EINLEITUNG
DAS GEBET IN EINER SÄKULARISIERTEN WELT
Eine persönliche Erinnerung sei mir hier als Einstieg gestattet: Mitte der Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, als die Welt im Kalten Krieg erstarrt war, beteiligte ich mich als junger Dominikanermönch an der Initiative „Ordensleute für den Frieden“. Im Hunsrück war damals die Stationierung der sogenannten cruise missiles geplant, atomar bestückter Marschflugkörper, die mit ungeheurer Zerstörungskraft das Territorium des „Feindes“ erreichen und eine äußerste Gefahr für die gesamte Zivilisation heraufbeschwören konnten. Wir zogen gemeinsam an den geplanten Stationierungsort. Mit den uns geläufigen Ausdrucksmitteln – der prophetischen Zeichenhandlung, biblischen Texten, konventionellen und neu formulierten Gebeten und Liedern – versuchten wir das zu bannen, angesichts dessen es uns die Sprache verschlug. Zur selben Zeit hatte eine Gruppe von engagierten Frauen aus Norddeutschland dort ihr Zeltlager aufgeschlagen. Für die meisten von ihnen war Religion ein archaisches Relikt aus längst verschwundenen Zeiten, und so wurden wir von ihnen zunächst als die exotischen Vertreter eines aussterbenden Volksstammes wahrgenommen. Umso überraschender war es dann für uns, als eine dieser Frauen bekannte, sie hätte uns dafür beneidet, dass wir offensichtlich noch über eine Sprache verfügten, um das auszudrücken, woran uns jede säkulare Sprache hilflos scheitern lässt.
Gerade in einer entzauberten Welt, in der uns nicht mehr wie selbstverständlich das Numinose hinter den Ereignissen begegnet, sondern in der wir es hauptsächlich mit unseren eigenen Artefakten zu tun haben, scheint eine Sehnsucht nach einer Sprache neu aufzubrechen, die das Unbedingte, das Unverfügbare unserer Existenz zu formulieren imstande ist. Wo Sprache zum banalen Verständigungsmittel verflacht, gibt sie den Menschen auch den herrschenden Zuständen preis, liefert sie ihn an das reibungslose Funktionieren des Bestehenden aus, verrät sie seine Sehnsucht nach Ganzheit, Integrität und bleibender Gültigkeit jenseits des Kreislaufs von Konsumieren und Produzieren. In diesem Sinn versteht denn auch Johann Baptist Metz Beten als einen „Akt des Widerstands“, Gebetssprache als Widerstandssprache gegen die herrschende Banalität und Apathie (Metz 2011, 111 f). Auch Menschen, die sich selbst als atheistisch, agnostisch, als „religiös unmusikalisch“ (Max Weber, gern auch von Jürgen Habermas auf sich selbst angewandt) bezeichnen mögen, suchen nach einer Sprache, die den Menschen nicht aufgibt und nicht vollends an die Zeitverhältnisse ausliefert. Oft greifen sie auf das religiöse Menschheitserbe zurück, für das offensichtlich nicht so leicht Ersatz zu finden ist. So hielt etwa Pier Paolo Pasolini die Redeweise von der „Heiligkeit des Lebens“ für unabdingbar, um Humanität zu schützen und um zu verhindern, dass sich der Mensch selbst wieder „zurückkreuzt zum findigen Tier“ (K. Rahner). Peter Wust, ein gläubiger Philosoph des 20. Jahrhunderts, hat in seinem berühmten Abschiedswort vor seinem Tod diesen Zusammenhang zwischen Gebet und Bewahrung des Menschseins im emphatischen Sinn formuliert: „Ein Mensch wächst für mich in dem Maße immer tiefer hinein in den Raum der Humanität – nicht des Humanismus –, wie er zu beten imstande ist …“ (Wust “1984, llf) Genau hier sehe ich die Relevanz der Gebetssprache, weit über die religiöse Sphäre im engeren Sinne hinaus. So verstehen sich die in diesem Buch gesammelten und erschlossenen Gebete – eine kleine Auswahl aus dem reichen Schatz der Menschheit – nicht als Museumsstücke, die man mit mehr oder weniger gleichgültigem Interesse bestaunen kann, sondern als einzigartige Dokumente des Ringens der Menschen um ihr eigenes Subjektsein angesichts von Angst, Schuld, Endlichkeit. Und dieses Erbe kann durchaus von Zeitgenossen angeeignet werden, die sich selbst nicht als religiös definieren.
