„Grün für Kreativität:“
Lebensräume für Generationen – Planen, entwerfen, gestalten von Wohnquartieren
Machen wir uns auf den Weg. Suchen wir nach Oasen im Ellbogenland. Treffen wir die Menschen, die Neues anpacken, das Mut macht, an Orten, die aufzeigen, wie eine solidarische Gesellschaft zukunftsfest gelingen kann. Gute Modelle gibt es vor allem dort, wo gemeinschaftlich gebaut und in engagierter Nachbarschaft gewohnt wird. Das gelingt in Baugemeinschaften. Hier gibt es keine Wohnungen von der Stange. Die künftigen Bewohner planen von Anfang an mit. Das ist ein starkes Erlebnis, wahrhaftig ein Urerlebnis der Zivilisation. Denn, wann immer Menschen Häuser bauen, werden sie im Tiefsten berührt. Als hätten wir es nach den Höhlentagen unserer Vorfahren in den Genen: Gehäuse, die uns anstatt des Pelzes, den wir abgelegt haben, umgeben, bestimmen weitgehend auch unseren Lebensstil. Ein Zuhause gelingt umso besser, je mehr wir daran mitgestalten. Deshalb kümmern sich die Bewohner einer Baugemeinschaft so früh wie möglich um ihr Projekt. Sie entwerfen in der Regel mit einem professionellen Projektbetreuer und einem Architekten das Haus, die eigene Wohnung und darüber hinaus oft auch das ganze Wohnviertel einschließlich Gärten und Plätzen. Sie packen, soweit es geht, beim Bau selber mit an. So entwickelt sich eine besondere, intensive Nachbarschaft, die mehr bietet als das Übliche, wie Schraubenzieher borgen oder Eier ausleihen. Ganz einfach: Gemeinsam bauen schafft Vertrauen.
„Ich find‘ das einfach spannend, wenn man im Alter noch mal was Neues macht. So habe ich mir im Einzelnen das nicht vorgestellt, aber da finde ich jeden Tag immer wieder was Schönes“, sagt Melanie Grewe. Die pensionierte Lehrerin in den Siebzigern gab ihr Eigenheim auf und zog 2007 in das Mehrgenerationenprojekt „Mühlbachhaus“ in Schorndorf. Nah am Ortszentrum entstanden auf einem ehemaligen Fabrikgelände drei Häuser mit 30 Wohnungen, in U-Form um einen grünen Innenhof angelegt. Melanie Grewe hat sich bewusst für die Nähe zu 62 Mitbewohnern, darunter 15 Kinder, entschieden. Für sie kam eine Wohngemeinschaft unter Gleichaltrigen nicht in Frage. Ihre Schwester und eine Freundin wohnen im Betreuten Wohnen, erzählt sie. „Aber immer alte Leute“, die findet sie sehr freundlich, aber ihr fehlt da das Inspirierende, die Freude in der Nachbarschaft von Jung und Alt: „Wenn ich schon das Lachen von Kindern höre, die da ihren Quatsch machen, und ich oben auf meinem Balkon sitze, dann find‘ ich das toll. Dann guck ich manchmal, was die da machen. Das ist einfach ein anderes Lebensgefühl.“
Wenn schon, wie heute, die Hälfte der Wohnbevölkerung in unseren Großstädten aus Einpersonenhaushalten besteht, wenn mehr und mehr Singles in anonymen Siedlungen altern, spätestens dann merkt unsere Gesellschaft, wie wichtig Architektur und Stadtplanung sind, eine Raumplanung, die konsequent das Miteinander fördert. Es lohnt sich, dass die Bürger über die Gestaltung der Gemeinschaftsflächen beraten und mitentscheiden. Langweiliges Abstandsgrün war gestern, immer mehr gedeiht Obst und Gemüse in urbanen Mitmachgärten.
