2 Elementare Formen
In diesem Kapitel geht es darum, die elementaren Formen pädagogischen Handelns zu vergegenwärtigen; im nächsten werden dann die komplexen Formen behandelt. Tatsächlich treffen wir in der Erziehungswirklichkeit eher auf die komplexen als auf die elementaren oder einfachen Formen. Das hängt damit zusammen, dass das Erziehen zunächst in andere Tätigkeiten eingemischt erscheint und mit anderen Absichten und Verhaltensweisen vorkommt, so dass es nur schwer als reine Kategorie zu fassen ist. Wir verhalten uns auch erzieherisch, wenn wir mit den Kindern essen und ihnen dabei zeigen, wie sie Löffel und Gabel zu halten haben, ebenso wenn wir sie zu Bett bringen und ihnen vor dem Einschlafen noch eine Geschichte vorlesen, wenn wir sie beruhigen oder anspornen. Das hat zur Folge, dass auf die Frage nach einer Erziehungsform meist eine ausdrücklich pädagogisch gemeinte Maßnahme von besonders dramatischer Qualität wie zum Beispiel die Strafe angegeben wird, während man dem Zoobesuch nicht ohne weiteres ansieht, dass er gleichfalls von Formen des Erziehens mitbestimmt ist. Doch in beiden Fällen beziehen wir uns auf das Lernen der Kinder, im ersten ausdrücklich und mit voller Absicht, im zweiten eher mitgängig und sporadisch. Es dürfte mit dem abgehobenen, oft dramatisch zugespitzten Charakter der Aufforderung und der Missbilligung zusammenhängen, dass sie für den Inbegriff des Erziehens angesehen werden, vor denen die eher unauffälligen Formen des Übens und Zurechtrückens, des Hinweisens und Andeutens verblassen und für das Reden über Erziehung nicht viel herzugeben scheinen.
Will man nun die Eigenart pädagogischen Handelns begrifflich klar fassen, ist es angesichts dieser Sachlage nötig, seine Form zuerst einmal aus den Kontexten herauszulösen und von den begleitenden Umständen zu abstrahieren. Form ist das, was sich bei aller Verschiedenheit nach Alter, Geschlecht, sozialer Schicht, Zeitlage usw. als dasjenige identifizieren lässt, was immer als Gemeinsames gegeben sein muss, damit man von Erziehung sprechen kann. Darnach kann man auf jene Verschiedenheiten, Umstände und Gelegenheiten zurückkommen und sie als variable Inszenierungen einer grundlegenden Form interpretieren. Das geschieht unter dem Titel der komplexen Formen. Erst verfahren wir also abstrahierend, dann explikativ und erweiternd.
Es mag unmittelbar einleuchten, dass sich die elementaren Formen am sichersten in der frühen Erziehung und im Umgang mit den Kindern antreffen lassen. Deshalb beziehen wir uns in diesem Kapitel vor allem auf die Kindererziehung. Das bedeutet aber nicht, dass die dabei aufgedeckten Formen nur für den erzieherischen Umgang mit Kindern oder nur mit kleinen Kindern zutreffen. Sie sollen mutatis mutandis für das Erziehen generell gelten. Davon unberührt bleibt der Tatbestand, dass es zuerst und vor allem die Kinder sind, um deren Lernen es bei der Erziehung geht. Auch deshalb liegt es nahe, bei den Kindern anzufangen, um die Grundformen pädagogischen Handelns zu bestimmen.
Im Einzelnen gehen wir so vor, dass zuerst eine oder besser: die Grundform des Erziehens ausgewiesen wird, nämlich dasjenige, was in jedem Falle und überall gegeben sein muss, um von einer pädagogisch relevanten Situation sprechen zu können. Diese Grundform ist das Zeigen. In Abwandlung und Erweiterung des Satzes von Werner Loch: »Immer wenn erzogen wird, wird auch gesprochen« (Loch 1970, S. 481), wollen wir von der Behauptung ausgehen: Überall wo erzogen wird, wird etwas gezeigt. Diese Aussage wird in den darauf folgenden Abschnitten dann weiter entfaltet und die elementaren Formen des pädagogischen Handelns entlang den verschiedenen Modi des Zeigens bestimmt und beschrieben. Es sind dies das Üben auf der Grundlage des ostensiven Zeigens, das Darstellen als repräsentatives Zeigen, das direktive Zeigen als Voraussetzung dafür, dass wir die Kinder und die Lernenden zu etwas auffordern können, und schließlich das reaktive Zeigen, mit dem wir rückmeldend darauf eingehen, was die Lernenden uns gezeigt haben. Womit wir es hier zu tun haben, ist die für die Erziehung fundamentale Reziprozität des Zeigens. Es kommt auf beiden Seiten vor: als unser Zeigen in den drei angeführten Formen und als Zeigen des Kindes, zunächst als fragende Geste und dann ausdrücklich im Fragen der Lernenden. Das Fragen ist als Inversion des Zeigens zu verstehen und die Kultivierung des Fragens gehört gleichermaßen zu den Folgen wie zu den ausdrücklichen Aufgaben des Erziehens. Die neueren Forschungen zu den »Ursprüngen der menschlichen Kommunikation« (Tomasello 2009) haben diese Reziprozität des Zeigens schon für die ganz frühen Stadien der individuellen Entwicklung nachgewiesen. Doch ändern diese Befunde nichts daran, dass das positive Zeigen in den drei angegebenen Grundformen die Grundlage des Erziehens darstellt, auch und gerade dann, wenn es auf das Fragen und die Neugier der Lernenden reagiert.
