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Die 'Hamletmaschine' von Heiner Müller und deren Inszenierung von Robert Wilson

'Was der Text sagt, sagt der Text'

AutorDaniel Manthey
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2004
Seitenanzahl166 Seiten
ISBN9783638325615
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis39,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 1999 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: 1,0, Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover (Seminar für deutsche Sprache und Literatur), 177 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: 'Am Ende standen sie Hand in Hand an der Rampe, das wohl seltsamste Paar des zeitgenössischen Theaters: der schmächtige Dichter aus Eppendorf/Sachsen und der baumlange Mann aus Waco/Texas.' Der Kritiker der 'Zeit', Benjamin Henrichs, schreibt über die Zusammenarbeit des deutschen Dramatikers Heiner Müller und Robert Wilson anläßlich der Inszenierung der HAMLETMASCHINE2 in Hamburg, auf der Werkstatt-Bühne des Thalia Theaters. Nicht nur äußerlich bestehen große Unterschiede zwischen den beiden Theaterschaffenden, ihre Zusammenarbeit ist von gegensätzlichen Voraussetzungen geprägt. Laurence Shyer schreibt darüber: 'A more unlikely and mutually contradictory collaboration could hardly be imagined than that of Robert Wilson and the East German playwright Heiner Müller.' Der Regisseur aus Amerika, 'political naif', inszeniert das Stück eines 'Marxist poet'. Während Müller in historischen Zusammenhängen verwurzelt ist, unter zwei Diktaturen in Deutschland leben mußte, ist Wilson in der vergleichsweise heilen Welt einer amerikanischen Kleinstadt aufgewachsen. Wilsons Theaterkonzeption ist die Gleichberechtigung der einzelnen Theaterkünste, der Text tritt also aus seiner Hauptrolle zurück, der Autor Müller verliert an Wichtigkeit gegenüber den anderen Elementen des Theaters. Trotzdem ist Müller mit der Inszenierung durch den amerikanischen Regisseur sehr zufrieden. Wilson reüssiert mit einem Stück, an dem vor ihm viele Regisseure gescheitert sind. Heiner Müller selbst bezeichnete die HAMLETMASCHINE als unspielbar. Unter literaturwissenschaftlichen Aspekten interessiert zunächst einmal der Text des Stückes, von Heiner Müller 1977 fertiggestellt, der sich einer oberflächlichen, rein unterhaltsamen Lektüre sperrt, oder wie Marie-Louisa Kobus schreibt: 'Der erste Eindruck hinterläßt ein Gefühl des Nichtverstehens.'

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Leseprobe

I. Einleitung


 

„Am Ende standen sie Hand in Hand an der Rampe, das wohl seltsamste Paar des zeitgenössischen Theaters: der schmächtige Dichter aus Eppendorf/Sachsen und der baumlange Mann aus Waco/Texas.“[1] Der Kritiker der „Zeit“, Benjamin Henrichs, schreibt über die Zusammenarbeit des deutschen Dramatikers Heiner Müller und Robert Wilson anläßlich der Inszenierung der HAMLETMASCHINE[2] in Hamburg, auf der Werkstatt-Bühne des Thalia Theaters. Nicht nur äußerlich bestehen große Unterschiede zwischen den beiden Theaterschaffenden, ihre Zusammenarbeit ist von gegensätzlichen Voraussetzungen geprägt. Laurence Shyer schreibt darüber: „A more unlikely and mutually contradictory collaboration could hardly be imagined than that of Robert Wilson and the East German playwright Heiner Müller.“[3] Der Regisseur aus Amerika, „political naif“[4], inszeniert das Stück eines „Marxist poet“[5]. Während Müller in historischen Zusammenhängen verwurzelt ist, unter zwei Diktaturen in Deutschland leben mußte, ist Wilson in der vergleichsweise heilen Welt einer amerikanischen Kleinstadt aufgewachsen. Wilsons Theaterkonzeption ist die Gleichberechtigung der einzelnen Theaterkünste, der Text tritt also aus seiner Hauptrolle zurück, der Autor Müller verliert an Wichtigkeit gegenüber den anderen Elementen des Theaters. Trotzdem ist Müller mit der Inszenierung durch den amerikanischen Regisseur sehr zufrieden. Wilson reüssiert mit einem Stück, an dem vor ihm viele Regisseure gescheitert sind. Heiner Müller selbst bezeichnete die HAMLETMASCHINE als unspielbar.

