1. Einleitung: Das Helfer-Syndrom
«Ich wollte mit einer Frau schlafen. Deshalb bin ich nachts in die Landsberger Straße gefahren, wo diese Prostituierten stehen. Als ich dort war und an ihnen vorbeifuhr, hatte ich Magenschmerzen und Herzklopfen vor Aufregung und Angst. Ich dachte, ich bin sicher impotent, und bin da vorbeigefahren. Da sah ich eine Frau, die eine Autopanne hatte. Als ich anhielt und ihr meine Hilfe anbot, war ich wieder ganz ruhig und sicher. Es ist schon eine verfluchte Rolle, die ich da spiele.»
Ein Arzt, 32 Jahre
«Wenn ich Menschen kennenlerne, dann setze ich mich sehr für sie ein. Meist haben sie Probleme, und ich höre mir das an und bemühe mich sehr, mit ihnen eine Lösung zu finden. Und wenn wir dann die Lösung gefunden haben, dann höre ich nichts mehr von ihnen. Ich bin dann schwer enttäuscht und denke, du schaffst es einfach nicht …»
«Sprechen Sie von Ihren Klienten oder von privaten Bekannten?»
«Ich meine natürlich die Leute, die ich privat kennenlerne. Von den Familien, die ich betreue, würde ich mir ja nie so etwas wie Dank erwarten.»
Eine Sozialarbeiterin, 40 Jahre
«Lukas hatte solche Arbeitsstörungen und Ängste im Studium, und so habe ich mich die ganze Zeit um ihn gekümmert und das Geld verdient. Als er dann Examen machte, wurde ich krank. Jetzt haben wir beschlossen, auseinanderzuziehen. Er sagt, ich hätte ihm gar keine Luft gelassen, er fühle sich so verpflichtet. Aber ich mußte ihm doch helfen …»
Eine Lehrerin, 29 Jahre
Diese Anekdoten sollen die Äußerungsformen des Helfer-Syndroms aufzeigen, um dessen Entstehung und innere Gesetzmäßigkeit es hier geht. Unter Syndrom versteht man in der Medizin eine in typischer Kombination auftretende Verbindung einzelner Merkmale, die einen krankhaften Prozeß bestimmen. Im Bereich der Psychologie ist die Grenze zwischen «gesund» und «krank» hierbei selten leicht zu ziehen. Besonders schwierig ist das angesichts eines sozial so hoch geachteten Verhaltens wie der Hilfe für andere, des Altruismus.
Mir scheint, daß schätzenswerte menschliche Eigenschaften nicht an Wert verlieren, wenn ihr Zustandekommen genauer untersucht wird. Es geht mir auch nicht darum, zu zeigen, daß dem Helfen-Wollen ein «letzten Endes egoistisches» Motiv zugrunde liegt. Die Unterscheidung von altruistischem und egoistischem Verhalten ist ihrerseits eine Folge bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungsformen. Von ihrer Analyse aus kann sie in einer sinnvolleren Weise gestellt und beantwortet werden. Idealvorstellungen von der Persönlichkeit des Helfers sind kritisch zu sehen. Oft schaden sie mehr, als sie nützen. Es geht gerade nicht darum, durch den Hinweis auf die vielfältigen Schwierigkeiten und Konflikte der Angehörigen «helfender» Berufe (Erzieher, Ärzte, Psychotherapeuten, Geistliche, Lehrer) das Idealbild des perfekten Helfers zu entwickeln. Einfühlendes Verständnis für Schwächen und Mängel – eigene und fremde – ist gerade die Voraussetzung wirksamer Hilfe.
Als ich nach längerem Zögern den Entschluß faßte, mich einer Analyse zu unterziehen, rechtfertigte ich das als ein ausbildungsorientiertes Streben nach «Lehreranalyse», Parallel dazu suchte ich einen möglichst perfekten Analytiker – einen Analytiker ohne Fehler, mit umfassendem Wissen usw. Wenn ich zurückblicke, gewinne ich den Eindruck, daß nicht die Perfektion, sondern der Umgang mit meinen und seinen eigenen Schwächen das wichtigste war, was ich von meinem analytischen Lehrer erfahren habe.
Der Idealanspruch an den Helfer drückt sich oft in den Ausbildungsanforderungen psychoanalytischer Institute aus. Nicht selten hört oder liest man Formeln wie «Keiner kann einem anderen helfen, ein Problem zu lösen, das er selbst noch nicht bewältigt hat» oder «Niemand wird einen Patienten weiter bringen, als er selbst ist». Die Vielfalt menschlicher Beziehungen wird in solchen vom Ideal-Ich bestimmten Formeln auf eine enge, wertende Dimension gebracht, wodurch die geschichtliche Entwicklung der Psychoanalyse geradezu umgekehrt wird (in der selbst nicht oder nur ganz kurz analysierte Pioniere immer längere Ausbildungsanalysen durchführten und befürworteten). Ein Gegenbeispiel (das ebensowenig wie die oben zitierten Formeln Anspruch auf Allgemeingültigkeit hat): Zu einem Psychoanalytiker kommt ein Klient. Er möchte sich einer Therapie unterziehen; seine Symptome sind Depressionen und quälende Migräneanfälle. Der Arzt sagt: «Was die Depressionen angeht, halte ich die Behandlungsaussichten für günstig. Aber in bezug auf die Migräne kann ich nicht viel versprechen; da sollten Sie sich keinen großen Erfolg erwarten.» Der Arzt spricht aus eigener Erfahrung: Seine Migräneanfälle haben durch die Analyse, die er selbst absolvierte, nicht wesentlich nachgelassen. Doch sein in dieser Weise entmutigter Klient berichtet nach einigen Monaten, er habe nun alle Medikamente gegen seine Kopfschmerzen weggeworfen. Er brauche sie nicht mehr – die Psychotherapie habe ihn von seinen Migräneanfällen geheilt.
