4 Exkurs: Evidence-based Nursing
Expertenstandards wie auch evidenzbasierte klinische (Praxis-)Leitlinien haben den Anspruch, das beste derzeit verfügbare Wissen abzubilden. Damit ist jedoch noch nicht erreicht, dass dieses Wissen auch in die Praxis gelangt. Darüber hinaus muss das allgemeine Theoriewissen auf den individuellen Fall übertragen werden.
Expertenstandards, Leitlinien und deren Umsetzung in der Pflegepraxis
Das auch als Theorie-Praxis-Transfer bezeichnete Phänomen ist eine der Kernaufgaben der Pflege(-wissenschaft), denn darin liegt eines der grundlegenden Probleme der Pflege. Obwohl es mittlerweile in einigen Bereichen ein recht gut entwickeltes theoretisches Wissen gibt, scheint die Übertragung dieses Wissens in die Praxis problematisch. Im Bereich Dekubitusprophylaxe äußert sich dieser Umstand in einer mangelnden Umsetzung von Leitlinien (Meesterberends et al., 2010; van Gaal et al., 2010). Für Deutschland liegen derartige Ergebnisse nicht vor, allerdings gibt es erste Hinweise darauf, dass bereits in der pflegerischen Erstausbildung Wissen gelehrt wird, das nicht dem aktuellen wissenschaftlichen Standard entspricht (Wilborn et al., 2009; Strupeit et al., 2012). Darüber hinaus scheint das Wissen von Pflegenden zur Dekubitusprophylaxe in Teilen mangelhaft zu sein (Buß et al., 2012). Letztlich weisen die Inzidenz- und Prävalenzzahlen daraufhin, dass viele Dekubitus nicht vermieden werden können.
Um den Transfer von Wissen in die Praxis voranzubringen, müssen Maßnahmen getroffen werden, die sich positiv auf die Praxis auswirken. In der Literatur gibt es Hinweise auf mögliche Maßnahmen zur Förderung des Theorie-Praxis-Transfers, wie z. B. aktive Schulungsmaßnahmen oder die Anwendung von Instrumenten zur Entscheidungsfindung (Wensing et al., 2010). Ein viel diskutiertes Konzept zur Förderung des Theorie-Praxis-Transfers ist das sogenannte Evidence-based Nursing (EBN), also eine Pflege, die auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht. Behrens & Langer (2010) haben dieses Konzept in Deutschland bekannt gemacht; die folgenden Inhalte beziehen sich auf ihre Veröffentlichungen zu dem Thema.
4.1 Grundlagen
Evidence-based Nursing (EBN) wird definiert als »die Nutzung der derzeit besten wissenschaftlich belegten Erfahrungen Dritter im individuellen Arbeitsbündnis zwischen einzigartigen Pflegebedürftigen oder einzigartigem Pflegesystem und professionell Pflegenden« (Behrens & Langer, 2010, S. 25). Damit wird deutlich, dass es nicht nur darum geht, das Theoriewissen einheitlich umzusetzen. Vielmehr soll das Theoriewissen mit dem individuellen Fall verbunden werden. Es ist die Aufgabe der Pflegekraft, gemeinsam mit dem Klienten die beste Entscheidung für seine individuelle Situation zu treffen. Dabei fließen sowohl das Theoriewissen aber ebenso das Praxiswissen der Pflegefachkraft und die Bedarfe und Bedürfnisse des Klienten mit ein – das ist das Charakteristische der Pflege.
Entscheidungen zu treffen ist die tagtägliche Aufgabe einer Pflegefachkraft. Jeder Pflegehandlung geht praktisch eine Entscheidung voraus. Darüber, welche Maßnahme angewendet werden soll, wie diese umgesetzt wird oder ob möglicherweise auf eine Maßnahme verzichtet werden sollte. Selbst wenn auf Maßnahmen verzichtet wird, ist eine Entscheidung getroffen worden und muss dokumentiert werden.
Der Prozess der pflegerischen Entscheidungsfindung beginnt mit einem Beratungsanlass. Dies kann zum Beispiel ein klinischer Zustand, wie Schmerz oder eine Dekubitusgefährdung, sein. Damit überhaupt eine Entscheidung über eventuell einzuleitende Maßnahmen getroffen werden kann, muss die Pflegefachkraft das vorliegende Problem erst einmal erkennen und anerkennen, dass es sich um ein Problem handelt. Um das Problem zu erkennen, muss die Pflegefachkraft in der Lage sein, relevante Zustände zu beurteilen. Die pflegerischen Assessments dienen ihr dabei als Hilfsmittel. Darüber hinaus sind Anlässe, die einer Entscheidung bedürfen, auch als solche anzuerkennen. Wenn ein Klient z. B. Schmerzen äußert und die Pflegefachkraft dem keinen Glauben schenkt, wird das Problem immer wieder auftreten, solange keine Entscheidung über eine Lösung getroffen wird. Ist ein Problem erkannt, wird es zunächst definiert und es werden die Ziele festgelegt. Im nächsten Schritt sucht die Pflegefachkraft nach möglichen Handlungsalternativen. Dazu gehört auch das Heranziehen von theoretischem Wissen. In diesem Schritt kann es notwendig werden, zur Problemerkennung zurückzugehen, um das Problem neu zu definieren oder die Ziele neu festzulegen. Unter Umständen muss hier mit dem ersten Schritt begonnen werden. Wurden aber mögliche Alternativen ausgemacht, gilt es im nächsten Schritt eine Entscheidung zu treffen. Dabei ist entscheidend, wie die einzelnen möglichen Maßnahmen bewertet wurden, d. h. wie erfolgversprechend sie im Hinblick auf das erwartete Ergebnis sind. Dann werden die gewählten Maßnahmen wie vereinbart umgesetzt. Zum Abschluss des Prozesses erfolgt eine Bewertung der Maßnahmen hinsichtlich der Erreichung der vorher gesteckten Ziele ( Abb. 4.1).