 

Unter literaturwissenschaftlichen Aspekten interessiert zunächst einmal der Text des Stückes, von Heiner Müller 1977 fertiggestellt, der sich einer oberflächlichen, rein unterhaltsamen Lektüre sperrt, oder wie Marie-Louisa Kobus schreibt: „Der erste Eindruck hinterläßt ein Gefühl des Nichtverstehens.“[6] Doch auch die reflektierende, mehrfache Lektüre und das Erforschen des Textes bringt den Leser nicht zu einer eindeutigen Lösung der Probleme des Textes, wie Genia Schulz feststellt. Der Leser müsse „[...] den Anspruch auf das Verstehen des ´Ganzen´ fallen lassen.“[7] Daraus ergibt sich auch für die Literaturwissenschaft eine neue Herangehensweise an einen Text. Guido Hiß formuliert es allgemein als „Abkehr von Vorstellungen der idealen Interpretierbarkeit eines künstlerischen Textes“[8]. Es gibt nicht mehr die einzige Lösung eines Problems, nicht mehr eine klare Moral der Geschichte, schon allein, weil es die Geschichte nicht gibt. Vielmehr müsse man als moderner Interpret sich der Umstände der Analyse bewußt sein, Hiß nennt es die „Einsicht in die geschichtliche Relativität auch der wissenschaftlichen Analyse“[9].

 

Unterschiedliche Lektürevoraussetzungen führen zu unterschiedlichen Interpretationen. Ein Leser der damaligen DDR hat die HAMLETMASCHINE sicherlich anders verstanden, als es einem Leser im vereinigten Deutschland möglich ist. Der erste Abschnitt dieser Arbeit widmet sich deshalb dem geschichtlichen und persönlichen Rahmen Müllers bei der Niederschrift der HAMLETMASCHINE, sowie seinen grundsätzlichen Auffassungen von Theater.

 

Heiner Müller selbst sieht seinen Text als vielfältiges Themen-Angebot an die Rezipienten, die sich aufgrund der polyphonen Textvorlage ihr Thema heraussuchen können: „Ich habe, wenn ich schreibe, immer nur das Bedürfnis, den Leuten so viel aufzupacken, daß sie nicht wissen, was sie zuerst tragen sollen, und ich glaube, das ist auch die einzige Möglichkeit. [...] Man muß jetzt möglichst viele Punkte gleichzeitig bringen, so daß die Leute in einen Wahlzwang kommen.“[10] Unter diesen Gegebenheiten kann eine Interpretation der HAMLETMASCHINE nur ein - wenn auch möglichst objektiver - subjektiver Blick auf den Text sein.

 

Ein Beispiel für eine mögliche Lesart der HAMLETMASCHINE liefern Genia Schulz und Hans-Thies Lehmann in ihrer Interpretation: „Müllers Maschine läßt sich auf unterschiedliche Weise in Gang setzen, verschiedene Gänge können eingelegt werden. Je nachdem, welche Lesemaschine angeschlossen wird, leitet sie auf verschiedenen Wegen jeweils andere Energien anderswohin. Eine Lesart: >Hamletmaschine< ist eine Selbstreflexion des marxistischen Intellektuellen im Spiegel der Hamlettragödie.“[11] Heiner Müller selbst schlägt eine andere Lesart vor: „HAMLETMASCHINE [...] kann gelesen werden als Pamphlet gegen die mörderische Illusion, daß man in unserer Welt unschuldig bleiben kann.“[12]

 

Teil II dieser Arbeit soll mögliche Lesarten der HAMLETMASCHINE erläutern, wobei zwischen einer Interpretation der einzelnen Szenen und einer Zusammenfassung von übergreifenden Themen getrennt wird. Zunächst gehe ich auf den Shakespeare-Bezug der HAMLETMASCHINE und auf formale Aspekte ein. Jeder einzelnen Szene ist ein Kapitel gewidmet, drei Exkurse befassen sich mit der im Stück dargestellten Geschlechterdifferenz, mit Heiner Müllers Geschichtsbild und mit dem Vorwurf der Kritiker, Müllers Stück sei zu pessimistisch.[13] Es wird sich zeigen, daß Heiner Müllers Ziel, durch die Darstellung des Scheiterns seiner Charaktere, in einer grundsätzlichen Erneuerung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu finden ist. Der Autor verbindet die Hoffnung auf eine soziale Revolution mit seiner Darstellung der Katastrophen, letztlich verfolgt er ein optimistisches Ziel. Frank-Michael Raddatz spricht in diesem Zusammenhang von Müllers Stücken als „kalkulierten Alpträumen“[14].