Es gibt wohl kaum eine Sprache, die so reichhaltig ist wie die Sprache des Gebetes. Der protestantische Religionswissenschaftler Friedrich Heiler hat in seiner bahnbrechenden religionswissenschaftlichen Studie zum Gebet dieses als den „Ausdruck eines elementaren Dranges nach höherem, reicherem, gesteigertem Leben“, eines „mächtigen Verlangens nach Leben“ bezeichnet: „Der hungernde Pygmäe, der um Speise fleht, der begeisterte Mystiker, der sich in die Größe und Schönheit des unendlichen Gottes versenkt, der schuldgedrückte Christ, der um Sündenvergebung und Heilsgewissheit bittet – alle suchen das Leben; sie suchen Behauptung, Erhöhung und Bereicherung ihres Lebensgefühls; selbst der buddhistische Bettelmönch, der sich meditierend zur vollkommenen Gelassenheit emporarbeitet, sucht in der Verneinung des Lebens ein höheres und reineres Leben zu erlangen.“ (Heiler 1918, 411) Genau darauf ist wohl der schier unerschöpfliche Reichtum der Gebetssprache zurückzuführen. Auch für den katholischen Theologen Johann Baptist Metz ist die Gebetssprache umfassender als jeder rationale Diskurs, sie sei „die einzige Sprache ohne Sprachverbote“, sie kenne „die unglaubliche Bandbreite der Verästelungen menschlicher Existenz“, sie sei die „seltsamste und doch verbreitetste Sprache der Menschenkinder, eine Sprache, die keinen Namen hätte, wenn es das Wort ,Gebet’ nicht gäbe“ (Metz 2006, 98).
Heilers Befund, der das Motiv des Gebets im gesteigerten Lebenswillen erkennt, kann natürlich religionskritisch gewendet werden – wäre da nicht unübersehbar ein Charakterzug der Gebetssprache, der sich quer durch die religiösen Traditionen feststellen lässt: die Inanspruchnahme des Beters. Gebet ist eben nicht einfach die Affirmation unserer Bedürfnisse und Wünsche, die auf eine göttliche Instanz projiziert werden. Diese göttliche Instanz wird vielmehr durchaus als „anspruchsvoll“ empfunden, sie nimmt den Beter in Beschlag, weist ihn ein in das, was seiner puren Selbstbehauptung schlicht widerstreitet: in die Solidarität mit fremdem Leid. Was Johann Baptist Metz für die jüdisch-christliche Tradition herausstellt, lässt sich m.E. durchaus etwa auch für den Buddhismus mit seinem zentralen Impetus der Compassio, des Mitleidens, und andere religiöse Traditionen behaupten. Ja radikaler noch als in der jüdisch-christlichen Tradition wird anderswo die außermenschliche Kreatur in dieses Mitleiden einbezogen. Mit einer religionskritischen Betrachtungsweise der Gebetssprache lässt es sich auch schwer vereinbaren, dass Beten selbst den fragenden Zweifel mit einbezieht, die eigene Existenz ebenso in Zweifel zieht wie die göttliche Instanz, an die man sich wendet, und dass die Gebetssprache nicht nur die Klage, sondern eben auch die Anklage Gottes, den Protest gegen ihn kennt. Genau darin gründet sich die Würde des Beters, der eben – bei aller empfundenen Differenz zum Göttlichen und bei allem „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ (F. Schleiermacher) – auch in seinem Bitten nicht unterwürfig und knechtisch sein muss, sondern eben darin seine Würde und unhintergehbare Freiheit affirmiert.
Wer sich – aus welchem Motiv auch immer – mit den religiösen Traditionen der Menschheit beschäftigen will, der tut dies am besten über deren Gebete. Bereits Friedrich Heiler hat in seiner klassischen Studie festgestellt, das Gebet sei das zentrale Phänomen der Religionen, im Beten werde die Religion – im Gegensatz zu dogmatischen Systemen, mythischen Erzählungen, Riten oder Moralkodizes – erst eigentlich erfasst, da das Gebet den eigentlichen Vollzug der Religion darstelle (oratio est proprie religionis actus, wusste bereits Thomas von Aquin). (vgl. Heiler 1918,1–3) Authentische Gottrede ereignet sich im Gebet, in der Anrufung einer göttlichen Instanz durch den Beter. Alle andere religiöse Rede ist letztlich davon abgeleitet, ein Derivat der Gebetssprache. Diese Auffassung bestätigt kein Geringerer als der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber: „Wenn an Gott glauben … bedeutet, von ihm in der dritten Person reden zu können, glaube ich nicht an Gott. Wenn an ihn glauben bedeutet, zu ihm reden zu können, glaube ich an Gott.“ (Buber 31978, 56) Die unterschiedliche Eigenart von Religionen und Kulturen lässt sich eben deshalb am besten an der jeweiligen Gebetssprache ablesen.1
Diese Vielfalt der Gebetssprache, in der sich die Vielfalt der Religionen und ihres je unterschiedlichen Verständnisses des Absoluten ausdrückt, soll in dieser Anthologie nicht von vornherein eingeengt werden. Friedrich Heiler lässt als Gebet nur den „lebendigen Verkehr des Frommen mit dem persönlich gedachten … Gott“ (Heiler 1918, 413) gelten. Diesem Verständnis schließe ich mich hier ausdrücklich nicht an. Es käme sonst einer Ausgrenzung aller Religionen gleich, die kein theistisches Verständnis teilen. Die reiche religiöse Tradition Asiens müsste zu einem großen Teil unberücksichtigt bleiben. In Bezug auf den Buddhismus etwa ist die Frage...