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E-Book

Die Frau, die nicht lieben wollte

Und andere wahre Geschichten über das Unbewusste

AutorStephen Grosz
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783104028859
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Der weltbekannte Psychoanalytiker Stephen Grosz offenbart in seinen literarisch verdichteten Fallgeschichten »Die Frau, die nicht lieben wollte. Und andere wahre Geschichten über das Unbewusste« die unbewussten Beweggründe unseres alltäglichen Handelns. Wie Iris Berben sagt, »da geht es um Liebe und Lügen, Veränderungen und Anfänge, also das ganze Spektrum des Lebens. Das ist anrührend und merkwürdig zugleich.« Grosz hat über 50 000 Stunden Therapiegespräche geführt und nun die Essenz gezogen: Er erzählt von Angst, Liebe, Leidenschaft und Trauer und wie wir Menschen uns verlieren und verfehlen können. Doch die Kraft der Worte helfen uns auch, uns wiederzufinden. Jedes Mal wenn Amanda nach Hause kommt, glaubt sie, dass ihre Wohnung in die Luft fliegt. Graham langweilt wirklich jeden in kürzester Zeit. Daniel verliert seinen Geldbeutel und will es nicht wahrhaben: In den Merkwürdigkeiten unseres Verhaltens zeigt sich das Unbewusste. Dort liegen unsere Probleme verborgen. »Diese brillante Mischung aus beharrlicher Detektivarbeit, bemerkenswertem Mitgefühl und reinster, unendlicher Neugier für die Eigenheiten des menschlichen Herzens macht diese Geschichten so vollkommen fesselnd.« Sunday Times

Stephen Grosz studierte an der University of California, Berkeley, und an der Oxford University. Seit über 25 Jahren arbeitet er als Psychoanalytiker in London und lehrt am dortigen University College. Er schreibt regelmäßig für die »Financial Times«. ?Die Frau, die nicht lieben wollte? wurde in 14 Sprachen übersetzt und war mehrere Monate auf der Sunday Times Non-Fiction-Bestsellerliste.

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Leseprobe

Anfänge


Wie wir von einer Geschichte besessen sein können, die nicht erzählt werden kann


Ich möchte Ihnen eine Geschichte von einem Patienten erzählen, der mich schockiert hat.

Zu Beginn meiner Tätigkeit als Psychoanalytiker mietete ich mir in Hampstead ein kleines Praxiszimmer an einer breiten, baumbestandenen Straße namens Fitzjohns Avenue. Einige bekannte psychoanalytische Kliniken liegen im näheren Umkreis, und bis zum Freud-Museum sind es nur wenige Minuten Fußweg. Am Südende der Fitzjohns Avenue steht eine große Bronzestatue von Freud.

Meine Praxis war ein ruhiger, spärlich eingerichteter Raum mit einem Tisch gerade groß genug, sich Notizen zu machen und die monatlichen Rechnungen zu schreiben. Bücherregale und Akten fehlten – das Zimmer war weder zum Lesen noch zum Studieren gedacht. Und wie in den meisten Praxen war die Couch keine Couch, sondern ein Einzelbett mit harter, dunkel bezogener Matratze. Am Kopfende lag ein Daunenkissen und darauf ein weißes Leintuch, das nach jedem Patienten gewechselt wurde. Die Psychoanalytikerin, die mir das Zimmer vermietete, hatte vor vielen Jahren ein Werk afrikanischer Stammeskunst an die Wand gehängt. Sie benutzte das Zimmer morgens, ich am Nachmittag, deshalb war es so unpersönlich, fast asketisch eingerichtet.

Beim ambulanten Dienst der forensischen Psychiatrie an der Portman Clinic hatte ich einen Teilzeitjob. Patienten, die ans Portman überwiesen werden, haben meist das Gesetz gebrochen und gewalttätige oder sexuelle Verbrechen begangen. Meine Patienten gehörten zu allen Altersgruppen, und ich schrieb so manche Gerichtsvorlage. Zeitgleich baute ich meine private Praxis auf. Der Plan lautete, die Vormittage der klinischen Arbeit zu widmen, während ich hoffte, am Nachmittag meine eigenen Patienten sehen zu können, die nicht ganz so extreme und drängende Probleme hatten.

