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HUMANISMUS UND RENAISSANCE (1300–1520)
Bis ins 14. Jahrhundert schrieb und sprach man in ganz Europa eine breite Palette von Varietäten des Lateinischen, die sich im Laufe der Zeit relativ unkontrolliert aus dem antiken Latein entwickelt hatten und die man, wie bereits erwähnt, unter der etwas irreführenden Bezeichnung Mittellatein zusammenfasst. Gegen Ende des Mittelalters begann sich dieser Zustand in Italien zu ändern.
Der größere kulturgeschichtliche Rahmen, in dem sich die Erneuerung der Latinität vollzog, lässt sich mit dem Begriffspaar «Renaissance» und «Humanismus» umreißen. Beide Termini sind nicht zeitgenössisch, sondern modern, und es ist nicht immer klar, wie man sich ihre Beziehung zueinander vorstellen soll, aber mit Augenmaß verwendet sind sie trotzdem sinnvoll. Die italienische Renaissance lässt sich grob als programmatischer, umfassender Rückgriff auf die Antike – zunächst vor allem auf die römische – verstehen, der von der Politik über die Literatur bis zur Kunst reichte, ein neues Menschenbild implizierte und eine Verbesserung der Verhältnisse der Gegenwart anstrebte. «Humanismus» bezeichnet traditionell die sprachbezogenen, philologischen und literarischen Aspekte dieser Bewegung. Damit kommen wir der Frage nach dem richtigen Latein schon ganz nahe.[1]
Die Wiederentdeckung der antiken Latinität
Weshalb aber wurde diese Frage, die man sich im Mittelalter selten gestellt hatte, auf einmal so wichtig? Dass menschliche Sprache und menschliches Denken, oratio und ratio, eng miteinander verbunden sind, war schon in der Antike Allgemeingut. Cicero hatte diese Idee im Begriff der humanitas verdichtet, dessen Wesen gerade in seinem Changieren zwischen sprachlich-literarischer Bildung und wahrer Menschlichkeit liegt. Die Vorstellung wird ebenso wie manches andere, was in diesem Abschnitt zur Sprache kommt, später im Zusammenhang mit der neulateinischen pädagogischen Literatur noch etwas genauer zu diskutieren sein. Für den Augenblick ist entscheidend, dass sie seit Petrarca stark ins Bewusstsein der Intellektuellen trat und dabei in einem ganz bestimmten Sinne konkretisiert und verengt wurde: je besser das Latein, desto besser der Mensch.
Hinzu kam noch etwas Weiteres: Es setzte sich die Erkenntnis durch, dass Latein nicht, wie noch Dante und Petrarca in mittelalterlicher Tradition geglaubt hatten, seit jeher eine Kunstsprache gewesen war, die man in der Antike ebenso mühsam hatte erlernen müssen wie in der Gegenwart. Solange man an dieser Ansicht festgehalten hatte, waren alle, die sich des Lateins bedienten, als prinzipiell gleichberechtigt erschienen; keiner war in der privilegierten Situation eines Muttersprachlers gewesen, und jedem war es grundsätzlich freigestanden, die Sprache nach seinen eigenen Bedürfnissen weiterzuentwickeln. Sobald man jedoch erkannte, dass die alten Römer lateinische native speakers gewesen waren, änderte sich die Situation grundlegend: Nun erschien ihr Latein als das Latein par excellence, als das große Vorbild, dem die Nachgeborenen nachzustreben hatten.[2]
Bestärkt und gleichzeitig präzisiert wurde diese Vorstellung durch die Wiederentdeckung der antiken Rhetorik, der Lehre von der kunstgerechten, wirkungsvollen Rede. Zwar hatte auch das Mittelalter Teile der einschlägigen römischen Fachliteratur gekannt und verwendet, an erster Stelle die pseudociceronische Rhetorik an Herennius. Zudem wurden, zumindest in Italien, neue, auf bestimmte Textsorten zugeschnittene Handbücher geschrieben: artes dictaminis lehrten das Verfassen von – oft laut zu verlesenden – Briefen, artes arengandi die Rede vor dem Volk, artes predicandi die Predigt. Diese Lehren wurden auch praktisch umgesetzt: Anders als oft angenommen, hatte die öffentliche Rede im Mittelalter durchaus ihren Platz. Vom System der antiken Rhetorik als Ganzem besaß man jedoch keine klare Vorstellung.
