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Die getürkte Republik

Woran die Integration in Deutschland scheitert

AutorIsmail Boro
VerlagHeyne
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783641030445
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Eine Döner-Bude macht noch keine Integration!
Ghettoisierung, Arbeitslosigkeit, Jugendkriminalität ... Die Probleme vieler Türken in Deutschland sind nicht nur Folgen mangelnder Integrationsbereitschaft, sondern auch einer verfehlten Ausländerpolitik. Ismail Boro fordert endlich Konsequenz auf beiden Seiten: von den Migranten eine Entscheidung für dieses Land und seine Werte und von den Deutschen wirksame Maßnahmen statt Multikulti-Illusionen und Appellen an die deutsche Leitkultur.

Rund 3 Millionen Menschen, die aus der Türkei stammen, leben in Deutschland, doch viele von ihnen sind hier nie heimisch geworden. Mangelnde Sprachkenntnisse und Abschottung führen zur Bildung von Parallelgesellschaften. Doch weder Plädoyers für mehr Toleranz noch populistische Forderungen nach hartem Durchgreifen werden die offensichtlichen Probleme lösen. Aus der Sicht eines Deutschen mit türkischen Wurzeln forscht Ismail Boro nach den Gründen der Misere und zeigt zugleich, welch ungeahnte Ressourcen eine gelingende multikulturelle Gesellschaft freisetzen könnte. In seinem Buch skizziert er die Eckpunkte einer realistischen, auf die Zukunft gerichteten Integrationspolitik, zu der rechtspolitische Maßnahmen wie Abschiebung und Ausweisung genauso gehören wie eine engagierte Bildungs- und Sozialpolitik.

Dr. Ismail Boro, geboren 1953 in Tarsus/Türkei, promovierter Werkstoffwissenschaftler, lebt und arbeitet seit 1972 in Deutschland. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. Mit seiner Familie wurde er durch die ARD-Dokumentation »Schwarzwaldhaus 1902« bundesweit bekannt. Ismail Boro lebt in Berlin.

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Leseprobe
3. Die EU und die Türken
Die Türkei möchte schon seit Langem Mitglied der Europäischen Union werden. Innerhalb der EU gibt es Befürworter und Gegner eines Beitritts. Die, die dafür sind, haben ihre Argumente. Die, die dagegen sind, auch. All diesen Argumenten ist gemeinsam, dass sie – zum Teil den gesunden Menschenverstand beleidigend – an den Haaren herbeigezogen sind!
Kann es sein, dass die einen die Türken in der EU sehen wollen, weil sie sich davon persönliche/nationale Vorteile erhoffen? Und die, die dagegen sind, ebenso eigene persönliche/nationale Nachteile befürchten?
In den Gründungsjahren der Europäischen Gemeinschaft waren die damaligen sechs Mitglieder von solchen Bilanzen wie meine Vorteile/meine Nachteile ein ganzes Stück entfernter als heute. Sie hatten ein gemeinsames Ziel, eine gemeinsame Vision. Eine Vision, die dazu führen sollte, ein Europa des Friedens, der Sicherheit und des Wohlstands zu schaffen. Und sie waren bereit, dafür auch nationale Nachteile in Kauf zu nehmen.
Heute wird die EU fast nur noch durch wirtschaftliche Interessen getragen. Die Interessen Einzelner zählen mehr als die Interessen der Gemeinschaft. Das ist das Dilemma der heutigen EU. Und deswegen verbietet die hohe Kunst der Diplomatie, die wahren Gründe so mir nichts, dir nichts preiszugeben. Fast händeringend suchen die Gegner und die Befürworter eines Beitritts der Türkei nach Argumenten, mit denen sie uns, die braven und naiven Bürger dieser Gemeinschaft, für sich gewinnen können. Fast fahrlässig übersehen sie dabei etwas, das in seiner Wirkung so gewaltig sein könnte, dass sie sogar den Weltfrieden ins Wanken bringen und die Machtstruktur in der Welt verändern könnte.
»Was übersehen sie denn?«
»Die Liebe!«
»Bitte?«
»Ja, die Liebe der Türken zu ihrer Armee!«
 
