Einleitung 1
Inhaltsverzeichnis
I. Cicero's schriftstellerische Thätigkeit in den drei letzten Jahren seines Lebens.
1. Nachdem die Freiheit des Römischen Reiches durch Cäsar unterdrückt und die alte Verfassung des Staates umgestoßen war, zog sich Cicero von dem Staatsdienste zurück, da er, der sein Vaterland über Alles liebte, einem Staate, an dessen Spitze ein Gewaltherrscher stand und in dem nur Willkür die Stelle der Gesetze einnahm, seine Dienste nicht mehr widmen konnte. Der bedauernswerthe Zustand der öffentlichen Verhältnisse erfüllte ihn mit tiefer Trauer, und zu dem Schmerze um den Staat gesellte sich auch noch ein häusliches Unglück, indem ihm seine innigst geliebte Tochter Tullia durch den Tod entrissen wurde. In dieser Stimmung wandte er sich dem Studium der Philosophie zu, die er schon in seiner Jugend eifrig getrieben hatte, und suchte aus dieser Quelle Trost und Erleichterung für sein tief betrübtes und niedergebeugtes Gemüth zu schöpfen.
2. Sowie er es aber immer als seine Lebensaufgabe betrachtet hatte seine ganze Thätigkeit der Wohlfahrt seines Vaterlandes zu widmen, so wollte er auch jetzt, von der Staatsverwaltung und den gerichtlichen Geschäften befreit, die Muße, die ihm die Nothwendigkeit auferlegt hatte, nicht in Unthätigkeit dahin schwinden lassen, sondern sie vielmehr zum Besten seiner Mitbürger anwenden. Er faßte daher den Entschluß die Griechische Philosophie nach Latium zu verpflanzen, die wichtigsten Theile derselben in Lateinischer Sprache zu behandeln und so diese herrliche Wissenschaft seinen Landsleuten zugänglicher zu machen.
3. Er entwickelte eine erstaunenswerthe schriftstellerische Thätigkeit auf dem Gebiete der Philosophie. In den Jahren 45 und 44 v. Chr. gab er folgende Schriften heraus: die Trostschrift, den Hortensius über das Lob der Philosophie, fünf Bücher über das höchste Gut und Uebel und die Akademischen Untersuchungen; im folgenden Jahre: die Tusculanen in fünf Büchern; drei Bücher von dem Wesen der Gottheit, zwei Bücher über die Weissagung, die Schrift über das Schicksal, den Lälius über die Freundschaft, den Cato über das Alter, die Schrift über den Ruhm, die Topik (die zu den rhetorischen Schriften gehört) und die drei Bücher über die Pflichten.
4. Diese schriftstellerische Thätigkeit muß um so bewunderungswürdiger erscheinen, wenn man bedenkt, daß er sich seit dem Anfange Septembers des Jahres 44 v. Chr. wieder dem politischen Schauplatze zugewandt hatte und sich auf demselben als Staatsredner in voller Thätigkeit zeigte.
5. Nach der Ermordung Cäsar's (15. März 44) nämlich schöpfte er wieder Hoffnung, die Freiheit des Römischen Staates werde aufs Neue wieder aufblühen, die alte Verfassung zurückkehren und er selbst wieder eine einflußreiche Stellung in der Staatsverwaltung einnehmen. Allein an die Stelle Cäsar's trat Marcus Antonius, der zwar alle Fehler und Laster seines Vorgängers, aber nicht seine lobenswerthen Eigenschaften besaß. Mit bewundernswerther Kraft und Entschlossenheit trat Cicero gegen Antonius, der sich nach Cäsar's Beispiele an die Spitze des Staates setzen wollte, auf und hielt gegen ihn die herrlichen Reden, die unter dem Namen Philippiken bekannt sind (im J. 44 und 43). Er hatte besonders auf den jungen Octavius, Cäsar's Großneffen, der auf Seiten der Optimaten stand, seine Hoffnung gesetzt. Aber bald darauf verband sich Octavius mit Antonius und Lepidus zu einem Triumvirate und gab Cicero dem Antonius preis, der ihn am 7. December des Jahres 43 ermorden ließ.
II. Die Lehre von den Pflichten.
1. Die Stoiker theilten die Moralphilosophie in drei Theile ein: in die Lehre von den Gütern (von dem höchsten Gute), von den Tugenden und von den Pflichten 2. Die früheren Philosophen hatten die Lehre von den Pflichten nicht besonders abgehandelt, sondern nur angedeutet. Die Stoiker waren die Ersten, welche diese Untersuchung, die früher über die ganze Moralphilosopie ausgebreitet war, zu einem besonderen Gegenstande ihrer Betrachtung machten. Die Grundlage der ganzen Moralphilosophie bildete bei den Alten die Lehre von den Gütern oder von dem höchsten Gute. Unter einem Gute verstehen die Alten das, was durch die Kraft der Tugend, durch die moralische Kraft des Menschen, erzeugt wird, und das höchste Gut ist die Vereinigung aller Güter, die durch die Tugend erzeugt werden. Die Tugend aber ist die gleichmäßige und beständige Kraft der Seele, durch die das Gute erzeugt wird. Was dieses Gute sei, wird von verschiedenen Schulen verschieden bestimmt. Die Pflicht endlich ist die Regel, nach der sich die Tugend richtend das Gute erzeugt.