Solche Ereignisse zeigen, wie töricht der Idealanspruch an den Helfer ist, der sich in diesem Fall so formulieren läßt (und in einem Aufnahmeinterview an einem psychotherapeutischen Ausbildungsinstitut einem dann abgelehnten Kandidaten auch entsprechend gesagt wurde): «Wie wollen Sie einen Patienten von einem psychosomatischen Leiden befreien, unter dem Sie selbst noch leiden?» Hier wird deutlich, wie Institutionen dazu neigen, in ihrer Aufnahme- und Ausbildungspolitik jene Muster zu kopieren, die in der Analyse von familiären Erziehungsprozessen bereits als neurotisierend erkannt wurden. Gemeint ist das Ideal-Ich der Eltern, das mit dem Anspruch der perfekten Erfüllung an ein Kind herangetragen wird. Dadurch entsteht die Gefahr, daß Entwicklungs- und Wachstumsprozesse durch Ausleseprozesse ersetzt werden. Auslese bringt dann eine Spaltung mit sich; das Kind erfährt, daß es seine «guten» Eigenschaften entwickeln darf, seine «schlechten» hingegen abspalten und verdrängen muß. Oft sind aber gerade diese in den Augen der Eltern «schlechten» Eigenschaften sehr wesentlich. Sie können nicht ohne Schaden abgespalten und unentwickelt gelassen werden, da sie wichtige Verhaltensweisen (z.B. Durchsetzung, Zärtlichkeit, sexuelle Potenz, Gefühlsintensität) erst ermöglichen.
In einer vergleichbaren Weise halte ich auch die Unvollkommenheiten des Helfers für potentiell produktiv. Es ist sinnvoller, an ihnen und mit ihnen einen Entwicklungsprozeß einzuleiten, als ihre Abspaltung zu erzwingen. Perfektions-Ideale lassen sich stets nur durch Verleugnung der Wirklichkeit aufrechterhalten. Dadurch verliert die Tätigkeit des Helfers leicht ihre Orientierung. Enttäuschungen, wie sie nicht ausbleiben, können nicht mehr verarbeitet, Fehler nicht korrigiert werden. Der zum Schlagwort gewordene «Burnout», das Ausbrennen des Helfers, ist nicht selten die Folge. Das Helfer-Syndrom, die zur Persönlichkeitsstruktur gewordene Unfähigkeit, eigene Gefühle und Bedürfnisse zu äußern, verbunden mit einer scheinbar omnipotenten, unangreifbaren Fassade im Bereich der sozialen Dienstleistungen, ist sehr weit verbreitet. Ich hatte in den letzten Jahren vielfältige Möglichkeiten, es kennenzulernen – zunächst an mir selbst, seit ich aus der distanzierten, literarischen Form des psychosozialen Engagements in die unmittelbare psychotherapeutische und gruppendynamische Arbeit überwechselte. Parallel dazu auch an meinen Klienten, die zum großen Teil aus den sozialen Berufen kommen; an den Ausbildungsteilnehmern in der Gesellschaft für analytische Gruppendynamik (G.a.G.), die ich in Selbsterfahrungsgruppen und in Einzelgesprächen kennenlernte, und last but not least an den Teilnehmern der von mir geleiteten Kurz- und Langzeitgruppen. Im Gegensatz zum ausschließlich mit Einzelbehandlungen befaßten Analytiker lernt der daneben mit Gruppentherapie und gruppendynamischer Arbeit befaßte Psychologe einen breiten Ausschnitt aus der Bevölkerung kennen. Es sind nicht nur «Patienten», sondern auch Menschen, die sich als seelisch gesund ansehen, die häufig mit dem Ziel zu ihm kommen, gerade ihre Fähigkeiten als Helfer zu verbessern. Obwohl ich auch auf die Ergebnisse statistischer und testpsychologischer Untersuchungen, die im Rahmen der G.a.G. angestellt wurden, verweisen kann, ist die Methode dieser Arbeit psychoanalytisch. Sie geht von einem umfassenden, beschreibend-hermeneutischen Wissenschaftsmodell aus, nicht von einem positivistisch-experimentellen. Es geht mir darum, die Psychohygiene in den Helfer-Berufen zu verbessern.
«Früher habe ich mich oft schier zerrissen, und hatte doch das Gefühl, ich erreiche nichts. Wenn um Mitternacht ein Anruf kam, bin ich hingegangen und habe mit den Leuten geredet. Ich dachte einfach, ich darf nicht nein sagen, wenn es jemandem schlecht geht. Aber ich konnte das Gefühl nicht loswerden, daß meine Klienten das ausnützten … Seit ich die Ausbildung gemacht habe, vor allem auch die Einzelanalyse, habe ich das geändert. Ich sage jetzt solchen Anrufern, sie sollten sich während der Dienstzeit an mich wenden. Da kann ich aber auch voll für sie da sein, weil ich ausgeschlafen und nicht insgeheim wütend bin. Solche Gefühle habe ich mir früher überhaupt nicht zugestanden. Ich dachte, ich muß immer nur für die anderen da sein. Aber da ist auch die Ausbildung schuld. Man lernt nichts, als den höchsten Anspruch an sich zu stellen, und kriegt kaum konkrete Mittel in die Hand, um auch etwas zu erreichen …» (eine...