Jedem das Seine, mir das meiste: Von Gehältern und sonstigen Douceurs
Das Wort Gier kommt in vielen Zusammensetzungen vor: Es gibt die Blutgier, die Geldgier, die Habgier, die Raffgier. Das Raffen – «gierig nehmen», «geizig anhäufen» umschreibt es Wahrigs Wörterbuch –, das Raffen also ist vielen von uns zur lieben Gewohnheit geworden. Manchmal denkt man sogar, es sei der Sockel, der Grundstein des Landes, weil es für Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung offenbar keinen überzeugenderen Maßstab gibt als den Erwerb von möglichst viel Geld.
Das Lamento klingt allerdings vertraut. «Wir haben es satt, in einer Raffgesellschaft zu leben», erklärte vor anderthalb Jahrzehnten der honorige Altkanzler Helmut Schmidt in einem Manifest, das ebenso folgenlos blieb wie viele andere Grundsatzerklärungen davor und danach. «Ein Kapitalismus ohne ethischen und rechtlichen Ordnungsrahmen ist menschenfeindlich. Das ist die Grundeinsicht dieser Tage, meine Schlussfolgerung aus der Finanz- und Bankenkrise» sagte Reinhard Marx, der Erzbischof von München und Freising, im Oktober 2008 in einem Interview: «Wilde Spekulation» sei «Sünde».
«Jedem das Seine, mir das meiste» ist nicht nur eine Redensart. Und dennoch überrascht uns mitunter die Habgier, die Raffgier – und nicht nur die der Investmentbanker. Wer beispielsweise dem Wirtschaftsmanager Ernst Dieter Berninghaus erstmals begegnet, wird vermutlich keinen dieser Begriffe mit dem Rheinländer verbinden. Der Kölner, Jahrgang 1965, ist ein offener, fröhlicher Typ. Im Karneval ist er aktiv, beim 1. FC Köln wurde er oft auf der Tribüne gesehen, und mit seinen bunten Krawatten und den ziemlich langen Haaren passt er so gar nicht in die Kaste jener Führungsleute, die Wasser predigen und Wein saufen, die Maßlosigkeit zu ihrem Maß gemacht haben und dabei noch ganz vornehm tun und denen im Souterrain empfehlen, doch den Gürtel enger zu schnallen. Aber sogar einer wie Berninghaus ist ein übler Selbstbediener gewesen.
Auch deshalb kann es sinnvoll sein, einige Stationen seines Lebensweges näher zu betrachten. Seine Karriere war so ungewöhnlich wie seine Erscheinung. Berninghaus kannte nur eine Richtung: nach oben. Abitur, Wirtschaftsstudium, Promotion, alles ging ganz fix, vorbildlich. Der Enkel kleiner Kaufleute aus dem Ruhrgebietsstädtchen Ennepetal (die Großeltern hatten einen Rewe-Laden) fing mit 27 Jahren im Vorstandsstab der Metro Holding im schweizerischen Baar an. Er blieb fünf Jahre lang in der Schweiz, arbeitete dem einst fast allmächtigen Metro-Generalbevollmächtigten Erwin Conradi zu und koordinierte die europaweite Expansion des Konzerns.
Er arbeitete in «Silent City», wie der große Schweizer Autor Niklaus Meienberg das Städtchen Zug nannte, in dem «Schweigevirtuosen, Verschweigungskünstler, Diskretionsfanatiker» unermüdlich den Mehrwert der Reichen mehren. Tausende Berater, Treuhänder, Rechtsanwälte und Vermögensverwalter gehen in dem Kleinkanton ihren Geschäftigkeiten nach, und der junge Berninghaus hat dort viel fürs Leben gelernt. In der Ära Conradi wurde die Metro der führende Handelskonzern in Europa. Der Umsatz lag bei umgerechnet 45 Milliarden Euro. Freunde von Berninghaus, und an denen ist kein Mangel, sagen, dass ihn die Zahlen damals auch ein bisschen größenwahnsinnig gemacht haben.
1999 wechselte er zu Rewe nach Köln, rückte erst in die Leitung der Rewe-Zentral AG und der Rewe-Zentralfinanz eG auf und schon zwei Jahre später in den Vorstand. Er entwickelte das Österreich-Geschäft (Billa, Mercur, Mondo, Bipa), renovierte die italienische Supermarktkette Standa, die einmal Silvio Berlusconi gehört hat, und verdrängte sogar seinen ehemaligen Chef Conradi aus dem Verwaltungsrat der Bon Appetit Group. Bereits 2004 wurde Berninghaus Vorstandssprecher bei Rewe, dem mit 42 Milliarden Euro Umsatz und 260 000 Mitarbeitern nach der Metro zweitgrößten deutschen Handelskonzern. Mit 39 Jahren verdiente er rund 1,4 Millionen Euro Grundgehalt plus 450 000 Euro Komplementärsvergütung bei der Rewe-Tochter Deutscher Supermarkt KG. Damit lässt sich doch leben, auch wenn man verheiratet ist und zwei kleine Kinder hat.
Der nette Berninghaus hatte ein zweites Gesicht. Beim Kauf einer kleinen, ziemlich wertlosen Internetfirma namens Nexum AG, den er eingefädelt hatte und der Rewe 25 Millionen Euro kostete, bekam er unter der Hand eine Provision in Höhe von 6,5 Millionen Euro – am Finanzamt vorbei. Im Herbst 2004 kam die Staatsgewalt zu Besuch, im Frühjahr 2006 wurde er in seiner Heimatstadt zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Er verlor seinen Job, musste Rewe die 6,5 Millionen Euro zurückzahlen und war fassungslos über sich selbst.
