Wilhelm Tell und der Rütlischwur
Laut Umfragen halten 64 Prozent aller Schweizer und immerhin noch 49 Prozent der Deutschen Wilhelm Tell für eine reale, geschichtliche Gestalt und den Rütlischwur tatsächlich für den Urbeginn der Schweizer Staatlichkeit. Speziell in der Schweiz ist die Bewegung, die dafür plädiert, dass es Tell tatsächlich gegeben habe, sehr (laut-)stark. Ein schöner Erfolg für die vielen Kreativen, die sich seit Jahrhunderten darum verdient gemacht haben, diesen historischen Mythos ins Leben zu setzen und immer weiter auszuschmücken. Zu ihnen zählen Prominente wie der Dichter Friedrich Schiller, aber auch zahllose »einfache Leute«, die unermüdlich weiterverbreitet hatten und haben, dass Tell wirklich lebte.
So kann man sich täuschen. Denn »Tell« ist keine historische Gestalt, sondern ein Mythos, wenn auch ein ganz besonderer (zumindest in der Eidgenossenschaft). Denn für die Schweiz ist »Tell« Teil des Nationalmythos, ebenso wie der »Rütlischwur«. In beiden Mythen ist der Beginn des Schweizer Nationalstaats verankert, ebenso wie diese im Nationalbewusstsein der SchweizerInnen verankert sind. Es gibt zahllose »Tell«-Denkmale, »Tell«-Devotionalien, »Tell«-Bilder, Restaurants seines Namens und die üblichen Devotionalien von T-Shirt bis Kugelschreiber. Der Mythos selbst umfasst die angebliche Geschichte vom Schweizer Freiheitskämpfer »Wilhelm Tell«, der im Gebiet der heutigen Zentralschweiz zu Beginn des 14. Jahrhunderts legendäre Taten vollbrachte. Entstanden vermutlich im 15. Jahrhundert und Ende des 15. Jahrhunderts erstmals im Weißen Buch von Sarnen zu Papier gebracht, ist der »Wilhelm Tell« seit dem 19. Jahrhundert zum Schweizer Nationalheld avanciert, nicht zuletzt in der Form, wie Friedrich Schiller ihn in seinem gleichnamigen Bühnenstück hinterlassen hat.
Schriftlich erstmals greifbar ist der »Tell« 1472, als der Obwaldner Landschreiber mit dem sprechenden Namen Hans Schriber die Geschichte im Weißen Buch von Sarnen publizierte beziehungsweise festhielt. Etwa zur selben Zeit, fünf Jahre später, wird im vom Burgunderkrieg handelnden und zunächst nur mündlich überlieferten »Lied von der Entstehung der Eidgenossenschaft«, auch Tellenlied oder Bundeslied genannt, ein weiteres Mal ein Held namens »Tell« genannt. So erfolgreich war der Mythos, so begierig aufgenommen wurde die Geschichte vom vermeintlichen Helden, dass sie schon 1507 in der gedruckten Luzerner Chronik von Melchior Russ und Petermann Etterlin wiedergegeben wird sowie ab 1508 in der Schweizer Chronik von Heinrich Brennwald. Danach mehrte sich der Ruhm des »Helden«, wurde die Geschichte immer wieder weitergegeben, kolportiert und variiert, bevor sie durch Aegidius Tschudi 1570 ihre endgültige, bis heute wirksame Form erhielt. Tschudi vereinte die verschiedenen Varianten zu einem »Bericht«, den er (willkürlich) auf das Jahr 1307 datierte und zwischen dem angeblichen Aufstand des »Burgenbruchs« und dem angeblichen »Rütlischwur« (siehe unten) einfügte. Weitere Verbreitung fand die Geschichte durch Josias Simlers Schweizer Geschichtswerk De Republica Helvetiorum, das 1576 erschien. Anfang des 19. Jahrhunderts erfuhr die Popularität der Sage dann einen enormen Schub durch Schillers Theaterstück und durch die Tatsache, dass die Gebrüder Grimm die »Sage« in ihr weitverbreitetes Sammelwerk deutscher Märchen aufnahmen.
Im Kern dreht sich die Sage um die angeblich himmelschreiende Ungerechtigkeit, welcher sich die vom Habsburger König Rudolf auf Schweizer Gebiet eingesetzten Landvögte schuldig gemacht haben sollen. Neben unrechtmäßiger Beschlagnahme von Vieh und Frauen sollen sie auch die Ehre der Schweizer gekränkt haben, etwa dadurch dass der Vogt »Gessler« (der historisch nicht nachweisbar ist) in Altdorf angeblich seinen Hut im Ort aufgehängt habe mit der Maßgabe, jeder, der vorbeigehe, habe diesen ehrerbietig zu grüßen. »Wilhelm Tell«, Einheimischer, Bauer und weitbekannter treffsicherer Armbrustschütze (auch dies ein Lieblingstopos der »wehrhaften Schweiz«), sieht das nicht ein und verweigert den Gruß, als er mit seinem kleinen Söhnchen durch den Ort spaziert. Als der Vogt dies erfährt, erlegt er ihm zur Strafe auf, ein lebensgefährliches Kunststück vollbringen zu müssen: »Tell« solle seinem Sohn auf fünfzig Schritt einen Apfel vom Kopf schießen. Im Weigerungsfalle sollen beide – Vater und Sohn – wegen Ehrverletzung hingerichtet werden. Das Kunststück gelingt, die Sühne ist geleistet, das Leben von Sohn und Vater gerettet. Auf die Frage, wozu der zweite Pfeil in seinem Köcher diene, habe »Tell« geantwortet, mit diesem hätte er den Vogt getötet, falls er sein Kind getroffen hätte.
