1.
Der Putschversuch
und seine Folgen
Der 15. Juli 2016 in der Türkei
15. Juli 2016. Freitag. Ich bin beruflich in Nürnberg. Am Abend ist eine Informationsveranstaltung unserer Stiftung. Ich bin schon wieder im Hotel, da entdecke ich auf Twitter die ersten Nachrichten aus der Türkei:
Panzer auf den Straßen in Ankara. Soldaten besetzen den Flughafen Istanbul. Bomben auf das türkische Parlament. Putsch!
Mein erster Gedanke: Lieber eine schlechte Demokratie als ein Putsch! Ich poste den Satz auf Twitter und auf Facebook. Oft habe ich Erdoğan kritisiert, aber ein Putsch gehört nicht zur Demokratie.
Noch in der Nacht versuche ich so viele Informationen wie möglich zu bekommen. Im Internet kursieren unendlich viele Gerüchte. Alles ist in Aufruhr. Es gibt Nachrichten von Schießereien, tieffliegenden Militärflugzeugen, von Toten. Wer steckt dahinter? Wie ernst steht es um die Türkei?
Diese Nacht veränderte mein Leben. Ich bin hier aufgewachsen, bin deutscher Staatsbürger und überzeugter Demokrat. Schon in meiner Jugend wurde ich Mitglied erst der Jusos, dann der SPD. Und nun geschahen 2500 Kilometer entfernt Dinge, die mein Leben hier in Deutschland auf den Kopf stellten. Auf einmal war alles anders, in einem enormen Tempo. Die Ereignisse überschlugen sich: Nachts rollten die Panzer, morgens war der Putschversuch niederschlagen – und mittags war ich schuld. Nicht ich allein, aber alle, die mit Hizmet, der sogenannten Gülen-Bewegung, zu tun hatten. Ob in der Türkei, in Tansania, in den USA oder in Deutschland – wir alle – Tausende, nein, Millionen von Menschen rund um den Globus – werden beschuldigt, für etwas verantwortlich zu sein, was wir zutiefst ablehnen: Gewalt. Ich gelte als Sprecher der Hizmet-Bewegung in Deutschland und stehe ganz oben auf der Liste der Beschuldigten. Ich habe – schon seit Sommer 2015 – Einreiseverbot in die Türkei und bekomme seit dem 15. Juli 2016 übelste Beschimpfungen, ja sogar Morddrohungen. Ich stehe in engem Austausch mit der Polizei. Als Deutscher fühle ich mich sicher. In Deutschland funktioniert der Rechtsstaat. Doch natürlich habe ich Angst – auch um meine Familie. Die Stimmung ist nach wie vor aggressiv, auch hierzulande.
Einrichtungen der Hizmet-Bewegung werden beschimpft, beschmiert und beschädigt. In Gelsenkirchen werden in einem Jugendzentrum die Scheiben eingeworfen. In Stuttgart wird eine Schule von der Polizei bewacht. An DITIB-Moscheen hängen türkische Plakate, die verkünden, dass »Gülen-Anhänger« keinen Zutritt haben, dazu Listen mit den Namen der unerwünschten Personen. Vielerorts kursieren Boykott-Aufrufe, betroffen sind Dutzende Geschäfte, Restaurants und andere Einrichtungen, die sich, so der Vorwurf, zum Prediger Gülen bekennen. Im Internet schreibt jemand anonym: »Diese Menschen hätte man im Osmanischen Reich geköpft. Heute sollte man sie hängen.«
Der Vorstand der staatlich geförderten Kita »Frohsinn« in Augsburg, einer Hizmet-nahen Einrichtung, antwortet auf der Kita-Homepage: »An alle Erdoğan-Anhänger in Augsburg und Umgebung: Ich habe den Putsch nicht angezettelt. Unser Verein hat ihn nicht angezettelt. Falls ihr das trotzdem glaubt, dann macht es wie wirkliche Demokraten und geht den Rechtsweg. Aber lasst die Einrichtungen in Frieden!«
Dass es in der Türkei rumorte und dass ein Bürgerkrieg immer wahrscheinlicher wurde, davon war seit Monaten die Rede. In einzelnen Medien wurde sogar schon vor einem Putsch gewarnt, aber meist hatten Experten die dafür nötige Schlagkraft des Militärs bezweifelt. Ich war froh darüber. Politische Auseinandersetzung funktioniert mit Worten, nicht mit Waffen. In Deutschland ist das selbstverständlich. In der Türkei muss man das manchen Menschen erst erklären. Spätestens seit jener Juli-Nacht scheint derlei demokratisches Grundverständnis in der Türkei vergessen. Im ganzen Land herrscht seither der Ausnahmezustand. Grundlegende demokratische Rechte sind außer Kraft gesetzt. Presse- und Meinungsfreiheit ausgehebelt. Zehntausende Menschen mussten ihren Pass abgeben, dürfen das Land nicht mehr verlassen. Wissenschaftler können nicht mehr zu internationalen Kongressen reisen, Geschäftsleute nicht mehr zu Messen im Ausland, Privatpersonen nicht mehr zu ihrer Verwandtschaft außerhalb der Türkei. Die Gewaltenteilung von Exekutive, Legislative und Judikative – tragende Säule jeder Demokratie – gilt in der Türkei nicht mehr. Erdoğan und seine engsten Vertrauten beherrschen und entscheiden über alles.
Musste man bis dahin nach Berichten aus und über die Türkei in Deutschland gezielt suchen, so waren die deutschen Medien plötzlich voll von Nachrichten aus der Türkei. Im Fernsehen liefen Sondersendungen mit Experten und solchen, die erst über Nacht zu welchen wurden. Doch so viel man auch berichtete, redete und analysierte: Jede Antwort schien neue Fragen aufzuwerfen. Was war da los? Wer steckte dahinter?
