Lob der Logik
Eigentlich könnte der Leser nun erwarten, dass ich ihm meine philosophischen Denkarten und Überzeugungen mitteile. Aber ich muss ihn enttäuschen. Ich bin kein Philosoph und will auch keiner sein. Nicht, dass ich einen klassischen Scherz für zutreffend halte: «Was ist ein Philosoph? Jemand, der einem, wenn man ihm eine Frage stellt, so antwortet, dass man die eigene Frage nicht mehr versteht.» (Wirklichkeitsnäher scheint mir meine Definition des Theologen zu sein, auf die ich noch zurückkommen werde: «Ein Theologe ist jemand, der sein ganzes Leben lang über das schreibt und spricht, was er als unsagbar bezeichnet.») Außer wenn ich mir die Definition zu eigen mache, die der Dichter Paul Valéry in einer Rede vor Berufsphilosophen gegeben hat: («Die Philosophie ist eine Übung des Denkens über sich selbst.»)
Die Metaphysik liegt mir fern. Nicht weil ich Atheist bin, denn wie viele Autoren von metaphysischen Abhandlungen sind Atheisten! Nein, es geht um meine Unfähigkeit, mich mit dem Sein schlechthin zu befassen. Meine Sympathie gehört dem als jüdischer Litauer geborenen französischen Philosophen Emmanuel Levinas, weil er in Éthique et infini geschrieben hat: «Il faut comprendre que la moralité ne vient pas comme une couche secondaire … La moralité a une portée indépendante et préliminaire. La philosophie première est une éthique.» («Man soll verstehen, dass die Moral nicht daherkommt wie eine nebensächliche Schicht … Die Moral hat eine unabhängige und grundlegende Reichweite. Die Urphilosophie, die das Fundament darstellt, ist eine Ethik.»)
Die Ethik bedingt natürlich die Notwendigkeit, die Realität wenigstens einigermaßen zu kennen, die man bewertet. Das ist bei den Philosophen nicht gerade immer der Fall. Manche philosophieren aufgrund von abgrundtiefer Unkenntnis der Dinge, über die sie sich äußern, in voller Verachtung für die Laien, die eben keine Philosophen sind. In Deutschland scheint mir dies für Peter Sloterdijk zuzutreffen.
Im Namen der Ethik möchte ich auch bei dem Philosophen eine gewisse Übereinstimmung zwischen seiner Philosophie und seiner Praxis feststellen können. Nicht in seinem Privatleben. Mir ist ziemlich egal, dass Albert Camus kurz vor seinem frühen Tod einen beinahe gleichen Brief an drei Frauen mit Liebesbezeugungen schrieb. Mir ist nicht egal, dass Jean-Paul Sartre noch 1954 schreiben konnte: «La liberté de critique est totale en URSS» («Die Freiheit der Kritik ist in der Sowjetunion unbegrenzt»), und 1964: «Die Sowjetunion ist das einzige große Land, wo das Wort Fortschritt noch einen Sinn hat.» Es war das Jahr, in dem er den Nobelpreis ablehnte, mit einer unwahrscheinlichen Begründung: «Es ist bedauerlich, dass man den Preis an Pasternak verliehen hat und nicht an Scholochow und dass das einzige preisgekrönte Werk ein Werk ist, das im Ausland erschienen und in seiner Heimat verboten ist.» (Scholochows Schriften triefen von Lobeshymnen auf Stalin …) Heideggers und seiner Schüler Versuche, politische Stellungnahmen als unwesentlich darzustellen, haben mich nie überzeugt. Auch wenn ich ebenso wenig von denen überzeugt wurde, die beweisen wollten, dass die Philosophie von Sein und Zeit im Kern nationalsozialistisch sei. Es geht mir um ein Minimum an Kohärenz zwischen Denken und Handeln. Ich glaube sie bei Spinoza zu sehen sowie bei Autoren, die für Philosophen nicht als Philosophen gelten – wie Montaigne, Erasmus, Camus.
Ich habe nicht bis 2010 gewartet, um Albert Camus zu bewundern und um ihn als einen Philosophen (in meinem Sinne!) zu betrachten. Er wurde lange von den Intellektuellen verachtet und von Sartre und den Seinen so bekämpft, dass man es kaum wagen konnte, sich als sein Anhänger zu bekennen. Deutschland war in den vierziger und fünfziger Jahren das Land, in dem er am meisten anerkannt wurde, jedoch lange, vielleicht heute noch, als ein Existentialist, der neben Sartre «l’absurde» verteidigte. Sein eigentlicher Erfolg in Deutschland kam durch den Rowohlt Verlag, sodass bei den Übersetzern der Witz grassierte: L’homme révolté müsste eigentlich auf Deutsch L’homme rowohlté heißen. 2010 gab es eine Revolte auf der linken Seite, weil Präsident Sarkozy den Sarg von Camus vom südfranzösischen Lourmarin, dem Ort, an dem er am glücklichsten gewesen war, ins Pariser Panthéon überführen lassen wollte. Dieser Versuch war demagogisch, eben weil Camus inzwischen eine nationale Größe geworden war.