τὸ καθη̃κον τὸ ακόλουθον εν ζω̃η, ὸ πραχθὲν εύλογον απολογίαν έχει 3 , d. h. die Pflicht ist das Zusammenhängende im Leben, das gethan eine vernünftige Rechtfertigung zuläßt. Sie nehmen eine doppelte Pflicht an: eine vollkommene (τέλειον) und eine mittlere (μέσον) oder gewöhnliche. Die vollkommene Pflicht wird auch κατόρθωμα ( rectum
) und die mittlere Pflicht schlechtweg καθη̃κον genannt 4. Die mittleren oder gewöhnlichen Pflichten gehören den Nichtweisen, die vollkommenen aber nur den Weisen an. Die vollkommenen Pflichten, die κατορθώματα ( recta
oder recte facta),
die rechten Handlungen, fassen alle Bestandtheile der Tugend in sich 5 und werden mit der vollen Kraft der Tugend ausgeführt; die mittleren Pflichten (τὰ καθήκοντα), die schicklichen Handlungen, unterscheiden sich von jenen in Ansehung der sittlichen Kraft, mit der sie ausgeführt werden. Während der Weise seine Handlungen rasch und ohne Mühe, aus einem inneren Drange ausführt, thut dieß der Nichtweise mit Mühe und Anstrengung, durch die äußeren Umstände dazu veranlaßt.
3. Die Stoiker scheinen die Lehre von den Pflichten nach den vier Kardinaltugenden ( Klugheit, φρόνησις, prudentia
; Tapferkeit, ανδρεία, fortitudo
; Gerechtigkeit, δικαιοσύνη, justitia
; Mäßigkeit, σωφροσύνη, moderatio
) eingetheilt zu haben. Auch Cicero hat diese Eintheilung befolgt. Die Stoiker sagten jedoch: in jeder den Pflichten entsprechenden Handlung müssen alle Tugenden vereinigt sein; denn wenn auch eine Handlung nur Eine Seite der Sittlichkeit zeigt, so muß sie doch auch die übrigen Tugenden in sich schließen. Z. B. in einer gerechten Handlung tritt zwar die Gerechtigkeit besonders hervor; aber die gerechte Handlung kann nicht als der Ausfluß der Gerechtigkeit allein gedacht werden, sondern als der Ausfluß aller Tugenden.
III. Cicero's Bücher über die Pflichten.
1. Die Abfassung der drei Bücher über die Pflichten fällt in die Monate October und November des Jahres 44 v. Chr. 6, also in das dreiundsechzigste Lebensjahr Cicero's.
2. Die ganze Untersuchung über die Pflichten ist nach Cicero von doppelter Art. Die eine, die theoretische, gehört der Untersuchung über das höchste Gut an, worauf die vollkommenen Pflichten, welche sich auf den Weisen beziehen, abgeleitet werden; die andere, von der die mittleren oder gewöhnlichen Pflichten abgeleitet werden, beruht auf den Vorschriften, welche sich auf die Einrichtung des gewöhnlichen Lebens beziehen. Diese gewöhnlichen Pflichten bilden den Gegenstand, den Cicero in diesen Büchern behandelt. Nicht der vollendete und durchaus weise Mensch wird in ihnen aufgestellt, sondern ein vir bonus,
das heißt ein Mann, den man im gewöhnlichen Leben einen Biedermann, einen rechtschaffenen Mann nennt.
3. Insbesondere scheint er bei Abfassung dieser Bücher den Staatsmann ins Auge gefaßt zu haben. Er will gleichsam das Bild eines Mannes aufstellen, der mit Würde der Verwaltung des Staates vorstehen kann. Verschiedene Gründe mußten ihn dazu bestimmen. Zunächst hatte er diese Bücher für seinen Sohn geschrieben, dem er eine Anleitung geben wollte, wie ein junger Mann sich zu einem tugendhaften Staatsmanne ausbilden könne; dann schrieb er für Römer und insbesondere für junge Römer, deren höchstes Streben war eine wichtige Stellung im Staate einzunehmen; und Cicero selbst hatte in früheren Jahren die ersten Staatsämter bekleidet und sich um die Verwaltung des Staates unsterbliche Verdienste erworben, und noch in dem Jahre, in dem diese Bücher geschrieben sind, war er wieder mit aller Kraft als Staatsmann aufgetreten und hatte gegen Antonius die vier ersten Philippischen Reden gehalten. Mit tiefer Wehmuth blickte er auf die traurige Lage des Staates, welche durch die Leidenschaften und Begierden der Männer, die an der Spitze des Staates damals standen oder kurz zuvor gestanden hatten, herbeigeführt waren. Darum wollte er durch seine Schrift über die Pflichten nach Kräften dazu beitragen, daß die Römische Jugend, die sich dem Staatsdienste widmete, in allen ihren Handlungen und in ihrer ganzen Lebensweise sich von den Grundsätzen der Sittlichkeit leiten und bestimmen lasse. Mit der größten Erbitterung und Entrüstung spricht er gegen Cäsar und Antonius, durch deren Herrschsucht die Freiheit und die alte Verfassung des Staates vernichtet worden war 7. Ueberall tritt in diesen Büchern deutlich der Staatsmann hervor, selbst in den Beispielen, die er zur Erklärung und Beleuchtung seiner Lehren aus der Griechischen und Römischen Geschichte entlehnt; aber weit...