A Aleph – Ochs
Francesco Torniello da Novara, erstmals gedruckt 1517
Francesco Torniello da Novara (* um 1490, †1589), Franziskanermönch aus Mailand, Typograf und Schriftsteller, definierte in seinem 1517 in Mailand von Gotardo da Ponte gedruckten und veröffentlichten Werk „Opera del modo de fare le littere maiuscole antique“ als erster in einem 18 x 18-Raster den Punkt als typografische Maßeinheit und schuf damit eine geometrische Grundlage der Schriftform. Die antiquiert wirkende Beschreibung der Buchstaben illustriert Torniellos Akribie: „Der Buchstabe A wird vom Quadrat geformt. Die Dicke des rechten Beins sollte ein Neuntel der Vertikalen betragen; es sollte außerhalb des Quadrats beginnen, wo es den Kreis berührt, der durch die oben liegende Horizontale einen halben Punkt links vom Mittelpunkt durchgeht, und in der unten liegenden Ecke des Quadrats enden mit den Kreisen, wie du sie eingezeichnet siehst. Alle äußeren Kreise haben einen Radius von einem Punkt und die inneren einen Radius von einem halben Punkt, gemessen von dem Mittelpunkt eines Kreises bis zu seinem Umfang. Das linke Bein sollte die halbe Dicke des rechten haben, und die Innenlinie sollte einen Startpunkt haben, der mit der Mitte der oberen Linie des Quadrats zusammentrifft, und einen halben Punkt vor der Grundlinie enden, einen Punkt innerhalb der linken Vertikalen des Quadrats. Die Querlinie sollte ein Drittel der Dicke des rechten Beines aufweisen, wobei die obere Linie mit der Horizontalen in der Mitte des Quadrats zusammentreffen sollte.“
Am Anfang stand das A. Und in der Tat hat das A die lange Buchstabenreise durch die Geschichte immer als Gast erster Klasse mitgemacht. Es war die Nummer 1 im proto-semitischen Alphabet, bei den Phöniziern, den Griechen, den Etruskern, den Römern und danach in praktisch allen aus dem Lateinischen entstandenen Alphabeten. Das A öffnete uns das mächtige Tor zur Schriftsprache. Auch Jacob und Wilhelm Grimm zollten diesem Buchstaben in ihrem berühmten Deutschen Wörterbuch Respekt: A, der edelste, ursprünglichste aller Laute, aus Brust und Kehle voll erschallend, den das Kind zuerst und am leichtesten hervorbringen lernt, den mit Recht die Alphabete der meisten Sprachen an ihre Spitze stellen. Das A auf der Kreidetafel kann wie ganz selbstverständlich zugleich die Idee des ganzen Alphabets repräsentieren, wie ein General, der an der Spitze stehend für seine Truppen spricht. Keinem anderen Buchstaben wird dieser Glanz zuteil. Das A bedeutet in der angelsächsischen Welt Erfolg in der Schule, ist es doch die höchste Auszeichnung im sogenannten Grading. A repräsentiert Qualität, Erstklassigkeit, dauerhaften Wert. Die bestimmenden Rating-Agenturen Moody’s, Standard & Poor’s und Fitch verwenden sogar ein AAA, sprich Tripel-A, für die Top-Wertpapiere oder für die Spitzenratings von Staaten und Unternehmen. Wehe der Gesellschaft, die nur auf AA+ oder gar auf B oder C abgestuft wird! Ein Währungsdrama ist die unausweichliche Folge. Die Stufe D steht überhaupt nur noch für „Junk“ (dt.: Müll). In Wissenschaft und Technik ist die Assoziation immer die des „Ersten“, „Stärksten“, „Besten“. Aldous Huxley hat in seinem zeitlosen Roman Brave New World die „Alpha plus“-Klasse als das höchste Ziel aller Vererbungshoffnungen beschrieben. In der Biologie ist das Alphatier immer der Führer der Gruppe. Und in der Offenbarung des Johannes sagt der erhöhte Jesus Christus: „Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.“ Diese beiden machtvollen Randbuchstaben, das Alpha und das Omega, stehen in alter Tradition für das Umfassende, das Ewige, die Totalität, und letztlich für Gott, unseren Schöpfer. Gerne wird daher das A für zahllose Abkürzungen gewählt, wie weiter unten noch im Detail ausgeführt werden soll. Unterschwellig wird dabei für alle dahinter stehenden Organisationen hohe Qualität suggeriert. Das im englischsprachigen Raum häufig verwendete Gütesiegel „A-1“, erstklassig, wiederum, ist der nautischen Sprache des 18. Jahrhunderts entlehnt. Die weltberühmte Versicherungsgesellschaft Lloyds of London – ein in der Gründerzeit als Kaffeehaus dem Geschäftsklatsch dienender Ort – entschied sich für A und B als Qualitätsmerkmale von Schiffsrümpfen, für 1 und 2 als Gütesiegel für die Ausrüstung. Eine weitere Sprachschöpfung, das „A-okay“, wurde mit dem ersten bemannten Raumflug eines Amerikaners geschaffen. Alan Shepards Radiomeldung „okay“ dürfte missverstanden und die überschwänglichen Berichte über den Allbesuch demzufolge mit einem „A-okay“ ausgeschmückt worden sein. Statt „in Ordnung“ wollte die gestresste Bodencrew wohl nur zu gern ein „hervorragend“ aus dem Mund des populären Astronauten vernehmen.
