Einleitung
Selten klang Walther Rathenaus fast hundert Jahre altes Diktum »Die Wirtschaft ist unser Schicksal« so bedrohlich wie heute. Die Ökonomie, das Allerheiligste dieser Gesellschaft und zugleich ihr praktischer Dreh- und Angelpunkt, ist außer Rand und Band geraten. Bis vor Kurzem galt sie noch als Hort einer höheren Vernunft, heute fühlt sich der gesunde Menschenverstand bei der Lektüre der Wirtschaftsnachrichten regelmäßig in eine Irrenanstalt versetzt. Seitdem im Herbst 2008 die Subprime-Krise die globalen Finanzmärkte an der Rand des Zusammenbruchs brachte, hat sich die Weltkonjunktur immer nur kurzfristig stabilisiert. Kaum hatten die politischen Macher und ihre Wirtschaftsauguren zweckoptimistisch das »Ende der Krise« verkündet, standen sogleich neue Hiobsbotschaften ins Haus. Sobald ein Brandherd unter neuen Frischgeldmassen begraben wurde, loderte das Feuer schon an zwei, drei anderen Ecken des kapitalistischen Weltsystems wieder auf. Zwar gelang es den Regierungen und Notenbanken, durch die Notverstaatlichung fauler Kredite, eine Politik des billigsten Geldes, und das massive Hochfahren der Staatsverschuldung den drohenden globalen Wirtschaftskollaps zunächst einmal abzuwenden; doch damit haben sie nur den nächsten, noch größeren Krisenschub vorbereitet. Jetzt droht das Platzen der Staatsblasen die Weltwirtschaft in den Abgrund zu ziehen.
Ein kakophonisches Stimmengewirr begleitet diese dramatische Entwicklung. Heerscharen von Rezeptblockzückern erklären dem werten Publikum, an welchem Punkt »unsere Wirtschaft« vom Pfad marktwirtschaftlicher Tugend abgewichen sei und mit welchen Therapien ihr die abhandengekommene ökonomische Vernunft wieder eingetrichtert werden könne. Die Autoren dieses Buchs beteiligen sich nicht an diesem Geschäft. Schon die der laufenden Debatte zugrunde liegende Basisannahme, die derzeitige Krise ließe sich auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise lösen, halten sie für grundverkehrt. Die vermeintliche »Entartung« der glorreichen Marktwirtschaft, die für den verheerenden gegenwärtigen Zustand des kapitalistischen Weltsystems verantwortlich gemacht wird, ist in Wirklichkeit als ein Entpuppungsprozess zu fassen. Es zeigt sich, dass die kapitalistische Produktionsweise eine zutiefst irrationale Form der Reichtumsproduktion darstellt, die auf Selbstzerstörung hin programmiert ist. Die Entfesselung der Finanzmärkte, die Spekulation, die überbordende Staatsverschuldung oder was sonst noch auf dem Markt der Meinungen als Ursache der gegenwärtigen Malaise angeboten wird, sind in Wahrheit nur Symptome eines viel tiefer reichenden Krisenprozesses. Wir haben es nicht mit irgendwelchen »Fehlentwicklungen« zu tun, die sich wieder rückgängig machen ließen, vielmehr sind die Grundlagen des kapitalistischen Weltsystems selbst in Auflösung begriffen.
Dieser Gedanke ist in der öffentlichen Debatte tabu. Und zwar nicht trotz, sondern wegen der marktschreierischen »Kapitalismuskritik«, die uns aus allen Medien entgegenschallt. Denn diese beschränkt sich weitgehend auf plumpe Finanzmarktschelte – mal mehr, mal weniger unterfüttert mit personifizierender Hetze gegen »Banker und Spekulanten« – und verdrängt gerade damit die naheliegende Einsicht, dass das System der kapitalistischen Reichtumsproduktion selbst unhaltbar werden könnte. Die Wirklichkeit drängt zum Gedanken einer fundamentalen Krise, das herrschende Bewusstsein aber drängt mit aller Kraft von dieser Wirklichkeit weg. Freilich liegt die Angst vor einer großen Katastrophe in der Luft. Doch diese bleibt diffus und kanalisiert sich entweder in esoterischen Weltuntergangsphantasien wie einer angeblichen Prophezeiung der Maya, wild-wuchernden, teils antisemitischen Verschwörungsphantasien und individuellen Fluchtversuchen aus dem Alltag, oder sie wird von den notorischen Gesundbetern, die nicht müde werden, die Krise kleinzureden, mittels der von ihnen ausgeteilten Beruhigungspillen gedämpft.