Wie sich dann herausstellte, erwiesen sich auch meine ersten privaten Patienten als eine ziemliche Herausforderung. Im Rückblick kann ich viele Gründe dafür nennen, warum diese ersten Fälle so schwierig waren. Teils lag dies sicher an meiner eigenen Unerfahrenheit. Ich glaube, es braucht Zeit – jedenfalls habe ich Zeit gebraucht –, um zu erkennen, wie verschieden die Menschen sind. Und vermutlich hat es auch nicht geholfen, dass einige Patienten von etablierten Psychiatern und Psychoanalytikern überwiesen wurden, die mir helfen wollten, Fuß zu fassen. Oft überweisen Ärzte nämlich jene Patienten an jüngere Analysten, die sie selbst nicht behandeln oder anderswo unterbringen können. Und so plagte ich mich ab mit:

Miss A., einer zwanzigjährigen Studentin. Obwohl der überweisende Analytiker bei Miss A. diagnostiziert hatte, sie leide »unter unkontrollierbaren Weinkrämpfen, Depressionen und anhaltenden Gefühlen der Unzulänglichkeit«, trat sie mir gegenüber als eine fröhliche, junge Frau auf, die felsenfest davon überzeugt war, keine Behandlung zu brauchen. Mit der Zeit erfuhr ich jedoch, dass sie unter Bulimie litt und sich zwanghaft regelmäßig schnitt. Da sie nur sporadisch zu ihren Sitzungen gekommen war, hatten bereits zwei Therapeuten die Behandlung aufgegeben.

Professor B., einem vierzigjährigen Wissenschaftler, verheiratet, zwei Kinder. Ihm war kürzlich vorgeworfen worden, das Werk eines Rivalen plagiiert zu haben. Der Vizekanzler der Universität hatte die Angelegenheit an den Disziplinarausschuss weitergeleitet. Sollte sich der Vorwurf als berechtigt erweisen – und Professor B. gestand, dass dies durchaus der Fall sein könne –, sollte er vermutlich die Gelegenheit erhalten, ohne Aufsehen den Rücktritt einreichen zu dürfen. Sein Arzt hatte ihm Antidepressiva verschrieben und mich gebeten, mit ihm eine Analyse zu beginnen. Professor B.s Zustand wechselte abrupt zwischen hektischen Triumphgefühlen – so mokierte er sich etwa über seine Kollegen im Disziplinarausschuss – und völliger Niedergeschlagenheit.

Mrs C.; ihr gehörte ein kleines Restaurant, das sie zusammen mit ihrem Mann führte; zudem war sie Mutter von drei Kindern. Sie suchte Hilfe, da sie sich ständig Sorgen machte und unter Panikattacken litt. Bei unserem ersten Treffen erzählte sie, dass es ihr schwerfiel, »ehrlich zu sein«, doch erst nach mehreren Monaten Therapie vertraute sie mir an, dass sie eine Affäre mit dem Kindermädchen hatte, mit jener Frau also, die seit sieben Jahren für die Familie arbeitete und kurz nach der Geburt des ersten Kindes eingestellt worden war. Entgegen einer Übereinkunft mit ihrem Gatten versuchte Mrs C. nun insgeheim, wieder schwanger zu werden, da sie den Gedanken, ihr Kindermädchen zu verlieren, nicht ertragen konnte.

Ein weiterer Patient aus dieser Anfangszeit war ein junger Mann namens Peter, der in einem nahe gelegenen großen Psychiatriehospital behandelt wurde. Drei Monate, ehe wir uns kennenlernten, versteckte sich Peter in einem Schrank der Bezirkskirche und versuchte sich umzubringen, indem er eine Überdosis diverser Medikamente nahm und sich dann die Pulsadern aufschnitt. Außerdem stach er sich mit einem kleinen Messer in den Hals, in Brust und Arme. Die Putzfrau entdeckte ihn. Trotz ihrer Angst hielt sie ihn im Arm, bis der Krankenwagen kam. »Wer hat das getan?«, fragte sie ihn. »Sagen Sie mir, wer hat das getan?«

Die Fachpsychiaterin im Krankenhaus wollte wissen, ob ich mich fünfmal die Woche mit Peter treffen könne. Sie meinte, eine Therapiestunde täglich sowie wöchentlich eine Sitzung mit ihr böten Peter die beste Chance, gesund zu werden und zu seiner Verlobten und seiner Arbeit zurückzukehren.