Die Loyalität zur Firma, wie sie ein Herr Friedrich Wilhelm Marcus, der Sozius des Thomas Buddenbrook, noch im Übermaß besaß, war ihm fremd geworden. Für einen protestantischen Manager wie den von Thomas Mann beschriebenen Marcus hätte es kaum ein größeres Verbrechen gegeben, als sich an dem Kapital zu vergreifen, dessen Fürsorge ihm anvertraut war. «Obsorge» nannte man das früher – aber nicht nur das einst im Oberdeutschen heimische Wort ist verschwunden.
Von all den Affären in diesem Buch ist Berninghaus’ Fehltritt für Leute mit überschaubarem Salär vermutlich am schwersten nachzuvollziehen. Warum wird so einer gierig, wenn er doch schon in jungen Jahren so viel hat?
Sein Fall gehört zu den Exzessen aus der Zeit der totalen Börseneuphorie, die eher ein Wahn war. Echte high potentials und solche, die sich dafür hielten, hatten jeden Sinn für richtig und falsch verloren, und die Ansprüche auf der nach oben offenen Gierskala der Schneller-reich-Wirtschaft waren ins Unermessliche gestiegen. Die Ausschweifungen der Blasen-Ökonomie, deren schlimmste Auswüchse international die Desaster der Konzerne Enron, Comroad und Global Crossing waren, haben Verheerendes angerichtet. Gleichzeitig ließen sie bei vielen Menschen die Gewissheit aufkommen, dass Lug und Trug sich auf die Dauer doch nicht auszahlen, Einzelfälle ausgenommen.
Das schnelle Geld war eine Versuchung, der viele nicht widerstehen konnten; der Cashflow wurde mal eben in die eigene Richtung gelenkt. Die Unbestechlichen sahen wie langweilige Verlierer aus, und manche fühlten sich auch so. Vor etlichen Jahren sprang ein Mann von der Golden Gate Bridge bei San Francisco in den Tod. Er hinterließ eine winzige Notiz, in der aber alles Wesentliche stand: «Survival of the fittest. Adios – unfit.» Die Metapher vom Markt, auf dem einer überlebt oder nicht, ist manchmal nicht nur als Sinnbild zu verstehen.
Der globale Markt hat den nicht so Fitten ein paar Unannehmlichkeiten und Unübersichtlichkeiten wie den Verlust des sicher geglaubten Arbeitsplatzes und, nicht selten, der Existenz beschert und den Fitten ein paar nette Extras. In einer Studie der Unternehmensberatung Mercer kann man nachlesen, dass mehr als die Hälfte der 350 größten amerikanischen Konzerne ihren Chefs erlauben, das Firmenflugzeug zu nutzen; jedes vierte Unternehmen zahlt die Mitgliedsbeiträge für den Country- und den Golfclub. Sogar für die Kosten der Vermögensverwaltung ihrer Angestellten kommen viele Firmen auf.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Einer Nivellierung von Einkommen soll hier nicht das Wort geredet werden. Es gibt kein demokratisches Einkommen. Ein wesentlicher Ansporn für bessere Leistung und Individualität war zu allen Zeiten die Ungleichheit beim Verdienst. Gleichheit ist nicht a priori gerecht, Ungleichheit ist nicht a priori ungerecht. Seit Jean-Jacques Rousseaus im achtzehnten Jahrhundert veröffentlichtem «Diskurs über die Ungleichheit» hat es immer wieder neue Aufrufe zur Schleifung der Klassen und Schichten gegeben, und sie endeten meist in der totalen Ungleichheit. Die Schere zwischen den vermögenden Bestimmern und dem einflusslosen Prekariat ging in sozialistischen Ländern besonders weit auseinander.
Aber es gibt Formen der unverfrorenen Bereicherung, bei denen die Linie zwischen fehlendem Anstand und kriminellem Missstand längst verwischt ist. Seit der Finanzkrise wird nicht mehr nur über Mindestlöhne, sondern auch über Höchstlöhne diskutiert, die, irgendwie, bei 500 000 Euro Jahresgehalt liegen sollten. Klar jedenfalls ist, dass die Einkommensverteilung nachvollziehbarer sein muss, und sie sollte sich auch an Leistungskriterien orientieren.
Ein weltweites Ärgernis, ein Skandal sind in diesem Zusammenhang die Aktienoptionen. Nicht nur schmälert die Option auf Ausgabe neuer Anteilsscheine den Wert der bereits an der Börse gehandelten Aktien, ohne dass kleinere und mittlere Aktionäre darauf Einfluss haben. Unternehmen, die Optionen gewährt hatten, legen bei diesem System außerdem nicht selten das Ausgabedatum nachträglich auf einen Zeitpunkt, an dem der Kurs besonders niedrig war. Je geringer der Bezugspreis, desto höher ist der Gewinn bei einer späteren Kurserholung.
Im Jahr 2006 enthüllte das Wall Street Journal, dass fast zweihundert Unternehmen in den Wochen nach den Terroranschlägen vom 11. September zusätzliche Optionen an ihre Spitzenmanager ausgegeben hatten. Auf die Spur waren die Journalisten dem Skandal durch die Forschungen des Statistikers Erik Lie gekommen, der an der Universität von Iowa beschäftigt ist. Ihm war beim Studium von Optionsgeschenken an Spitzenmanager aufgefallen, dass die Daten auffallend günstig lagen. Das ließ sich nur damit erklären, dass die Optionen rückdatiert...