Für mich hatte die Bewunderung unmittelbar nach der Befreiung begonnen, als man die Widerstandszeitung Combat, die nun in Paris erschien, offen lesen durfte. Die Leitartikel von Camus waren für den Zwanzigjährigen eine schöne Verbindung von Politik und Moral, so wie es in den folgenden Jahrzehnten nie mehr vorgekommen ist. Das soll nicht heißen, dass ich mit allem einverstanden war. Auf dem Gebiet der politischen Säuberungen war er allzu unerbittlich – bis er François Mauriac recht geben musste, dem katholischen Schriftsteller (und späteren Nobelpreisträger für Literatur im Jahr 1952), der sich für mehr Nachsicht eingesetzt hatte. Als ich im Oktober 1947 Combat eine Artikelreihe über die Jugend in Deutschland vorlegte, war Camus schon nicht mehr bei der Zeitung, aber es blieb für mich auch unter dem ehemaligen KZ-Häftling Claude Bourdet die Zeitung von Albert Camus. Sonst hätte ich die Bilanz meiner ersten Deutschlandreise Le Monde angeboten.
Das Buch Der Fremde habe ich oft gelesen, aber es war der große Roman Die Pest, dessen Grundeinstellung so sehr der meinen entsprach, dass mich die Häme anwiderte, mit der das Buch und dann der Nobelpreis vom intellektuellen Milieu aufgenommen wurden. Ich hatte auch 1947 einer der ersten Aufführungen von Caligula beigewohnt (mit viel Begeisterung für den jungen Gérard Philipe in der Hauptrolle) und zitiere seitdem gern den ruhigen, nüchternen Cherea, der zu Caligula sagt: «Ich wünsche zuweilen den Tod der Menschen, die ich liebe, und begehre Frauen, die zu begehren die Gesetze der Familie oder der Freundschaft mir verbieten. Wenn ich konsequent sein wollte, müsste ich dann töten oder besitzen. Aber meiner Ansicht nach haben diese verschwommenen Gedanken keine Bedeutung.» Warum ich das so häufig zitiere? Weil es bis zu einem gewissen Grad meine Abneigung gegen Freud rechtfertigt. Was nützt es, sich lange zu bemühen, Dinge, die furchtbar, aber ohne Bedeutung sind, an den Tag zu bringen? (Dazu zwei Randbemerkungen. Die erste: Ich habe nie den Ödipus-Komplex in seiner Benennung verstehen können. Ödipus wusste nicht, dass der von ihm Getötete sein Vater war, noch dass seine Frau seine Mutter war. Also haben Lust zum Vatermord und zum Beischlaf mit der Mutter nichts mit ihm zu tun! Die zweite: Wie kann man, wie so viele Intellektuelle, als Marxianer für Freud sein, für den die Familie viel wichtiger war als die Klassenzugehörigkeit? Außer dass Freud den Armen das Recht auf Psychoanalyse absprach, weil die Kur nur für die wirksam sein könne, die die Mittel hätten, sie zu bezahlen …)
Albert Camus war für mich später eine wichtige Stimme – trotz seines vielkritisierten Schweigens während des Algerienkriegs 1954 bis 1962. In seiner Nobelpreisrede sagte er, es sei das erste Mal, dass ein algerischer Schriftsteller diese Ehrung erhielt. Ihm wurde vorgeworfen, er habe sich in einem öffentlichen Gespräch darauf berufen, dass ihm die Sicherheit seiner Mutter in Algier wichtiger gewesen sei als die Gerechtigkeit. Dann wurde sein Schweigen kritisiert, als seien ihm die muslimischen Algerier gleichgültig. Man vergaß, dass er schon 1939 seine Stimme in der Presse erhoben hatte, um auf das Leiden der muslimischen, in Armut und Diskriminierung lebenden Algerier hinzuweisen. Sein Schweigen kam aus seinem Unvermögen, die beiden Lager zur Vernunft und zum Einstellen der Morde zu bringen. Auch dies trug für mich dazu bei, in gewisser Hinsicht Camus als Leitfigur beizubehalten.
Wenn schon Philosophie, dann mit einer Grundanforderung beginnen. Könnte ich in Frankreich und in Deutschland die Schul- und Universitätsprogramme diktatorisch bestimmen, so würde ich in allen Bereichen ein Lehrfach Logik einführen. Oft hat man sich lustig gemacht über die abstrusen Namen, mit denen die verschiedenen Figuren der Logik versehen waren. So zum Beispiel Molière im Bürger als Edelmann, als Monsieur Jourdain den Philosophielehrer fragt, was denn diese Logik sei, die er ihm beibringen soll. Als Antwort werden ihm völlig unverständliche Begriffe genannt wie «Celarent» oder «Baralipton». Aber ich bitte um Verständnis für meine (kurze) Sprachlosigkeit nach der Antwort eines Seminarteilnehmers, dem ich gesagt hatte: «Ihre Stellungnahme steht im Gegensatz zu dem, was Sie vorher festgestellt haben.» – «Na und?», antwortete er. Ich gab mir alle Mühe, ihm zu erklären, dass er in seinem Studium behindert würde, wenn er nicht logisch denken könne, und vor allem, dass er darunter leiden würde, unlogisch denkende und redende Diskussionspartner zu haben.
Wichtiger war und bleibt mir die einfache und doch komplizierte Geschichte, die vor falschen Syllogismen warnen soll. Christophoros sagt, alle Griechen sind Lügner. Aber er selbst ist Grieche! Also hat er gelogen, und die Griechen sind keine Lügner. Aber dann hat er die Wahrheit...