II. Was verstehen wir unter «Gott»?
1. Der monotheistische Gottesbegriff
Jede Erörterung von Argumenten in bezug auf die Existenz Gottes setzt voraus, daß man ein gewisses Verständnis davon hat, was das Wort «Gott» bedeutet. Denn es gilt generell: Man kann sich nicht sinnvollerweise Gedanken machen oder Argumente prüfen über die Existenz eines Gegenstandes oder eines Wesens, von dem man sich nicht zunächst einen Begriff gebildet hat. So muß man, um ein Beispiel anzuführen, sich erst einmal klarmachen, was man unter einem «Yeti» (einem offenbar sehr ungewöhnlichen Wesen, das in den Hochgebirgsregionen Zentralasiens leben soll) überhaupt verstehen will, bevor man ernsthaft damit beginnen kann, das Für und Wider der Existenz des Yeti zu erörtern.
Das heißt nicht, daß bereits in die Definition des Begriffs sämtliche Eigenschaften eingehen müssen, die man dem betreffenden Wesen, sofern man dieses Wesen für existent hält, letztlich zuschreiben möchte. Es heißt aber, daß in die Definition jedenfalls einige charakteristische Eigenschaften dieses Wesens eingehen müssen – also einige Eigenschaften, ohne deren Kenntnis man dieses Wesen überhaupt nicht als das, was es im Unterschied zu anderen Wesen ist, identifizieren kann.
Wie wollen wir also im Kontext der Erörterungen dieses Buches das Wort «Gott» verstehen? In der Geschichte der verschiedenen Religionen wie auch in der Geschichte der Philosophie gibt es eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Auffassungen und Definitionen des Gottesbegriffs. Ungeachtet dessen werde ich in dieser Abhandlung einzig von jenem Gottesbegriff ausgehen, der die drei großen monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam) gemeinsam kennzeichnet. Denn dieser Gottesbegriff bestimmt nicht nur die religiöse Tradition unserer eigenen, abendländischen Gesellschaft. Er steht auch im Zentrum der philosophischen Diskussion der Gottesfrage, wie sie seit dem Mittelalter im Abendland geführt wird. Wir wollen diesen Gottesbegriff als den «monotheistischen» oder einfach «theistischen» bezeichnen.
Nach theistischem Verständnis ist Gott das einzige, ewige, personale und körperlose, höchst vollkommene Wesen, das die Welt erschaffen hat sowie erhält und lenkt. (Siehe auch Swinburne, S. 16ff., und Mackie, S. 9ff.) Gott ist also durch die Summe der folgenden sechs Eigenschaften oder Merkmale definiert: 1. als einzig; 2. als ewig existent; 3. als körperlose Person; 4. als uneingeschränkt vollkommen; 5. als Ursprung der Welt; 6. als Erhalter und Lenker der Welt. Aus dieser Definition ergibt sich: Wenn ein Wesen existiert, das diese sechs Merkmale besitzt, dann existiert Gott. Denjenigen, der an die Existenz Gottes glaubt, wollen wir als «Theisten», denjenigen, der nicht an die Existenz Gottes glaubt, als «Atheisten» bezeichnen. Zu definieren hat den Gottesbegriff der Theist.
Es könnte sich im Lauf unserer Untersuchung herausstellen, daß es zwar keine ausreichenden Argumente für die Existenz Gottes im theistischen Vollsinn des Wortes «Gott» gibt, daß es gleichwohl aber ausreichende Argumente für die Existenz eines Wesens gibt, das immerhin durch einige der genannten sechs Merkmale charakterisiert ist. So wäre es zum Beispiel denkbar, daß es sich als wohlbegründet erweist, die Existenz eines Wesens mit den Merkmalen 1, 2 und 5 anzunehmen, ohne daß für dieses Wesen auch die Merkmale 3, 4 und 6 belegbar sind. In diesem Fall wäre zwar eine einzige, ewig existente Weltursache, nicht aber der personale, monotheistisch verstandene Gott der genannten Weltreligionen Gegenstand unserer Erkenntnis. Es würde offenbleiben, ob die ewige Weltursache, die wir erkennen können, auch die übrigen genannten Eigenschaften besitzt und insofern mit «Gott» identisch ist oder nicht. Auch ein solches Ergebnis wäre für unser religiöses Weltbild sicher von Bedeutung. Es läge jedoch außerhalb der zentralen Fragestellung dieses Buches.
