2 Ausgangspunkte: Perspektiven auf Entwicklung
In diesem Kapitel werden verschiedene, aufeinander bezogene Perspektiven auf die menschliche Entwicklung vorgestellt. Der zentrale Ausgangspunkt ist dabei ein biopsycho-soziales Entwicklungsmodell, das unterschiedliche empirische Befunde zur Erklärung von Verhalten und Erleben integriert und sich an entsprechenden Entwicklungskonzepten orientiert (Petermann et al., 2004; Montada, 2008).
2.1 Bio-Psycho-Soziales Entwicklungsmodell
Zur Erklärung menschlichen Verhaltens und Erlebens werden unterschiedliche und z. T. widersprechende theoretische Orientierungen herangezogen. Montada (2008, S. 10 f.) unterscheidet dabei vier »Entwicklungstypologien«. Am komplexesten sind die interaktionistischen Theorien, die davon ausgehen, dass sich ein aktives Individuum in einer gleichfalls aktiven Umwelt bewegt und beide in ständiger Wechselwirkung Entwicklung beeinflussen. Diese haben eine große Nähe zu systemischen Konzeptionen, die davon ausgehen, dass »Menschen leben, agieren und [sich] in sozialen bzw. ökologischen Systemen [entwickeln]. Alle Teile dieser Systeme stehen in Relation zueinander, ihre Aktivitäten können andere Teile beeinflussen« (ebd., S. 12; s. auch z. B. Wilkening & Cacchione, 2007).
Dieses Modell wird der Realität menschlicher Entwicklung in (sich wandelnden) Umwelten sicherlich am ehesten gerecht und erfasst die Vielfalt und Komplexität menschlichen Seins am besten – es ist andererseits ein komplexes und kompliziertes Modell, weil immer eine Vielzahl von Bedingungen, Faktoren und Variablen berücksichtigt werden muss und einfache Aussagen wie »Intelligenz ist vererbt« oder »Das Kind verhält sich so, weil es ihm seine Eltern vormachen« unter dieser Perspektive nicht zutreffend sein können.
Das integrative Modell lässt sich in Anlehnung an Fröhlich-Gildhoff (2013) wie in ► Abb. 2.1 darstellen:
Der Grundgedanke ist dabei, dass sich im Leben immer wieder Entwicklungsaufgaben (1a), bzw. aktuelle Anforderungen oder kritische Lebensereignisse (1b) stellen, die vom Individuum bewältigt werden müssen. Die Art und Weise der Bewältigung ist abhängig von der bisherigen (Entwicklungs-)Geschichte – und hierbei dem Zusammenspiel von biologischen Bedingungen (3) und sozialen Erfahrungen (4), sowie aktuell wirkenden Schutz- und Risikofaktoren (5), die dem Individuum mit seiner bisher entwickelten Struktur (2) insgesamt Bewältigungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Die Bewältigung kann entwicklungseinschränkend (6b) oder entwicklungsförderlich (6a) erfolgen.
Abb. 2.1: Integriertes bio-psycho-soziales Entwicklungsmodell
Im Folgenden sollen die einzelnen Aspekte betrachtet werden.
Das Konzept der Entwicklungsaufgaben (1a) wurde zum ersten Mal von Havighurst (1948) in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht und von der allgemeinen Entwicklungspsychologie (z. B. Oerter & Montada, 2008; Steinebach, 2000) wie von der klinischen Entwicklungspsychologie (z. B. Oerter et al., 1999) und der Entwicklungswissenschaft (Petermann et al., 2004) aufgegriffen.
Entwicklungsaufgaben sind solche Anforderungen, die sich dem Individuum im Lauf der Lebensjahre stellen, und die dann in spezifischer Weise bewältigt bzw. »beantwortet« werden müssen. Diese Entwicklungsaufgaben resultieren aus
- biologischen Faktoren (z. B. der Notwendigkeit, physiologische Zustände wie den Schlaf-Wach-Rhythmus zu regulieren oder Laufen zu lernen)
- gesellschaftlichen Vorgaben, Zielen und Erwartungen (z. B. dem Eintritt in den Kindergarten oder die Schulpflicht mit sechs Jahren)
- sowie individuellen Zielsetzungen.
