, nennt sie mir dieselben Gründe wie ihre Schwester bei ihrer Ankunft auf dem französischen Festland. Sie hat hier die »westliche Modernität« kennengelernt und träumte außerdem von einem sozialen Aufstieg durch eine bessere Wohnung. Wie die anderen Mieter benutzte sie die Toiletten anfangs als Müllschlucker: »Ich hatte noch nie welche gesehen.« Sie lacht verschämt. Auch ihre Nachbarn halten die Örtlichkeiten schon seit Jahren nicht mehr instand, »sie sind froh, dass sie bald wegkommen, und wollen die Sache beschleunigen«. Und das geht am besten, wenn sie etwas beschädigen. Das hat man ihnen eingeredet: Wenn ihr Ghetto erst...