Jedes reale Sein, das zumindest eines der genannten sechs Merkmale Gottes besitzt, wollen wir der deutlichen Abgrenzung halber – anstatt als «Gott» – als ein «göttliches Sein» oder ein «göttliches Wesen» bezeichnen. Ob ein bestimmtes göttliches Wesen, für dessen Existenz es gute Argumente gibt, in Wirklichkeit nicht auch noch die übrigen Merkmale Gottes besitzt, ist danach eine völlig offene Frage. Es ist ein häufig anzutreffender, jedoch eindeutiger Fehlschluß, aus dem Argument für die Existenz eines göttlichen Wesens (im Sinn einiger der sechs Merkmale) automatisch auf die Existenz Gottes (im Sinn aller der sechs Merkmale) zu schließen. Ebenso verfehlt wäre es allerdings, aus Argumenten für die Existenz eines bestimmten göttlichen Wesens einfach den Schluß zu ziehen, daß dieses göttliche Wesen nicht gleichzeitig auch die übrigen Merkmale Gottes besitzen könne und daß insofern die Existenz Gottes widerlegt sei.
Die obige Definition des Gottesbegriffs im theistischen Sinn schließt nicht aus, daß der so verstandene Gott sich möglicherweise auch wie folgt beschreiben läßt: als «das eigentliche Sein», «das Absolute», «das Transzendente» oder «das Unendliche». Entscheidend ist in diesem Zusammenhang: Derartige Beschreibungen allein können den Gottesbegriff, wie wir ihn verstehen wollen, jedenfalls nicht adäquat definieren. Denn sie sind nicht nur als solche höchst vage und bedürfen näherer Erläuterung. Sie können auch, für sich genommen, jene Merkmale, die für das Gottesverständnis der monotheistischen Weltreligionen zentral sind, in ihrer Bedeutung nicht hinreichend erfassen. Daß allerdings auch diese sechs Merkmale – als Merkmale Gottes – gewisse Verständnisprobleme mit sich bringen, wird sich im Lauf der Abhandlung noch zeigen.
Nicht wenige moderne Theologen tendieren dazu, auf jede positive Definition des Gottesbegriffs zu verzichten, ja sogar jede Nachfrage nach einer solchen Definition für abwegig zu erklären. Gott lasse sich, so meinen sie, nicht anders charakterisieren als «das Unbegreifliche» (oder ähnlich), also als eine Realität, die in keinen menschlichen Begriffen – auch nicht annähernd oder analog verstanden – erfaßbar ist. Insofern sei der Gottesbegriff, sofern überhaupt, nur auf eine rein negative Weise bestimmbar: All jene Merkmale, die uns aus unserer gewöhnlichen (ob alltäglichen oder wissenschaftlichen) Welterfahrung zumindest im Kern vertraut sind, träfen auf Gott gerade nicht zu.
Dies ist gewiß ein denkmöglicher Ansatz zum Verständnis Gottes. Man kann schließlich niemandem verbieten, den Gottesbegriff auf seine Weise zu verstehen bzw. zu definieren. Nur sollte man den folgenden unabweisbaren Konsequenzen dieses Ansatzes offen ins Auge sehen.
1. Ein rein negativ definierter «Gott» ist keinesfalls identisch mit jenem «Gott», wie er in den monotheistischen Religionen traditionell verstanden wird. Das bedeutet: Wenn ein so definierter Gott existiert, dann sagt das darüber, ob auch der Gott des Monotheismus existiert, nicht das geringste aus. Ja, es sagt nicht einmal darüber etwas aus, ob irgendein «göttliches Wesen» im Sinne eines oder mehrerer der sechs Merkmale dieses Gottes existiert.
2. Wenn Gott, verstanden als «das Unbegreifliche», existiert, dann heißt das nicht mehr und nicht weniger, als daß außer jener Realität, wie sie unserem Verstehen und Begreifen jedenfalls im Prinzip zugänglich ist, noch irgend etwas existiert, das unserem Verstehen und Begreifen im Prinzip nicht zugänglich ist, oder, salopp formuliert, daß mehr existiert, als «unsere Schulweisheit sich träumt». Die Existenz eines solchen «Etwas» kann für uns Menschen jedoch von keinem nennenswerten theoretischen und von überhaupt keinem praktischen Interesse sein. Denn selbst wenn wir gute Gründe dafür haben sollten, an die Existenz eines solchen «Etwas», das unbegreiflich ist, jenseits der gewöhnlichen Realität zu glauben, so geht an folgender Erkenntnis doch kein Weg vorbei: Zum einen können wir den Glauben an dieses «Etwas», das sich positiv überhaupt nicht charakterisieren läßt, in keinerlei Beziehung setzen zu irgendwelchen anderen unserer Erkenntnisse oder Annahmen über die Wirklichkeit. Und zum anderen wäre es völlig unsinnig, diesem «Etwas», das ja ebenso etwas Lebloses wie etwas Lebendes und im letzteren Fall ebenso von Grund auf böse wie von Grund auf gut sein könnte, so wie dem Gott des Monotheismus unsere Verehrung zu erweisen, unser Vertrauen entgegenzubringen oder unsere Bitten vorzutragen.
Aus alledem kann man nur folgern: Über die Existenz eines «Gottes», der ausschließlich als «unbegreiflich», «unerforschlich» oder «ganz anders» verstanden wird, kann und sollte man konsequenterweise keine weiteren Worte verlieren. (Vgl. hierzu auch S. 117f.)
2. Das...