Die Türken lieben wirklich ihre Soldaten. Sie lieben ihre Offiziere. Sie lieben noch mehr ihre Generäle, die sie ehrfurchtsvoll »Paṣa« nennen. Am meisten aber lieben sie ihre einfachen Soldaten, die sie liebevoll »Mehmetcik« (der kleine, sympathische Mehmet) nennen. Ob diese Liebesbeziehung darauf zurückzuführen ist, dass die Türken schon immer ein Kriegervolk waren, oder daher kommt, dass die heutige Republik ihre Existenz einem Soldaten, nämlich Atatürk, verdankt, sei dahingestellt. Auch wenn die Armee nach der türkischen Verfassung dem Ministerpräsidenten unterstellt ist, besitzt sie eine unkontrollierte und unkontrollierbare Macht. So hat sie seit der Republikgründung 1923 viermal eine demokratisch gewählte Regierung abgesetzt, die politische Macht an sich gezogen und sie nach relativ kurzer Zeit wieder freiwillig abgegeben. Insofern haben diese Staatsstreiche mit Regierungsumstürzen, wie sie in manchen Regionen der Welt oft vorkommen, überhaupt nichts gemeinsam. Sind sie aber deswegen legitim oder gar ein notwendiger Prozess, eine erlaubte Korrektur in einer Demokratie? Nach meiner Meinung sicher nicht. Nach Meinung der Mehrheit in der Türkei schon! Weil Atatürk die Armee als Beschützer, als Garant der Demokratie positioniert und ihr die Aufgabe übertragen hat, darauf zu achten, dass sich die Türkei stets »nach Westen« orientiert, die Trennung von Religion und Staat strikt einhält und als politisches System die parlamentarische Demokratie beibehält. Und die Armee nimmt diese Aufgabe sehr gerne wahr. Was die Trennung von Religion und Staat betrifft, schon fast fundamentalistisch! Am 23. November 2007 las ich in Hürriyet, dass die Frau des türkischen Ministerpräsidenten einen namhaften Künstler an seinem Krankenbett nicht besuchen konnte, weil er sich in einem Militärkrankenhaus befand und die Frau des Ministerpräsidenten eine überzeugte Kopftuchträgerin ist! Und kopftuchtragende Frauen haben in staatlichen oder gar in militärischen Einrichtungen nichts zu suchen. Das ist deswegen bemerkenswert, weil in der Türkei die deutliche Mehrheit der Frauen, wenn auch nicht immer und ständig, Kopftuch trägt. Also, mit großer Wahrscheinlichkeit auch die Mütter, die Frauen und die Schwestern der Soldaten, der Offiziere und der Generäle.
 