Dabei hat jede einzelne Form einen eigenen, spezifischen Geltungsbereich, der für das Lernen bedeutsam ist. Es wird jeweils ein spezifisches Verhältnis von Erziehen und Lernen sichtbar. Das heißt: Das individuelle Lernen wird auf verschiedene Weisen durch das pädagogische Handeln angeleitet und geformt. Zwar differenzieren sich diese vier Varianten der Grundform in weitere Unterformen aus und variieren nach den Kontexten ihres Gebrauchs, aber ihre Funktion für die individuellen Lerngeschichten bleibt grundsätzlich erhalten.
Dieser Ausgang vom Zeigen als Grundform des Erziehens unterscheidet sich von der herkömmlichen und nach wie vor vorherrschenden Auffassung, die die pädagogischen Handlungsformen vor allem von der Aufforderung her verstehen, mit der Folge, dass das Üben, das Darstellen und das Rückmelden nur unvollkommen und meist nur indirekt angesprochen werden. Diese vermutlich moralpädagogisch motivierte Betonung des Forderungsaspekts der Erziehung soll hier vermieden werden, nicht zuletzt, um im Ergebnis die erwünschte Breite in der Bestimmung des pädagogischen Handelns zu gewinnen. Es besteht in seiner Beziehung auf Lernen, und da liegt auf der Hand, dass wir nicht nur moralisch, sondern ebenso intellektuell und manuell, kognitiv und instrumentell der Hilfen bedürfen, um lebenstüchtig zu werden. Es gibt zwar das Lernen auch ohne diese Hilfen und Anforderungen, aber wie an dem Fall Helen Kellers deutlich werden sollte, kommen wir damit nicht sehr weit, auch wenn wir sehen und hören können und mit einem gehörigen Maß an natürlicher Neugier und Lernbereitschaft ausgestattet sind.
Im Folgenden soll zuerst das Zeigen als Grundform des pädagogischen Handelns aufgewiesen werden, um es dann nach seinen verschiedenen Hinsichten als ostensives und repräsentatives, direktives und reaktives Zeigen zu differenzieren.
2.1 Die Grundform: das Zeigen
In seinem »Wegweiser zur Bildung für deutsche Lehrer«, 1835 zuerst erschienen, hat Adolph Diesterweg das pädagogische Handeln mit der Kochkunst verglichen und davor gewarnt, die »Schüler zu überfüttern«, das »steht viel eher zu befürchten, als dass sie aus Mangel an Nahrung schwach bleiben« (Diesterweg 1958, S. 93). Dieser Vergleich des Erziehens mit dem Ernähren und Füttern und der Erziehungs- mit der Kochkunst ist alt und oft benutzt worden. Was vermittelt wird, gleicht einer geistigen Nahrung, die der Lernende zu schmecken und zu verdauen hat. Auch der homo sapiens ist wörtlich genommen der schmeckende Mensch, und ebenso geht das griechische Wort für das Geistige schlechthin, der nous, auf ein Verbum zurück, das Riechen und Spüren bedeutet. Auf der einen Seite steht das Kochen und Zubereiten, die medicina mentis, auf der anderen das Aufnehmen, Essen und Einverleiben. Die Frage ist, was mit diesen Bildern gemeint ist. Worin besteht das »Kochen« der Erzieher und wie bezieht es sich auf den Geschmack und die Rezeption der Esser?
Der erste Punkt ist: Erziehung ist nicht etwas, das sich in einfacher Geschlossenheit darstellt, sondern sie hat zwei Seiten: das Lernen und Aneignen einerseits und das pädagogische Handeln und Vermitteln andererseits. Dieser Sachverhalt ist schon als pädagogische Differenz bestimmt worden.
Das Zweite ist: Dieses Handeln ist angewiesen auf die Lage und Eigenart des Adressaten. Nicht alles, was zubereitet wird, bekommt auch jedem. Anders herum ausgedrückt: Das Lernen reagiert nicht automatisch auf das pädagogische Handeln, jedenfalls nicht so, wie etwa der Körper auf eine Spritze oder eine Flasche Wein reagiert. Es reagiert produktiv und selektiv. Das ist der Grund für das, was in der neueren Literatur als »Technologiedefizit« bezeichnet wird (vgl. Luhmann/Schorr 1982).
Und das Dritte ist: Das...