Peter war siebenundzwanzig und arbeitete als Statiker. Ehe man ihn ins Krankenhaus einwies, hatte er sich mit seiner Verlobten eine kleine Wohnung außerhalb Londons gekauft. Bei der Arbeit gab es manche Schwierigkeiten, und er machte sich große Sorgen ums Geld, doch nichts davon schien seinen gewalttätigen Angriff auf sich selbst erklären zu können. Teil meiner Arbeit würde es also sein, gemeinsam mit Peter die Ursachen für seinen Selbstmordversuch herauszufinden, denn solange wir die Kräfte nicht verstanden, die ihn zu diesem Angriff auf sich selbst verleitet hatten, bestand Grund zu der Annahme, dass es erneut dazu kommen würde.

Peter war groß und schlaksig, ließ aber, wie so manche Depressive, die Schultern hängen und hielt den Kopf gesenkt. Er benahm sich zudem entsprechend, redete stockend und mied häufigen Blickkontakt. Lag er erst einmal auf der Couch, bewegte er sich kaum mehr.

Peter erschien zu all seinen Sitzungen und kam auch fast nie zu spät. Nach mehreren Monaten wurde er aus dem Krankenhaus entlassen und konnte in sein Leben zurückkehren. Nur spürte ich bei unseren Sitzungen immer häufiger, dass er an einen Ort verschwand, den ich nicht aufspüren und schon gar nicht verstehen konnte. »Sie sind lange still gewesen – können Sie mir sagen, woran Sie gedacht haben?«, fragte ich ihn während einer Sitzung.

»An Ferien in Devon – damals war ich noch ein Kind«, antwortete er.

Es folgte eine lange Pause. Könne er mir nicht mehr erzählen? Er erwiderte, er denke an nichts Bestimmtes, nur ans Alleinsein.

Mir kam der Gedanke, dass er sich von mir fort wünschte, dass er Ferien von der Analyse haben wollte, und das sagte ich ihm auch. »Könnte sein«, erwiderte er.

Es war, als versuchte Peter sich vor meiner Zudringlichkeit zu schützen, indem er einerseits die Konventionen einer Psychoanalyse einhielt – so etwa kam er pünktlich und beantwortete meine Fragen –, dies andererseits aber auf eine Weise tat, als versuchte er zu verhindern, dass sich irgendeine bedeutsame Verbindung zwischen uns entwickelte. Er schien nur wenig Hoffnung in unsere Gespräche zu setzen.

Dann erfuhr ich, dass es für Peter typisch war, Freunde zu gewinnen, um sich später gegen sie zu wenden. Im Berufsleben ging er ebenfalls still seiner Arbeit nach, bis er mit dem Vorgesetzten plötzlich einen Streit vom Zaun brach und kündigte. Das war bereits mehrere Male geschehen. Ich versuchte Peter mit diesen Informationen zu zeigen, dass ihm offensichtlich zwei psychologische Positionen zur Wahl standen – Mitmachen oder der radikale Bruch. Er schien mir beizupflichten, doch hatte ich nie den Eindruck, dass ihm diese Einsicht etwas bedeutete. Und bald trat das gleiche Schema auch in der Analyse zutage. Statt mitzumachen, begann Peter, sich über mich lustig zu machen. Nach einer Woche, in der es besonders heftig zuging, hörte Peter auf, zu den Sitzungen zu kommen. Ich schrieb und schlug ihm vor, mit mir darüber zu reden, warum er die Behandlung abbreche, erhielt aber keine Antwort.

Ich kontaktierte die Psychiaterin, die mir erzählte, Peter habe auch aufgehört, zu ihr zu kommen.

Zwei Monate später traf ein Brief von Peters Verlobter ein, die mir mitteilte, dass Peter sich das Leben genommen hatte. Sie schrieb, Peter sei im Monat vor seinem Tod zunehmend verstört und in sich gekehrt gewesen. Die Beerdigung im Krematorium in West-London hatte bereits vor einer Woche stattgefunden. Sie schrieb auch, dass sie dankbar für meine Bemühungen um ihn sei. Ich schickte ihr einen Kondolenzbrief und informierte Peters Psychiaterin.

Ich hatte gewusst, dass Peter ein Risikopatient war. Als ich ihn annahm, zog ich einen Supervisor hinzu, einen erfahrenen Psychoanalytiker, der ein Buch über Selbstmord verfasst hatte. Wiederholt wies er mich auf die vielerlei Arten hin, in denen Peter den Tod zu idealisieren schien. Nun ging ich erneut zu ihm, da ich mich fragte, ob ich etwas übersehen hatte. Mein Supervisor versuchte, mich zu beruhigen. »Wer weiß?«, sagte er. »Vielleicht hat ihn deine Analyse im letzten Jahr vom Selbstmord...

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