Konsequenzen für das Leben in Deutschland
Keine vierundzwanzig Stunden, nachdem der Putsch niedergeschlagen war, der Rauch hing noch über den bombardierten Häusern, hatte die türkische Regierung einen Schuldigen gefunden: Gülen. Fethullah Gülen habe den Putsch angezettelt, seine Anhänger hätten ihn ausgeführt. Es gab und gibt bis heute weder Bekennerschreiben noch Beweise; doch für Erdoğan und seine Minister gab und gibt es keinen Zweifel.
In der Nacht des Putschversuchs hatte Erdoğan die Bevölkerung aufgerufen, sich den Panzern entgegenzustellen, ihr Leben zu opfern. Viele folgten diesem Aufruf, 265 Menschen kamen dabei um. Kurz darauf nannte Erdoğan den Putschversuch »ein Geschenk Gottes«, der ihm die Möglichkeit gebe, das Land gründlich zu »säubern«.
Noch am gleichen Wochenende rollte eine Verhaftungswelle bisher unbekannten Ausmaßes durch die Türkei. In den folgenden Tagen und Wochen werden Tausende Menschen ins Gefängnis gebracht. Die Säuberungswelle trifft Soldaten, Journalisten, Akademiker, Piloten und Geschäftsleute. Wer nicht selbst im Visier des Staatsschutzes steht, kennt jemanden. Es ist eine Hexenjagd, schlimmer als die Verfolgung vermeintlicher Kommunisten in der McCarthy-Zeit in den 1950er-Jahren der USA.
Tausende landen zumindest vorübergehend im Gefängnis. Ihnen soll, so heißt es, irgendwann ein ordentlicher Prozess gemacht werden. Bis dahin sitzen sie wochenlang in Haft. Amnesty International beklagt unwürdige Zustände in den Gefängnissen. Im August kündigt Justizminister Bekir Bozdag an, 38 000 Kriminelle aus den Gefängnissen zu entlassen, um Platz zu schaffen für die vielen neuen Gefangenen. Im September passiert das dann tatsächlich. Rund 50 000 Menschen wurden inzwischen verhaftet und gegen weitere knapp 100 000 Ermittlungen aufgenommen. Der immer gleiche Vorwurf: Vorbereitung und Beteiligung am Putsch. Beweise: keine. Es trifft vor allem die intellektuelle Oberschicht. Schon bald wird gespottet: In den Gefängnissen hat die Türkei die größte Akademikerdichte der Welt!
Zehntausende vermeintliche Staatsfeinde macht Erdoğan aus. Woher die langen Listen mit ihren Namen auch stammten, wann und von wem sie auch vorbereitet wurden, nun werden sie systematisch abgearbeitet. Rund 135 000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes wurden bis Mitte November 2016 suspendiert. Darunter mehrere 100 000 Lehrerinnen und Lehrer, 8800 Mitarbeiter des Innenministeriums, 7700 Sicherheitskräfte, 4700 Militäroffiziere, 3500 Richter und Staatsanwälte, 5000 Akademiker, Uni-Präsidenten, Professoren, Schulleiter, 1500 Mitarbeiter der Religionsbehörde und, und, und. Dazu wurden 3500 Firmen und Einrichtungen geschlossen: 1300 Schulen, 15 Universitäten, 800 Wohnheime, 35 Krankenhäuser, 129 Stiftungen usw.
Solche Zahlen werden von einer Gruppe junger Journalisten auf der Webseite www.turkeypurge.com veröffentlicht, die dort auch transparent machen, wie sie arbeiten und was ihre Quellen sind. Die Zahlen stammen großteils von der türkischen Regierung selbst.
Die türkische Regierung erklärt offiziell und ungeniert, dass sie gerade im großen Stil Unternehmer und Selbstständige enteignet. Es gehe um ein Gesamtvermögen von 60 Milliarden US-Dollar, das »den Gülenisten entrissen« wurde. Doch die Umsätze, die die enteigneten Unternehmen machen, gehen in dreistellige Milliardenhöhe. Die Maßnahmen treffen auch zahlreiche deutsche Unternehmen. Ein renommierter Herrenausstatter lässt seine exklusive Ware von einem türkischen Zulieferer in der Nähe von Izmir mit 4000 Leuten schneidern – das Unternehmen ist jetzt enteignet und wird unter staatlicher Zwangsverwaltung geführt, mit fatalen Folgen für die Wirtschaft. Betroffen von den wirtschaftlichen Folgen der Säuberungsaktionen sind rund 6000 Firmen mit deutscher Kapitalbeteiligung. Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Türkei. Es geht um viel Geld, verdammt viel Geld. Denn weil es um so viel geht, hüllen sich alle Betroffenen und Beteiligten in Schweigen. Bloß nicht den Zorn Erdoğans auf sich ziehen!
Dabei halten alle die Begründung der Säuberung für vorgeschoben. Sie lautet immer gleich: Die Verhafteten und Enteigneten seien Anhänger von Fethullah Gülen. Als Beweis reicht der Besitz von Büchern – oder die Denunziation durch irgendeinen Unbekannten. Die regierungsnahe Tageszeitung Sabah richtet im September 2016 eine Hotline ein, über die anonym »Gülen-Anhänger« angezeigt werden können, und zeigt Bilder von berühmten Künstlern, die das Volk »verraten« hätten. Wenn sich ein Beschuldigter der Verhaftung entzieht, wird kurzerhand seine Familie in Haft genommen. Wer dies...