"Kapitel 3.3, Der Umbau der Bundesanstalt / Errichtung neuer Institutionen:
In der Systemtheorie sind Organisationen wie Unternehmen und Verwaltungseinheiten ein eigener Typus sozialer Systeme. Die Autopoiesis basiert auf formalisierter Mitgliedschaft sowie auf dem Prozessieren von Entscheidungen. Entscheidungen stellen die elementaren Operationen innerhalb von Organisationen dar. Mit den Hartz-Reformen wurden bestehende Organisationen umgebaut und neue Organisationen geschaffen. Die Bundesanstalt soll zu einem modernen Dienstleistungsunternehmen namens Bundesagentur für Arbeit umstrukturiert werden. Dies umfasst eine neue Steuerungsphilosophie, ausgerichtet an Kriterien der Wirtschaftlichkeit und prognostizierten Wirkungen. In dieser Definition wird bereits die, für die Implementierung der Hartz-Reformen wichtige, strukturelle Kopplung zwischen Wirtschaftssystem und politischem System erkennbar. Die ehemalige Bundesanstalt für Arbeit galt als eine der stabilsten Säulen des sozialen Sicherungssystems. Sie war eine Organisation mit über 90.000 Beschäftigten und einem Etat von mehr als 54 Milliarden Euro. Die Verwaltungskosten wurden im Haushaltsjahr 2001 mit 4,9 Milliarden Euro beziffert. Die Arbeitsverwaltung galt als eine der zentralen Säulen des sozialen Sicherungssystems in Deutschland, da sie über eine enorme korporatistische Ausprägung verfügte. Der Verwaltungsrat sowie der Vorstand der BA waren ein Paradebeispiel für die in der Systemtheorie angenommene strukturelle Kopplung zwischen den verschiedenen Funktionssystemen. Sie bestanden aus Arbeitgebern, welche das Wirtschaftssystem repräsentieren und aus Repräsentanten des PAS, beispielsweise Gewerkschaftsmitglieder oder Vertreter der öffentlichen Hand. Die Übergänge zwischen PAS und Wirtschaftssystem sind hier fließend. Da die Systemtheorie nicht akteurszentriert ist, muss immer bedacht werden, dass (um ein Beispiel zu nennen) ein Mitglied eines Arbeitgeberverbandes gleichzeitig dem Wirtschaftssystem wie auch dem PAS angehören kann. Es kommt immer auf den jeweiligen Kontext an.
Neben dem Umbau der BA wurde eine neue Organisation bzw. Institution geschaffen, die Arbeitsgemeinschaften (ARGE). Aus Sozial- und Arbeitsämtern wurde Personal entsandt, aus welchem sich die ARGEn zusammensetzen. Wie zu Anfang erwähnt, gelten Organisationen als soziale Systeme. Systemtheoretisch induziert wirft das die Frage auf, wie eine Zusammenlegung zweier autopoietischer Systeme funktionieren soll. Schließlich verfügt jedes dieser Systeme über seinen eigenen Code und kann demnach nicht mit dem anderen System kommunizieren. Es wäre lediglich eine strukturelle Kopplung über die Programme möglich. Dieser Aspekt wird zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal aufgegriffen.
Die Aufgabe des Personals in den ARGEn besteht in der intensiven Beratung und Betreuung sowie Aktivierung der ALG II Empfänger. ALG I Empfänger werden von der Bundesagentur für Arbeit verwaltet. Auch hier wird in hohem Maße auf Aktivierung gesetzt. Aktivierung gehört zu den neueren Leistungen der Arbeitsverwaltung. Die skizzierte Umgestaltung der Arbeitsverwaltung zeigt in welchem Maße soziale Systeme, hier in Form von Organisationen, dazu fähig sind auf Irritationen aus der Umwelt zu reagieren und diese so zu verarbeiten, dass die Systemerhaltung gewährleistet ist. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang noch einmal, dass Systeme zu ihrer Erhaltung nicht an bestimmte Leistungen gebunden sind. Bestehende Leistungen können durch äquivalente Leistungen ersetzt werden. Die Struktur kann sich durchaus ändern, ohne dass die Funktionserfüllung davon betroffen ist. Im Kern ist lediglich der Leistungszusammenhang zwischen einem Sozialsystem (in diesem Fall der Arbeitsverwaltung) und seiner gesellschaftlichen Umwelt relevant.
Was meint nun diese abstrakte Formulierung vom Leistungszusammenhang zwischen Arbeitsverwaltung und gesellschaftlicher Umwelt? Grob formuliert geht es selbstverständlich um die höchst mögliche Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Im Detail kann dies folgendermaßen aussehen: Die Betreuung der ALG II Empfänger kann beispielsweise Eingliederungsvereinbarungen beinhalten. Sie legen Schritte fest, mit deren Hilfe die Integration in den Arbeitsmarkt gefördert werden soll. Grundlage für eine solche Eingliederungsvereinbarung ist ein Profiling, in welchem die Fähigkeiten sowie Möglichkeiten des Betroffenen, kurz gesagt, seine Merkmale, erfasst werden. Es muss jedoch beachtet werden, dass das Handeln eines Fallmanagers nicht ausschließlich daran gemessen wird, ob er den Klienten die angemessene Hilfe zukommen lässt, sondern dass sich bei der Beurteilung seines Handelns, in nicht unerheblichem Maß, an den fiskalpolitischen Rahmenbedingungen der sozialstaatlichen Leistungserbringung orientiert wird. Somit sind soziale Dienstleistungen den ökonomischen Imperativen einer Standortpolitik unterworfen.