Die Armee wahrt also das Erbe Atatürks? Nun, Atatürk hat sicherlich nicht gesagt, dass die Ressourcen des Landes nur einer Minderheit zugutekommen sollen. Dass bestimmte Regionen im Westen des Landes in Bezug auf Bildung, Lebensstandard, Luxus usw. mit vielen europäischen Regionen nicht nur mithalten, sondern in vielen Fällen sie sogar übertreffen sollen, während Menschen im Osten fast noch wie im Mittelalter leben müssen. Und er hat bestimmt auch nicht gesagt, dass Korruption und Vetternwirtschaft eine Stärkung der Demokratie bedeutet und sie deswegen, wenn nicht aktiv unterstützt, zumindest hingenommen werden müssen.
Es scheint so zu sein, dass das Erbe Atatürks immer dann vehement verteidigt wird, wenn es zur Erhaltung und zum Ausbau von eigenen Privilegien dient. Niemand scheint sich daran zu stören, wenn Frauen Kopftücher tragen, die nicht berufstätig sind oder einer als unqualifiziert empfundenen Arbeit nachgehen. Solange die Frauen also ungebildet sind und »unten« bleiben, hat man keine Probleme mit ihren Kopftüchern. Sobald sie sich aber nach »oben« orientieren und nicht bereit sind, ihre Tücher abzulegen, stoppt man sie. Man empfindet generell, also durchaus auch hier bei uns in Deutschland, dass die kopftuchtragenden Frauen unwissend, ungebildet und primitiv sind. Die Frau des amtierenden Staatspräsidenten der Türkei spürte während eines Gesprächs mit einem Journalisten, dass er annimmt, sie wäre nur beschränkt denkfähig, und gibt ihm die wunderbare Antwort: »Das Kopftuch bedeckt meinen Kopf, nicht mein Gehirn!«
Kann die Europäische Union ein Land als Mitglied aufnehmen, dessen Armee die Aufgabe hat, die Demokratie zu schützen? In keinem Mitgliedsstaat der EU ist der jeweiligen Armee die Aufgabe übertragen worden, die Demokratie nach eigenem Ermessen zu schützen. Weil die Demokratie im Inneren einzig und allein durch die mündigen Bürger des jeweiligen Staates geschützt werden kann und nicht durch die Armee! Eine undemokratische und unkontrollierte Macht als Beschützer und Kontrolleur einer demokratischen, auf Zeit übertragenen Macht zu stellen scheint in der Türkei zu funktionieren. Es kann und darf aber auf gar keinen Fall so weit kommen, dass dies in einem Mitgliedsstaat der EU praktiziert wird! Die EU kann also die Türkei nur dann als Mitglied aufnehmen, wenn die türkische Armee ihre durch die Geschichte vorgegebene Sonderfunktion abgibt.
Will die türkische Armee ihre Macht überhaupt freiwillig abgeben? Kann man sie gegen ihren Willen entmachten? Ich denke nicht! Aber meine größte Sorge ist ja nicht, ob sich die Armee freiwillig oder gegen ihren Willen entmachten lässt. Meine größte Sorge ist, was danach kommt! Wie sich die Türkei mit einer entmachteten Armee weiterentwickelt. Das ist meine Hauptsorge.
In all den Jahren seit ihrer Staatsgründung hat die Türkei in Frieden gelebt, sich aus dem Zweiten Weltkrieg herausgehalten, ihre Nachbarn nicht bedroht und auch keine aggressive Au- ßenpolitik betrieben. Abgesehen von der Zypern-Frage, an deren Entstehung sie überhaupt nicht und an deren Eskalation sie nicht alleine beteiligt war, ist sie außenpolitisch sauber, stabil und verlässlich geblieben. Ist das darauf zurückzuführen, dass die türkische Armee diese Sonderfunktion hat und sie besonnen und verantwortungsvoll einsetzt?
Dass die Armee einer demokratisch legitimierten, demokratisch kontrollierten Macht – nicht nur auf dem Papier, sondern auch in den Köpfen – unterstellt werden muss, ist richtig und wichtig. Nur, diesen enormen Eingriff in die tragende Grundordnung der türkischen Demokratie kann nur das türkische Volk vornehmen. Ein derartiger Eingriff kann nicht verordnet, er kann ohne innere Bindung nicht verhandelt werden, um nur auf einem Ball namens Europäische Union mittanzen zu dürfen. Ob die türkische Demokratie heute so gefestigt ist, die West-Anbindung von mündigen Wählern so getragen wird, dass man riskieren könnte, eine nicht in die Landschaft passende, die freie Sicht auf das Bauwerk verhindernde Säule zu entfernen? Ich habe meine Zweifel!
Die Armeeführung hatte mit einer einzigen Veröffentlichung am 27. April 2007 die Wahl des Staatspräsidenten letztes Jahr verhindert. Sie hatte sich besorgt darüber geäußert, dass unter anderem die Frau des Präsidentschaftskandidaten eine überzeugte Kopftuchträgerin ist, und dabei gleichzeitig auf die ihr per Gesetz übertragene Verantwortung hingewiesen, den Laizismus zu verteidigen, und so die Neuwahlen indirekt erzwungen, damit das neue Parlament den Staatspräsidenten wählt. Millionen von Menschen gingen auf die Straße und haben die Armeeführung unterstützt und für Demokratie und West-Anbindung demonstriert. Sowohl die Einmischung der Armee als auch diese Demonstrationen waren gegen eine islamisch-konservative Partei gerichtet, die sich gerne mit der Christdemokratie in Europa...
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