Mehrgenerationenprojekte sind bewusst auf soziale Nähe angelegt, bewusst so gebaut, dass man sich alltäglich über den Weg läuft und nicht aus dem Weg geht. Das fällt jedem auf, der zum Beispiel in München einmal die Siedlungen von „Wagnis“ ansieht. Die Wohnbaugenossenschaft mit dem bezeichnenden Namen, die in der bayerischen Landeshauptstadt mehr als 250 Wohnungen betreibt, hat die Wegebeziehungen in den üblichen Mehrfamilienhäusern und Stadtvierteln untersucht und dabei festgestellt, wie sie zur Vereinzelung, um nicht zu sagen zur Vereinsamung beitragen. Wie kann man sich begegnen, wenn es nur wenige Schritte von der Wohnungstür bis zum Aufzug sind, mit dem man in die Tiefgarage gelangt, um mit dem Auto wegzufahren? Oft sind die Aufzüge eng und die Treppenaufgänge so schmal, dass leicht ein Gefühl der Beklemmung aufkommt. Architekt Reiner Hoffmann: „Wenn der Treppenraum zweidreißig breit ist, muss man schauen, dass man durchkommt. Dann macht man wie in einem Lift eher die Augen zu oder dreht sich weg.“
Wie es anders geht, zeigen großzügige Treppenhäuser und Laubengänge. Da ist zwar immer ein längerer Weg zur Wohnung zurückzulegen, aber gern bleibt man stehen und hält einen Schwatz. Bei „Wagnis“ in München-Riem verbinden sogar Brückenstege die oberen Etagen der einzelnen Gebäude und laden zu gegenseitigen Besuchen auf imponierende Dachterrassen ein. Architekten schwärmen dann von hoher „Aufenthaltsqualität“. Architekt Matthias Gütschow, der in Tübingen, einer der Pionierstädte für gemeinschaftliches Bauen, Mehrgenerationenprojekte betreut, betont, wie wichtig der Vorbereich des Hauses mit dem Hauseingang ist: „Ich beobachte immer wieder, dort findet die meiste Kommunikation statt. Es kann passieren, dass nachmittags um fünf da eine Gruppe steht, die um sieben in anderer Besetzung immer noch schwatzt. Ständig gehen Leute rein und raus. Jeder bleibt fünf Minuten, tauscht sich aus, und schon kommt ein neuer Bewohner.“
Was sind das für Menschen, die sich für gemeinschaftliches Wohnen interessieren? Es sind Individualisten mit starkem Gemeinsinn. Die Nachbarschaft ersetzt nicht die Familie. Aber es bewährt sich der Satz: Gute Nachbarn in der Nähe sind wichtiger als Verwandte in der Ferne. „Wir sind keine Familie“, betont auch Melanie Grewe aus dem Mühlbachhaus in Schorndorf, „weil jeder seine eigene Wohnung hat. Habe ich keine Lust mehr, dann gehe ich in meine Wohnung und sage: Tschüss. Mach die Wohnungstür zu und hab meine Ruhe.“ Realisten mit Visionen finden hier zusammen. Natürlich suchen sie so etwas wie ein „warmes Nest“. Sie pflegen mit viel Phantasie Bindungen und Beziehungen, um sich gegen soziale Kälte zu schützen. Was nach romantischen Vorstellungen klingt, ist im Kern sehr vernünftig. Vielleicht verdient die Art dieses Zusammenlebens den Begriff der Hausfamilie, einer Gemeinschaft, die der Herkunftsfamilie zugesprochene Schutzfunktionen im neuen Wohnverbund wiederbelebt.