Die folgende Zusammenstellung zeigt beispielhaft die Abfolge von zentralen Entwicklungsaufgaben – bis zum Alter der Adoleszenz2:
Tab. 2.1: Entwicklungsaufgaben
Aufgaben des Säuglingsalters (bis ca. ein Jahr)
- Aufbau sensomotorischer Schemata
- erster Aufbau von Bindungsrepräsentationen
- Auf- und Ausbau von physiologischen Regulationsfertigkeiten
Aufgaben des Kleinstkindalters/Krabbelalters (bis ca. drei Jahre)
- Aufbau eines differenzierten Emotionsspektrums
- Differenzierung der motorischen Fertigkeiten
- Aufbau von frühen Denk- bzw. Problemlösungskompetenzen und der Mentalisierungsfähigkeit
- Erwerb von sprachlichen Kompetenzen
Aufgaben der Kindheit und des Vorschulalters (ca. drei bis ca. sechs Jahre)
- Ausbau von sozialen Kompetenzen (Perspektiveübernahme, Konfliktlösefähigkeit, angemessene Selbstbehauptung; Fähigkeit, sich Unterstützung zu holen)
- erster Aufbau von moralischen Kompetenzen
- vorsichtige Lösung von den Bezugspersonen und Aufbau tragfähiger Beziehungen zu Gleichaltrigen und anderen Erwachsenen
- Erwerb von Geschlechtsrollenkompetenzen
Aufgaben des Schulalters (ca. sieben bis ca. zwölf Jahre)
- Erwerb von schulbezogenen Fähigkeiten (Anpassung an die Normen der Schule, Anstrengungsbereitschaft, Aufbau schulbezogener Leistungsmotivation …)
- Ausbau sozialer Kompetenzen, besonders im Umgang mit Gleichaltrigen
- Differenzierung des fähigkeitsbezogenen Selbstkonzepts
Aufgaben der Adoleszenz (ca. 13 bis ca. 20 Jahre)
- Erwerb von sexuellen Kompetenzen
- Erwerb von Kompetenzen zur Identitätsfindung (Geschlecht, Werte und Normen, Berufsorientierung, Partnerschaft …) und zur selbstständigen Orientierung in der multioptionalen Welt
- Erwerb von Kompetenzen zur Loslösung von den Eltern
Neben Entwicklungsaufgaben stellen sich aktuelle Anforderungen oder auch sogenannte »kritische Lebensereignisse« wie Geburt von Geschwistern, Scheidung der Eltern oder Ortswechsel (z. B. Greve, 2008; Steinebach, 2000; Filipp, 2007).
Die Art und Weise der Bewältigung ist maßgeblich abhängig von der bisher entwickelten handlungsleitenden inneren Struktur (2), dem Selbst des Kindes (bzw. Jugendlichen, oder auch Erwachsenen). Diese Struktur entwickelt sich aus dem Zusammenspiel von biologischen Bedingungen (3)3, z. B. dem Temperament und konkreten sozialen Erfahrungen (4). Dabei werden diese Erfahrungen emotional bewertet und intrapsychisch repräsentiert; der Säuglingsforscher Stern (1992) spricht von verallgemeinerten Abbildern, von Interaktionserfahrungen. Diese Repräsentationen bilden eine zunehmend stabilere, zunehmend hierarchisch gegliederte Struktur von handlungsleitenden inneren Schemata. Dieses »Selbst« oder, wie Stern sagt »Selbstempfinden«, empfinden »wir […] als einzelnen, abgegrenzten, integrierten Körper, wir empfinden ein Selbst als Handlungsinstanz, ein Selbst, das unsere Gefühle empfindet, unsere Absichten fasst, unsere Pläne schmiedet, unsere Erfahrungen in Sprache umsetzt und unser persönliches Wissen mitteilt. Meistens bleiben diese Selbstempfindungen (ähnlich wie das Atmen) außerhalb des Bewusstseins, aber sie können in das Bewusstsein gebracht und dort behalten werden. Instinktiv verarbeiten wir unsere Erfahrungen so, dass sie zu einer Art einzigartiger, subjektiver Organisation zu führen scheinen« (Stern, 1992, S. 80; vgl. ausführlich Fröhlich-Gildhoff, 2009). Entsprechungen zum Aufbau dieser inneren Struktur finden sich in Ergebnissen der Neurobiologie (z. B. Hüther, 2004, 2005).
Von besonderer Bedeutung beim Aufbau innerer Strukturen und deren neurophysiologischer Korrelate ist die Passung zwischen den biologischen Bedingungen, den je aktuellen und aktualisierten Möglichkeiten des Kindes und eben der Art und Weise, wie Eltern und Bezugspersonen damit umgehen (können) (vgl. dazu das ► Kap. 4.1, das die »Entwicklungsumwelten« behandelt). Unterstützend bei der Bewältigung sind Schutz- und Risikofaktoren, (5) die in der aktuellen Situation wirksam werden, deren Zusammenspiel das Individuum bei der Bewältigung unterstützt oder unter Umständen auch hindert (vgl. hierzu ► Kap. 2.3). Die Art und Weise der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben und kritischen Lebensereignissen wirkt wiederum zurück auf das Individuum und seine innerseelische Struktur. Die Bewältigung kann entwicklungsförderlich und erfolgreich verlaufen, aber eben auch entwicklungseinschränkend. Ein Beispiel hierfür wäre ein zurückhaltendes Kind, das bisher bei der Bewältigung von schwierigen Situationen oder Anforderungen eher überbehütet wurde und auf diese Weise wenig (erfolgreiche) Erfahrungen in neuen Situationen sammeln konnte. Dieses Kind wird vermutlich Angst vor dem Übertritt in die Kindertageseinrichtung entwickeln und sich dann, wenn es wiederum nicht adäquat unterstützt wird, zurückziehen und möglicherweise aus dieser Überforderungssituation heraus stärkere Ängste oder psychosomatische Beschwerden entwickeln. Solche Bewältigungserfahrungen sind nach Montada »Wendepunkte« im Leben,...