Die Schwierigkeit bei der Entscheidungsfindung liegt darin, dass der Erfolg einer Maßnahme nie vorausgesehen werden kann. Hier kommt erschwerend hinzu, dass in einer Disziplin wie der Pflege, in der der Umgang mit Menschen im Mittelpunkt steht, häufig Einflüsse auftreten, die das Ergebnis beeinflussen können. Darüber hinaus müssen viele Entscheidungen in der Pflege in relativ kurzer Zeit getroffen werden.
Abb. 4.1: Das Pflegemodell – pflegerische Entscheidungen als Phase pflegerischer Problemlösungen (Behrens & Langer, 2010, S. 32)
4.2 Prozess
Die Abbildung 4.1 veranschaulicht den Prozess des EBN. Im Zentrum des Prozesses steht das individuelle Arbeitsbündnis zwischen Pflegefachkraft und Klienten, in dessen Rahmen Entscheidungen getroffen werden. Die Entscheidungsfindung, im Sinne des EBN, wird von drei verschiedenen Komponenten beeinflusst: die externe Evidenz, die interne Evidenz und die ökonomischen Anreize und Vorschriften. Bei der externen Evidenz handelt es sich um jenes theoretische Wissen, welches auch in den Expertenstandards und in den Leitlinien abgebildet ist. Dieses Wissen wird in erster Linie durch Forschung gewonnen. Das interne Wissen hingegen bezeichnet die Überzeugungen von Pflegefachkraft und Klient. Es umfasst ihre persönlichen Erfahrungen sowie individuell-biografische Zielsetzungen und die individuellen Diagnosen. Vorschriften, Leitlinien, Richtlinien und gesetzliche Regelungen bilden die ökonomischen Anreize und Vorschriften, die im Rahmen des EBN-Prozesses eingehalten werden müssen.
Betrachtet man beide Formen der Evidenz mit Bezug auf die Pflegepraxis, so wird deutlich, dass ohne eine interne Evidenz, ohne das Handeln der Pflegefachkraft in der individuellen Situation, keine praktische Pflege stattfinden kann. Würde man sich gänzlich auf die externe Evidenz verlassen, müssten sich die Klienten in immer gleich bleibende Kategorien einteilen lassen, um nach einem immer gleichen Schema behandelt zu werden – ein solches Szenario ist aber bekanntlich nicht möglich.
Ohne die externe Evidenz würde die Pflegepraxis jedoch Interventionen durchführen, die dem Klienten nicht nützen oder ihn u. U. sogar schädigen können. Es sind folglich beide Komponenten – sowohl die externe als auch die interne Evidenz – unerlässlich für eine evidenzbasierte Pflege (Behrens & Langer, 2010). Kommt es in der Pflegepraxis zu einer Situation, die eine Entscheidung erfordert, hat die Pflegefachkraft die Aufgabe, aus ihrem Arbeitsbündnis mit dem Klienten heraus, zum einen nach externer Evidenz zu suchen. Diese findet sie z. B. in Expertenstandards oder Leitlinien. Darüber hinaus hat sie die Möglichkeit, durch eine eigene Recherche Literatur ausfindig zu machen, indem sie medizinische Datenbanken (z. B. Medline, zu finden unter http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed) oder Fachzeitschriften durchsucht. Diese Vorgehensweise erfordert allerdings gewisse Kompetenzen, um relevante Quellen zu finden und deren Inhalte interpretieren zu können. Gleichzeitig lässt die Pflegefachkraft die interne Evidenz in die Entscheidung einfließen. Es kann z. B. vorkommen, dass die Erkenntnisse aus der externen Evidenz nicht ohne weiteres auf einen Klienten anwendbar sind, weil sein Zustand von dem »Normalfall« abweicht. Wenn z. B. ein dekubitusgefährdeter Klient unter großen Schmerzen bei Bewegung leidet, muss unter Umständen bis zur Schmerzkontrolle auf eine Bewegungsförderung verzichtet werden. Auch die persönliche Erfahrung der Pflegefachkraft kann sich auf die Entscheidung auswirken. Sie verfügt über eine gewisse praktische Erfahrung, die ihr helfen kann, die Entscheidung...