Baugemeinschaften rechnen sich. Gemeinschaftlich geplante und gebaute Häuser, das belegen Studien, kosten rund 10 bis 20 Prozent weniger als von Bauträgern fertiggestellte. Die Gründe dafür sind: Profitmargen und Vermarktungskosten fallen nicht ins Gewicht. Die Grunderwerbssteuer und die Notargebühren bemessen sich nur nach dem Grundstückswert, nicht nach dem Wert der einzelnen Wohnungen. Weitere Einspareffekte lassen sich erzielen, wenn Aufträge etwa an Handwerker gebündelt vergeben werden. Obwohl Eigentümergemeinschaften beim gemeinschaftlichen Bauen in der Mehrzahl sind, ermöglichen besonders die allerdings noch spärlichen Baugemeinschaften von Wohnbaugenossenschaften ein selbstbestimmtes und erschwingliches Wohnen. Die Bewohner einer Genossenschaftswohnung sind Mieter, wenn sie es wollen auf Lebenszeit, und zugleich Eigentümer. Sie erwerben mit ihrer Genossenschaftseinlage einen Anteil am Gesamtbesitz der Genossenschaft. Diese Summe wird bei einem eventuellen Auszug unverzinst wieder ausbezahlt. Dauerhaft niedrig bleibt die monatliche Nutzungsgebühr, da die Wohnungen keine Spekulationsobjekte sind.
Ebenso vernünftig erweist sich die Raumnutzung. Mit weniger Platz als gewöhnlich gelingt ein großzügiges Wohnen, da einiges, was in den privaten vier Wänden Platz wegnimmt, wie Waschmaschinen und Fitnessgeräte, nun in gemeinschaftlich genutzten Räumen landet. Für jeden Waschgang zahlt man im Mühlbachhaus 50 Cent, anderswo einen Euro. Mit dem Geld kann sich die Hausgemeinschaft robuste Neugeräte leisten, wenn die Altgeräte mal nicht mehr tun. Hausgemeinschaften wissen die Fähigkeiten ihrer Mitbewohner zu nutzen. Wer handwerklich begabt ist, betreut Werkräume für Kinder und Erwachsene. Musiker kümmern sich um den – natürlich schallgedämmten – Musikraum. Eine ehemalige Bibliothekarin war überrascht, als nach ihrem Aufruf die Wagnis-Nachbarschaft in München-Riem über 4000 gebrauchte Bücher anschleppte. Die Bände schmücken nun eine gemeinsam errichtete Kellerbibliothek, wo es so gemütlich ist, dass sich hier auch ein Literaturkreis trifft. Ferner gibt es einen Jugend- und einen Kinderraum, einen Nachbarschaftstreff, ein von allen belegbares Gästeappartement, einen Raum der Stille und einen so genannten Entfaltungsraum, doppeldeutig benannt nach einer Falttür, die einmal die beiden Raumteile trennte. Im Gemeinschaftseigentum befindet sich das Ökorestaurant im Parterre. „Die schönsten Plätze nutzen wir gemeinsam, das sind unsere Dachterrassen“, sagt Elisabeth Hollerbach, die Vorsitzende der Wohnbaugenossenschaft, und weist auf die Panoramasicht, die bis zu den Schneekämmen der Alpen reicht. Hier lässt es sich gut sein. Bewohner haben in Hochbeeten einen Kräutergarten angelegt, den man selbst dann noch pflegen kann, wenn das Bücken schwer fällt. Nebenan laden ein zünftiger Biergarten zum Zusammenhocken und Liegestühle auf dem anderen Dach zum entspannten Sonnenbaden ein.
Das gelebte Prinzip „Gemeinsam statt einsam“ schafft neue Wohngefühle. Mehrgenerationenhäuser entwickeln fast mediterrane Lebensstile. Man genießt die Gemeinschaft auf der Piazza, verbringt mehr denn je erfüllte Zeit vor als hinter der Wohnungstür. „In unserem Gemeinschaftsraum ist immer was los“, sagen die Bewohner des Hauses Solidarité im Französischen Viertel in Tübingen. Sie berichten von geplanten wie von spontanen Feten, der traditionellen Silvesterparty, dem kurzfristig verabredeten Brunch, runden Geburtstagen, Konfirmationen und Kommunionen. Neugeborene Kinder heißt die Hausgemeinschaft festlich willkommen. Zuletzt war es eine...