 

Nicht der Sturz der DDR als solche ist Müllers Ziel, sondern die Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen, um das utopische Ziel der klassenlosen Gesellschaft zu verwirklichen. Müller ist Kritiker des real existierenden Sozialismus der DDR, nicht generell der sozialistischen Ideen, wie Carl Weber festhält: „He definitely has chosen the side of socialism. But, just as definitely, he occupied the position of a highly skeptical and deeply concerned observer, the lonely corner of a truly independent thinker, in an age and in a country where such a position was never especially popular.“[15] Die HAMLETMASCHINE  wurde in einer Phase geschrieben, in der sich „Müllers Protest gegen die Politik und den Rationalismus zu artikulieren“[16] beginnt. Frank-Michael Raddatz sieht noch ein anderes Thema, das Heiner Müller in den siebziger Jahren beschäftigt. Müllers Weg führe von der „Gesellschafts- zur Zivilisationskritik“[17].

 

Doch nicht bloß auf politisch-sozialer Ebene ist der Wunsch Heiner Müllers eine revolutionäre Veränderung der Situation, eng damit hängt für ihn auch die allgemeine Entwicklung der Theater zusammen. Nur ein von Grund auf verändertes Theater bietet die Möglichkeit zur Einflußnahme auf die Zuschauer. Nicht mehr die Moral der Fabel zählt, sondern das Theater dient dazu, Denkprozesse der Zuschauer anzuregen, damit diese ihre eigene Standpunkte entwickeln können. Katharina Keim spricht vom „Auftakt zu einer neuen ´metadramatischen´ Dramaturgie“[18].  Das Drama dient nur noch als Anregung, nicht mehr als mimetische Problemlösung. Heiner Müller will ein mündiges Publikum, da eine Revolution nur von einer überzeugte Mehrheit ausgehen kann. Ausgang der Revolution ist die Beunruhigung der Massen, die Müller mit seinen Stücken schüren will, so Vlado Obad: „Für den Leser/Zuschauer [...] werden Lösungen verweigert, weit eher entsteht in der Rezeption der Eindruck tiefer Beunruhigung und Warnung, nicht selten aber auch Unverständnis und Ablehnung.“[19]

 

In diesem Punkt stimmen die Theaterkonzeptionen von Heiner Müller und Robert Wilson überein. Während Heiner Müller mit dem Text HAMLETMASCHINE zahlreiche Lesarten und Anregungen für die Rezipienten geben möchte, also eine eindeutige Interpretation verweigert, geht Robert Wilson nicht mit den üblichen Kategorien der Regie an den Text heran. Er versucht nicht, durch eine psychologisierende Inszenierung den Text auf der Bühne durch Bilder zu verdeutlichen, die Bedeutungen von Sprache und Bildern zu doppeln, sondern schafft eine ästhetische Parallelwelt, die noch weitere Lesarten für die Rezipienten ermöglicht. Ist es dem Leser des Textes nur möglich, verschiedene Themen, die Müller andeutet, zu reflektieren, kommt jetzt die ästhetische Ebene der Theaterkünste hinzu, die für sich genommen eine eigenständige Bedeutung haben, aber auch den Text durch Kontraste oder Unterstützungen noch vielfältiger erscheinen lassen. Ein Beispiel dafür ist die von Wilson eingesetzte Wiederholung von einzelnen Sätzen, die durch unterschiedliche Betonung verändert werden. Manche Aussage wird so ins Lächerliche gezogen, obwohl der Wortgehalt eigentlich zu Erschrecken führen muß. Ziel des dritten Teiles dieser Arbeit ist die Darstellung dieses Phänomens. Durch vom Text unabhängige Bilder bieten sich dem Rezipienten noch eine Vielzahl weiterer Lesarten, die Müller im Text direkt nicht vorgesehen hatte. Aufgabe dieser Arbeit kann es jedoch nicht sein, eine exakte theaterwissenschaftliche Analyse der Wilson-Inszenierung...

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