Kriemhild wird anfangs als Person beschrieben, die ihrer Verwandtschaft sehr nahesteht, jedoch nicht so nah wie Siegfried. So begrüßt sie die Reise in ihre neue Heimat Xanten an Siegfrieds Seite (687), doch verspürt fernab von der Familie oft Heimweh (738), was sich zum Beispiel an ihrem hastigen Aufspringen aus dem Bett zeigt, als sie hört, dass Ritter aus dem Burgundenland gekommen seien (737). Auch traut sie ihren Verwandten sowie Brünhild anfangs noch (745 u. 750). Die Entscheidung, nach dem Tode Siegfrieds in Worms zu bleiben, stellt einen letzten verzweifelten Versuch der triuwe zu ihren Verwandten dar. Da sie aber keinen Schutz, sondern weitere untriuwe erfahren muss, isoliert sie sich immer mehr in ihrem Schmerz.
Nach der Ermordung Siegfrieds wird immer deutlicher, dass sie sich gegen ihre einstigen Vertrauten auflehnt. So verhindert sie auch einen Kampf der Brüder um der Nibelungen, ihres neuen Gefolges, willen (1027). „So wird Kriemhild als große Liebende konsequenterweise zur großen Einsamen und schließlich zur ‚Teufelin‘.“[8] Um diese Wandlung im Spiegel ihres soziales Beziehungsgefüges darzustellen, werden im Folgenden ihre familiären und familiennahen Bindungen zu ihrem Mann Siegfried, ihrer Mutter Ute, ihren Söhnen Ortlieb und Gunther, ihren Brüdern Gunther, Gernot und Giselher, ihrer Schwägerin Brünhild und ihren Vertrauten Hagen und Rüdiger analysiert.
Kriemhild wird als ein Mädchen eingeführt, das mit Gewalt nicht zu bekommen (55) und damit unerreichbar für das Werben diverser Ritter ist:
Swaz man der werbenden nâch ir minne sach,
Krimhilt in ir sinne ir selber nie verjach,
daz si deheinen wolde ze eime trûte hân (44,1-3).
Siegfried hingegen erkennt, dass es der Kunst der hohen Minne bedarf, um Kriemhild zu erobern. Die Dauer von sieben Reisetagen nimmt er für den Anblick von Kriemhilds sagenhafter schœnde gerne in Kauf (69). Er ist in Gedanken stets bei ihr, obwohl er sie erst ein Jahr nach seiner Ankunft zu Gesicht bekommt (136). Ihre einzigartige schœnde und ihre Unerreichbarkeit bestärken ihn offenbar in seinem Vorhaben, am Wormser Hof zu bleiben. Auch Kriemhild denkt zugleich an ihn und spricht sogar oftmals gegenüber ihren Vertrauten freundlich über ihn (130). Im Gegensatz zu Siegfried hat Kriemhild ihn bereits heimlich sehen können. Seit seiner Ankunft schaut sie ihm von den Fenstern aus zu:
deheiner kurzwîle bedorftes in den zî mêr (131,4).
Dieses Bild der Örtlichkeit, die verborgenen Blicke der Minne am Fenster, ist oftmals in der höfischen Epik zu finden. Erst durch den wertenden Blick der Frau, welche hier als öffentliche Instanz fungiert, wird dem Auserwählten eine soziale Bedeutung und Geltung zuteil. Durch ihren prüfenden Fensterblick von oben nach unten symbolisiert Kriemhild die höfischsoziale Ordnung und Liebe des Wormser Hofs. Laut dem Philosophen Max Scheler stellt Kriemhild somit das „Wertungsauge“ des Wormser Hofes dar.[9]
Wenn Siegfried die Könige bei ihren Aufgaben begleitet, bedauert Kriemhild dies (135). Kriemhild erhält nun seit Beginn der ersten Âventiure erstmals eine eigene Szene:
jâne torstes uberlût,
wan si hete dar under ir vil liebez herzen trût (222,3 ‒4).
Hier wird Siegfried schon als ihr Mann bezeichnet, obwohl noch kein Treffen stattgefunden hat, geschweige denn eine Trauung vollzogen wurde. Auch ist erkennbar, dass Kriemhild ihn schon von Herzen liebt. Die Öffentlichkeit scheut sie offenbar, weil ihm durch ihre Aufmerksamkeit eine hohe Auszeichnung zuteil würde. Daher macht sie sich zunächst in aller Heimlichkeit ein Bild von dem tapferen Ritter.
Als sie von einem Boten erfährt, dass Siegfried im Krieg gegen die Sachsen und Dänen so viele Geiseln gefangen genommen habe wie kein anderer zuvor, erfährt der Leser, dass keine Nachrichten ihr hätten lieber sein können (236) und sie nach Abschluss des Berichts aufblüht (238). In ihrem Gesicht spiegelt sich Freude wider, als sie vernimmt, dass Siegfried den großen Kampf lebend überstanden hat, erkennbar an der rosenroten Verfärbung (239). Auch wird hier deutlich, dass ihre Gefühle primär Siegfried, dem Fremden, und sekundär ihren Verwandten gelten, was als Verschiebung der höfischen Ordnung zu deuten ist. Es ist ein Pfingstmorgen, als Kriemhild das erste Mal auf Siegfried trifft (269). Dabei ist anzumerken, dass Pfingsten in der mittelalterlichen Epik eine Zeit der ritterlichen Feste ist. Es ist ihr Bruder Gernot, der anordnet, dass Kriemhild lernen soll, dem Ritter Siegfried einen Gruß zu gewähren (287). Kriemhild würde mit dem Gruß den Minnedienst des Ritters Siegfried belohnen. Da sie bisher keinem Ritter ihren Gruß erwiesen hat, wäre diese Auszeichnung für Siegfried gegenüber der Öffentlichkeit von hoher Bedeutsamkeit. Gernot ist sich der politischen Tragweite dieser Handlung offenbar bewusst. So grüßt Kriemhild Siegfried schließlich mit all ihrem höfischen Liebreiz. Die erste Ansprache Kriemhilds an Siegfried lautet:
»sît willekomen, her Sîvrit, ein edel riter guot« (290,3).
Sie greift seine Hände und sieht ihn heimlich mit verliebten Augen an (291) ‒ eine Geste, durch die sie der Öffentlichkeit demonstrativ ihre Zuneigung offenbart. So geht sie mit ihm für jeden ersichtlich Hand in Hand bei Hofe. Auch wird hier die im Minnesang häufig benutzte Parallelisierung von Gefühl und Jahreszeit verwendet (293). Laut Dichter zeigt sie ihm ihre Zuneigung sehr schnell (292). Ihr wird erlaubt ihn zu küssen, was als eine Intensivierung des Grußes gilt. Der Dichter erklärt damit, warum Siegfried auf der Welt sonst noch niemals solch eine Liebe zuteil geworden ist und beschreibt seine Verliebtheit zu Kriemhild (295). Die Liebe des Paares Kriemhild/Siegfried offenbart sich stufenweise, gemäß dem typischen Minneschema: Zuerst in Form von Blicken, dann in Form von Berührungen der Hände und schließlich durch Küsse. Zwölf Tage schreitet Kriemhild bei Hofe an Siegfrieds Seite und verdeutlicht durch diese besondere Aufmerksamkeit öffentlich ihre Zuneigung zu ihm (303). Als Bruder Gunther...