Der Vogt sei über diese »freche« Antwort erzürnt gewesen, habe die vereinbarte Freilassung »Tells« verweigert und befohlen, diesen in Ketten per Boot nach Küssnacht zu bringen. Ein Sturm sei auf dem Vierwaldstättersee aufgezogen und habe das Boot mit dem angeketteten »Tell« in Gefahr gebracht. Die Matrosen hätten »Tell« daher gebeten, das Ruder zu übernehmen, und ihn hierzu von den Fesseln befreit. »Tell« habe das Boot daraufhin trotz Sturm und Wellenschlag »mit sicherer Hand« in der Nähe des Axen zum Ufer gesteuert und sei dort auf eine vorspringende Felsplatte, heute »Tellsplatte« genannt, gesprungen. Als die Matrosen sich ebenfalls retten wollten, habe er dem Boot einen Tritt gegeben und es wieder auf den See hinausgestoßen, wo es untergegangen sei und die Matrosen jämmerlich ersoffen. »Tell« sei daraufhin, entschlossen, dem Treiben des »Vogts« ein für alle Mal ein Ende zu bereiten, über den Berg gezogen und habe im dortigen Hohlweg einen Hinterhalt gelegt, dem »Vogt« aufgelauert und diesen mit einem Meisterschuss getötet, die Schweiz damit von diesem »Lokaltyrannen« befreit. Im Weiteren sei »Tell« 1315 in die Schlacht bei Morgarten gezogen, habe tapfer mitgekämpft und schließlich 1354 im Schächenbach ein Kind zu retten versucht, sei dabei jedoch ertrunken.
Bereits im 17. Jahrhundert kamen erste Zweifel an der Geschichte auf. Insbesondere der höhnische Spott, den ein Voltaire in seinen Annales de l’Empire über die Geschichte ausgoss, förderte den Zweifel am Wahrheitsgehalt der in der Schweiz so ungemein beliebten Tapferkeitsgeschichte. Joseph Kopp, Begründer der Schweizer Geschichtsschreibung, kam schließlich zu dem Ergebnis, dass es einen »Tell« offenbar nie gegeben habe, jedenfalls werde er in keiner der damals bekannten Akten zur Schweizer Geschichte erwähnt. Vermeintliche Erwähnungen seien ganz offensichtliche und primitive Fälschungen. Zudem konnten im weiteren Verlauf der kritischen Beschäftigung mit der »Tells-Sage« ihre Bestandteile in andere Kulturkreise zurückverfolgt und damit ihre Natur als populäre Topoi der europäischen Sagenwelt bewiesen werden. So wird die Geschichte vom Apfelschuss erstmals in den Gesta Danorum (verfasst um 1200) erwähnt, ein weiteres Mal in der altnordischen Thidrekssaga (13. Jahrhundert). Dort wird der Held »Egil« genannt, in den Gesta Danorum »Toko«. Auch im Hexenhammer von 1486 wird ein Apfelschuss erwähnt, der Name des Schützen ist hier »Punker von Rohrbach«.
Da speziell die dänische »Heldensaga« Gesta Danorum im deutschsprachigen Gebiet schon im Mittelalter weitverbreitet war, dürfte hier die direkte Quelle für die Schweizer »Tells-Saga« anzunehmen sein. Der Nachweis dieser Übernahme gelang schon im 18. Jahrhundert dem Berner Pfarrer Uriel Freudenberger. Aus Angst vor möglichen negativen Auswirkungen dieser »Ketzerei« wider den damals schon mächtig populären »Nationalmythos« publizierte er die Abhandlung nur anonym. Auch kleine Details zwischen der »Tells-Sage«, wie sie von Tschudi überliefert wurde, und der dänischen »Heldensaga« stimmen überein. So hat auch »Toko« einen zweiten Pfeil bei sich und sagt ganz offen, dass dieser für den König gedacht gewesen sei, falls er den Sohn getroffen hätte. Schon früh inspirierte die Sage Künstler zu einer modernen Adaption beziehungsweise Umsetzung auf der Bühne. Das erste Musikstück rund um die »Tells-Sage« stammt vom Komponisten André Grétry, der seine gleichnamige Oper 1791 uraufführte. Ob Schiller diese jemals gesehen hat oder direkt von ihr gehört hat, ist bis heute nicht sicher belegt. Belegt dagegen ist, dass er sich seit 1789 verschiedentlich mit dem Stoff auseinandergesetzt hat, auf Anregung seiner späteren Frau Charlotte von Lengefeld, aber auch durch Hinweise Goethes, der immer wieder die Schweiz bereiste und selbst zeitweise Pläne hatte, den Stoff zu dramatisieren. Aufgeführt wurde Schillers letztes Theaterstück ein Jahr vor seinem Tod 1804. Es wurde Schillers erfolgreichstes Stück (neben den Räubern), viele Zitate aus dem Stück gingen in die »sprichwörtlichen Redensarten« ein. Sicherlich trug Schiller einen wesentlichen Teil zur weiteren Popularisierung des Mythos bei, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts bereits zum Nationalmythos der Schweiz geworden war.
Im 20. Jahrhundert wurde dann der Stoff auch vom neuen Medium, dem Kinofilm, aufgenommen und künstlerisch verarbeitet, so im Stummfilm Wilhelm Tell von 1923 (mit Conrad Veidt und anderen), im Hörspiel Wilhelm Tell von 1925 und in der Tonverfilmung von 1934 (ebenfalls mit Conrad Veidt). Gerade diese ist wegen des weiteren Schicksals der »Saga« unter dem Hakenkreuz interessant. Konnte im NS-Deutschland 1934 also noch...