Stummer Hintergrund dieser schizophrenen Stimmungslage ist sicherlich die sozialpsychologische Zurichtung der modernen Individuen nach dreißig Jahren radikaler Durchökonomisierung aller Lebensbereiche, die eine andere Form gesellschaftlichen Verkehrs als den über Ware, abstrakte Arbeitskraftverausgabung und Geld unmöglich erscheinen lässt. Hinzu kommt noch das mit dem Zusammenbruch des sogenannten Realsozialismus zum Common sense aufgestiegene Dogma von der Alternativlosigkeit des Kapitalismus. Zwar war der »Realsozialismus« nie etwas anderes als eine autoritäre Variante kapitalistischer Modernisierung, unterlegt mit einer bizarren Ideologie der »Diktatur des Proletariats«, und stand insofern keinesfalls für eine Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation; doch allein seine Existenz erschien vielen als Beweis dafür, dass es eine Alternative zur Ausrichtung aller gesellschaftlichen Beziehungen nach dem Prinzip der ökonomischen Rationalität geben könne. Daher hat sein Untergang nicht etwa den Horizont emanzipativen Denkens erweitert, sondern hat im Gegenteil die Alternativlosigkeit der marktwirtschaftlich-kapitalistischen Produktions- und Lebensweise in den Köpfen zementiert. Indem aber schon die bloße Möglichkeit einer emanzipativen Überwindung des Kapitalismus als Hirngespinst weltfremder Träumer und unverbesserlicher Ewiggestriger abgetan wird, steht implizit auch der Gedanke einer grundlegenden Systemkrise unter einem Tabu. Denn sie kann nicht als Krise einer obsolet gewordenen historisch-spezifischen Produktionsweise verstanden werden, sondern erscheint als apokalyptischer Vorgang auf einer Stufe mit einem globalen Atomkrieg oder dem Einschlag eines Riesenmeteoriten - daher das Schwanken zwischen Hysterie und Verdrängung.
Kapitalismus oder Barbarei, so lautet also die implizite Propagandaparole, die auf allen Kanälen verbreitet wird. Entweder die Krise bedeutet den Untergang jeglicher Zivilisation, oder es gelingt, den normalen Gang kapitalistischer Reproduktion wiederherzustellen. Genauso ist auch der apokalyptische Diskurs zu verstehen, der von Teilen der politischen Klasse im Angesicht der Krise geführt wurde, so etwa vom bieder-sozialdemokratischen Sparkommisar Peer Steinbrück, der unter der Schockwirkung des Finanzmarkt-Crashs davon sprach, man habe »in den Abgrund geblickt«. Mag sein, dass sich darin ein spontanes Erschrecken vor den Konsequenzen des eigenen Handelns ausdrückte, letztlich dient dies aber der Legitimierung jener drastischen Sparmaßnahmen und Opfer, die unter der Maßgabe, die ökonomischen Verwerfungen noch einmal unter Kontrolle zu bekommen, der Bevölkerung zugemutet werden. Das apokalyptische Vokabular steht hier also für eine Variante des berüchtigten TINA-Prinzips: There Is No Alternative. Nie wurde dieser Satz so oft und so voller Überzeugung vorgetragen wie nach dem Platzen der Immobilienblase und den durch sie ausgelösten Schockwellen. Wenn der Weltuntergang droht, darf man nicht zimperlich sein.
Auch die seit dem Herbst 2008 massenhaft auftretenden Krisen-Gurus bedienen dieses Muster. Ihr Erfolg beruht darauf, dass sie mit ihrem Alarmismus eine untergründige gesellschaftliche Stimmung ansprechen und im Gegensatz zur Riege der Gesundbeter und Beschwichtiger Bilder von heftigen Verwerfungen an die Wand malen. Trotz alledem teilen sie aber den gesellschaftlichen Konsens, dass die Krise keinen systemisch-fundamentalen Charakter hat, sondern durch entschlossenes politisches Anpacken und verschärfte Sparanstrengungen gelöst werden könne. Der Gedanke, die kapitalistische Produktionsweise sei dabei, sich ad absurdum zu führen und unhaltbar zu werden, ist ihnen völlig fremd. Auf die Oberfläche des Krisenverlaufs fixiert, polemisieren sie gegen angebliche »Fehlentwicklungen« wie »maßlose Staatsverschuldung«, »überzogenes Anspruchsdenken« oder eine »enthemmte Spekulation«, die endlich gestoppt werden müssten, wenn die Gesellschaft nicht in den Abgrund rauschen wolle. Die Wiederherstellung eines gesunden, prosperierenden Kapitalismus ist den Krisen-Gurus zufolge also nur eine Frage des politischen und gesellschaftlichen Wollens. Insofern machen auch sie beim großen Herunterdimensionieren munter mit.
Der erfolgreichste deutsche Vertreter dieser Zunft, Max Otte etwa, will explizit die »Krise als Chance« (Otte 2006, S. 193) begriffen wissen – natürlich nicht als Chance für die Entwicklung einer Gegenpraxis zum laufenden Irrsinn, sondern als kollektive und individuelle Gelegenheit zu einer erfolgreichen Neupositionierung im kapitalistischen Wettbewerb. Dem Standort Europa biete sich die Gelegenheit, seine Position in der Weltmarktkonkurrenz entscheidend zu verbessern, und dem klugen Investor eröffnen sich angeblich tolle Gelegenheiten, seine Kröten auch auf einem »Bärenmarkt« zu mehren; das letzte Drittel von Ottes Œuvre besteht dementsprechend ausschließlich aus Anlagetipps, wie das zu bewerkstelligen sei. Bei all den wirtschaftlichen Verwerfungen bleibt für Otte eine Erschütterung der Grundlagen der kapitalistischen Ordnung unvorstellbar. Bis zum Ende aller Tage funktioniert der Weltmarkt weiter, und auch die heiligste Bestimmung des menschlichen Daseins wird niemals zur Disposition stehen: Die Optimierung der eigenen Vermögensbildung ist immer möglich und bleibt das Zentrum alles irdischen Strebens.
Im Einzelnen weichen die Prognosen und Diagnosen der diversen Krisen-Gurus natürlich voneinander ab. So interpretiert Otte in seinem bereits vor dem Crash von 2008 geschriebenen Buch die Krise primär als Deflationskrise, bei der die Aktienkurse sinken und...