Stichworte wie Effizienzsteigerung, Kundenorientierung bzw. Bürgernähe, Dienstleistung u.ä., welche im Diskurs über die Hartz-Gesetze Anwendung finden, sind maßgeblich durch die Diskussion um die Verwaltungsmodernisierung geprägt. Der Auftrag der „Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ bestand darin, ein Konzept zu einer effizienteren Arbeitsmarktpolitik zu entwickeln, welche die Schaffung von Arbeitsplätzen unterstützen sollte. Die volle Wirksamkeit der, von der Kommission vorgeschlagenen, Maßnahmen setzt voraus, dass die Bundesagentur für Arbeit zu einer modernen Dienstleistungsagentur umgewandelt wird. Des Weiteren stehen Instrumente, wie Qualitätssicherung, Output-Orientierung oder Controlling nicht nur im Bereich der Verwaltung auf der Tagesordnung. In der sozialen Arbeit gehören sie ebenfalls zum Alltag. Demnach kann durchaus von einer „Verbetriebswirtschaftlichung“ der sozialen Arbeit gesprochen werden.
Ein Ziel der Arbeitsmarktreformen sollte, laut dem Vorschlag der Kommission, die Betreuung aller erwerbsfähigen Arbeitslosen von einer Stelle sein. Dem so genannten JobCenter. Dieses ist in den ARGEn organisiert. Darüber hinaus sollten alle erwerbsfähigen Arbeitslosen die gleiche Leistung erhalten. Diese einheitliche Zuständigkeit soll eine optimale Integration bewirken, indem alle erforderlichen Maßnahmen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt vom JobCenter bereitgestellt werden. Das hört sich gut an, ist in der Realität allerdings durchaus mit Problemen behaftet. Es bestehen Konflikte in der Zusammenarbeit zwischen den Trägern der Grundsicherung. Dies haben auch die involvierten Akteure erkannt. Eine Vereinbarung vom 1. August 2005 zwischen dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, der Bundesagentur für Arbeit und den kommunalen Spitzenverbänden hat zum Ziel Arbeitslose in den JobCentern besser zu betreuen und schneller in einen Job zu bringen. Es wurde realisiert, das interne Organisationsprobleme, welche mit Reibungsverlusten und Kompetenzgerangel einhergehen, zu viel Zeit in Anspruch nehmen, welche auf Kosten der Arbeitslosen geht.
Hätte man sich im Vorfeld mit Theorien staatlichen Handelns, in diesem Falle explizit mit der Systemtheorie, beschäftigt, so hätten derartige Probleme vermieden werden können. Ergebnis der Vereinbarung ist nämlich die stärkere Verlagerung der Zuständigkeiten auf die örtliche Ebene. Ein Systemtheoretiker hätte ohnehin dafür plädiert, dass die Kommunen die Arbeitsmarktreformen in Eigenregie implementieren. Die Vereinbarung vom 01.08.2005 hat zur Folge, dass die Geschäftsführer nun selbst entscheiden dürfen, welche Instrumente der Arbeitsförderung eingesetzt werden und wie die Organisation der JobCenter ablaufen soll. Alles in allem ist eine Stärkung der Rolle der Kommunen zu verzeichnen
Doch was geschah nun bei dem Umbau der BA? Das Agenturmodell ersetzt die klassische bürokratische Steuerung, d.h. Zielvereinbarung und Ergebniskontrolle treten an die Stelle von hierarchischer Detailregulierung und Prozesskontrolle. Für das Personal manifestiert sich dieser Wandel in einem anderen Rollenverständnis. Es soll als eine Art Unternehmer agieren, welches für nicht erreichte oder mangelhafte Ergebnisse haftbar gemacht werden kann. Damit dies nicht nur eine leere Floskel bleibt, bedarf es zahlreicher Änderungen in der Aufbau- und Ablauforganisation. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die Besetzung des Führungspersonals auf Zeit, in einigen Fällen Bezahlung nach Leistung, Handlungs- und teilweise Budgetautonomie der dezentralen Einheiten im Rahmen der Zielvorgaben sowie Benchmarking zwischen den teilautonomen Handlungseinheiten uvm. Unter teilautonomen Handlungseinheiten sind im Wesentlichen die regionalen Arbeitsagenturen zu verstehen. Das Personal der BA lebt seit Februar 2002 in einem Zustand der permanenten existenziellen Verunsicherung. Die von außen oktruierte Aufgabe zu einem Megaarbeitsamt zu mutieren bestärkt derartige Unsicherheiten, da die Zukunft ungewiss ist."