Das änderte sich, als 1416 und 1421 mit Quintilians vollständiger Institutio oratoria («Die Ausbildung zum Redner») bzw. Ciceros De oratore («Der Redner») die beiden bedeutendsten römischen Lehrschriften und einige Jahrzehnte später auch griechische Texte wie die Rhetorik des Aristoteles und das sogenannte Corpus Hermogenianum (2. Jahrhundert n. Chr.) zum Vorschein kamen. Das mittelalterliche Schrifttum wurde nun zurückgedrängt, erste humanistische Lehrbücher erschienen und die Rhetorik avancierte zu einem zentralen Gegenstand humanistischer Bildung. In der Folge entstand eine neue Beredsamkeit, deren Formen von politischen Reden über Gelegenheitsreden zu Amtsantritten, Geburten, Hochzeiten, Todesfällen usw., akademische Ansprachen, geistliche Reden und Predigten bis hin zu Deklamationen, paradoxen Lobreden (auf Gegenstände wie Fliegen oder Staub) und Ansprachen in Geschichtswerken reichten und die bis ins 18. und 19. Jahrhundert in Wort und Schrift präsent blieb. Aber nicht nur das: Bis zu einem gewissen Grad wurden alle Gattungen der neulateinischen Literatur in Aufbau, Argumentation und Stil von den Prinzipien durchtränkt, die den Autoren durch den Rhetorikunterricht bereits in jungen Jahren in Fleisch und Blut übergegangen waren.[3]
Die Neuentdeckung der römischen Rhetorik hatte aber noch eine weitere bedeutsame Folge: Cicero, der ‹Erfinder› der humanitas, Autor von De oratore und Held von Quintilians Institutio, eroberte unter den nachahmungswürdigen antiken Autoren rasch den ersten Rang und wurde zu dem sprachlich-stilistischen Vorbild der frühen Neuzeit schlechthin. In zweiter Linie kamen nach Cicero solche Schriftsteller zum Zuge, die ihm sprachlich und zeitlich nahestanden: Das ist der Keim unserer heutigen, auf die Jahrzehnte vor und nach der Zeitwende zentrierten Vorstellung von der römischen Klassik.[4] Um diese Autoren begann man sich nun intensiv zu bemühen: Man suchte gezielt und erfolgreich nach Handschriften bislang verschollener Werke, versuchte altbekannte und neuentdeckte Texte von den vielen Abschreibefehlern zu reinigen, die sich im Laufe der Jahrhunderte eingeschlichen hatten, und verfasste Kommentare, um den Sinn schwieriger Passagen aufzuhellen.[5] Vor allem jedoch strengte man sich an, den antiken Sprachgebrauch besser zu verstehen, und legte die Beobachtungen, die man machte, in neuen Lexika und – was früheren Jahrhunderten besonders seltsam erschienen wäre – idiomatischen Wörterbüchern nieder.[6] Aufbauend auf den Ergebnissen dieser Forschungen versuchte man dann, Sprache und Stil der altrömischen Autoritäten im eigenen Reden und Schreiben nachzuahmen. Die Idee der literarischen imitatio, die man damit aufgriff, entstammte ihrerseits den antiken Klassikern.[7] Die Geschichte der neulateinischen Literatur war so von Anfang an eng mit derjenigen der Philologie verbunden.
Wenn zuvor davon die Rede war, Cicero und die Autoren in seinem Umfeld seien zu sprachlichen Vorbildern geworden, so versteckt sich in diesem scheinbar harmlosen Satz ein Problem, das bald virulent werden sollte: Wen genau sollte man in den illustren Kreis derjenigen Klassiker aufnehmen, die in Sprach- und Stilfragen als Richtschnur dienen konnten? In der Dichtung empfand man diese Frage nicht als besonders drängend: Vergil und Ovid nahmen dort schon seit dem Mittelalter eine überragende Position ein, doch abgesehen davon besaß jede Gattung ihre eigene stilistische Tradition, und aus den meisten waren so wenige Autoren erhalten, dass die Auswahl nicht groß war. Lyrik im engeren Sinne des Wortes war etwa per definitionem horazische Lyrik.
In der Prosa dagegen, wo weitaus mehr Möglichkeiten zur Wahl standen, waren die modellhaften Autoren und die richtige imitatio bald heiß umstritten – eine Debatte, die sich schließlich zum sogenannten Ciceronianismusstreit zuspitzte. Petrarca hatte die Sache noch recht entspannt gesehen, ähnlich wie etwa Seneca oder Quintilian in der Antike: Nec huius stilum aut illius, sed unum nostrum conflatum ex pluribus, nicht den Stil dieses oder jenes Autors, sondern einen eigenen, den er selbst aus mehreren gemischt habe, wolle er verwenden, teilte...