Eine der wenigen negativen Verwendungen dieses Buchstabens findet sich im mittelalterlichen Europa und vor allem im puritanischen England. Wer des Ehebruchs bezichtigt wurde, dem wurde zusätzlich zu körperlichen Strafen ein degradierendes Erkennungszeichen, ein rotes A bzw. AD (lat. adulterium, „Ehebruch“), auf die Kleidung genäht. Der 1850 erschienene Roman Nathaniel Hawthorns Der scharlachrote Buchstabe (The Scarlet Letter) macht diese demütigende Praxis zum Thema seiner Betrachtung der puritanischen Gesellschaft Bostons im 16. Jahrhundert.
Von Linguisten wurde das A als „der einfachste und reinste Vokal“ bezeichnet, der durch volle Öffnung des Mundes ohne störende Blockaden gebildet wird. Kein Wunder, dass auch ein Baby diesen Laut als allerersten in die Welt hinausschreit. Und auch beim Arztbesuch begleitet ein gedehntes „aaa“ die Kontrolle des entzündeten Halses. Zusammen mit E, I, O und U, vielleicht noch zwischenzeitlich dem Y, bildet das A die Gruppe jener machtvollen Buchstaben, mit denen sämtliche Vokallaute symbolisiert werden. Kein leichtes Unterfangen, da etwa im Englischen mehr als zwanzig Laute vorkommen, doch nur eine Handvoll passender Buchstaben zur Verfügung steht. Eine Demonstration der Vielseitigkeit, die schon unserem ersten Vokal abverlangt wird, zeigt der folgende Satz: „Was Allan’s pa all pale?“ „Sechs mit einem Streich“ – unterschiedliche a-Laute sind gemeint ([ɔ] [æ] [ə] [a:] [ɔ:] [ei]). Oder ein Beispiel aus dem Wiener Dialekt, das zunächst in der phonetisch-transkribierten Wiedergabe nahezu unverständlich wirkt. Szene: Kasse im Supermarkt: Die Kassiererin fragt den Kunden: „Und was ist das?“ Kunde: „… ä aa a ö.“ Dreimal ein [a]-, einmal ein [o]-Laut. Ins Hochdeutsche übersetzt bestätigt der Kunde, dass das Objekt, nach dem die Kassiererin fragt, „ohnehin [ä] auch nur [aɐ] ein [a] Öl [ø]“ ist. Selbst das simple A kann es ganz schön in sich haben.
Der prominente Buchstabe A steht nicht nur am Anfang nahezu aller Alphabete, sondern ziert noch dazu die ehrwürdigen Kalksteininschriften der uralten Fundstätte Wadi el-Hol in Mittelägypten, nahe Luxor. Seine semitisch sprechenden Schöpfer waren möglicherweise fremde Söldner, Bergleute oder auch fahrende Händler, die um 1800 v.Chr. das gut erkennbare Piktogramm eines Ochsenkopfes in das weiche Gestein eines Flussbetts entlang der Militär- und Handelsrouten zwischen Theben und Abydos ritzten. Der diesem Buchstabensymbol zugeordnete Knacklaut, durch das explosive Lösen des Kehlkopfverschlusses beim folgenden Vokal zumindest für das geübte Ohr hörbar, wurde Aleph („Ochs“) genannt. Heute wird dieser ungewohnte Knacklaut im internationalen phonetischen Alphabet durch das Zeichen ‘ charakterisiert, mit dem Namen ‘Aleph oder ‘Alef. Um sich diesen Laut vorzustellen, müssen Sie nur kurz Micha-el sagen und den gebrochenen Übergang zwischen den zwei Vokalen erspüren. Dem Verständnis der Zeit entsprechend begann übrigens jeder semitische Buchstabenname mit einem Laut, der eben diesen Buchstaben symbolisierte. Dieses akrofonische Prinzip, so der Fachjargon, wurde im gesamten Uralphabet nahezu lückenlos durchgehalten. Mit letzter Sicherheit lässt sich die erste Position des Buchstabens A im Alphabet jedoch erst um 1300 v.Chr. nachweisen, da archäologische Ausgrabungen aus dieser Zeit komplette kanaanäische Buchstabenlisten zeigen. Ebenso wiederholt sich dieses Muster in späteren phönizischen Funden sowie in der bis heute verwendeten hebräischen Schrift. Hier ist sogar noch der alte Name Alef erhalten geblieben, allerdings ohne den in der Frühzeit des Alphabets prägenden Knacklaut. Die große Frage jedoch, warum gerade der „Ochsenkopf“ die Spitze der Buchstabenreihe bildet, bleibt bislang reine Spekulation. Vermutlich wird die Antwort auch niemals mit letzter Sicherheit gegeben werden können. Manche Erklärungsversuche, wie die der Hervorhebung der Heiligkeit des Stiers im mediterranen Raum und im Nahen Osten, oder der mnemotechnische Effekt, der mit der Platzierung eines „Tierbuchstabens“ gegeben war, können mit keiner wissenschaftlichen Beweisführung aufwarten. Wir müssen einfach das A als altehrwürdigen Anfang aller Alphabete...