In den letzten Jahrzehnten wurde eine nicht mehr überschaubare Menge an Literatur zu geschichtskulturellen Phänomenen der Vergangenheit publiziert. Soweit ich die einschlägige Literatur überblicken kann, beziehen sich diese zumeist auf einzelne erinnerungskulturelle Themen sowie ausgesuchte geschichtskulturelle Medien und Gattungen.[78] Zusätzlich sind die meisten Arbeiten geographisch, politisch, kulturell bzw. religiös eingeengt.[79] Bisher mangelt es der Forschung an Meta-Analysen und Synthesen. Die wenigen Untersuchungen, die eine systematische Untersuchung des Phänomens Geschichtskultur versprechen, erfüllen diesen Anspruch aber aufgrund eines eklatanten Mangels an elaborierten Untersuchungsmethoden, einer misslungenen Differenzierung der Untersuchungskategorie sowie einer eklektischen Auswahl der Untersuchungsgegenstände zumeist nicht.[80] Mit einigen der wenigen gelungenen Analysekonzepte werde ich mich an dieser Stelle auseinandersetzen.
Ein wichtiger Katalysator für die Forschung zur Geschichtskultur war die wissenschaftliche Rezeption von Maurice Halbwachs Theorie des sozialen Gedächtnisses, welches der französische Philosoph und Soziologe in den 20ern und 30ern des 20. Jahrhunderts entwickelt hatte.[81] Grundthese seiner Arbeiten ist, dass sich ein Individuum sowohl an die eigene wie auch an die über das eigene Leben hinausgehende Vergangenheit nur im Rahmen von sozialen Gruppen erinnern kann: "Man kann sich nur unter der Bedingung erinnern, daß man den Platz der uns interessierenden vergangenen Ereignisse in den Bezugsrahmen des Kollektivgedächtnisses findet.“[82] Aus dieser Einsicht heraus postuliert Halbwachs das Bestehen von kollektiven Gedächtnissen, die sowohl aktuelle Wahrnehmungen als auch den Bezug auf die Vergangenheit sowohl des Individuums als auch der jeweiligen Gruppe prägen:
„Daraus geht hervor, daß das gesellschaftliche Denken wesentlich ein Gedächtnis ist, und daß dessen ganzer Inhalt nur aus kollektiven Erinnerungen besteht, daß aber nur diejenigen von ihnen und nur das an ihnen bleibt, was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihrem gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann."[83]
Halbwachs war dementsprechend vor allem daran interessiert, wie Kollektive Vergangenheit in ihrem gegenwärtigen Gedächtnis erinnern. Eine der wichtigsten Weiterführungen dieses Konzeptes von Halbwachs, das sich explizit mit der Historizität von Geschichtskultur befasst, ist Pierre Noras viel beachtetes Konzept der Erinnerungsorte.[84] In seinem mehrbändigen Werk zu den Erinnerungsorten Frankreichs unternahm Nora den Versuch, das kollektive Gedächtnis Frankreichs anhand von rund 130 Gedächtnisorten zu systematisieren, wobei darunter nicht nur physische Orte, sondern auch Mythen, Personen etc. fallen. Noras Ziel war es, sich von der Geschichtswissenschaft abzugrenzen, da diese das Gedächtnis der Nation zerstöre, um eine vermeintlich verlorene Gedächtnisgemeinschaft zu reetablieren:
Kurz, es würde sich um eine Geschichte handeln, die weder eine Wiedererweckung, noch eine Rekonstitution, keine Rekonstruktion und keine Repräsentation darstellt, sondern ein 'Sich-erinnern'. Diese Geschichte würde sich nicht für die von der Erinnerung gespeicherten Inhalte, sondern für die Erinnerung als Mittel der Situierung der Vergangenheit in der Gegenwart interessieren.[85]
Dieses Konzept eignet sich aufgrund von schwerwiegenden Mängeln nicht für eine produktive Historisierung von Geschichtskultur. Einerseits ist die einseitige Ausrichtung auf ein nationales Gedächtnis im Kontext der europäischen Einigung und der Globalisierung und der damit einhergehenden Internationalisierung von Geschichtskultur analytisch nicht aufrechtzuerhalten. Andererseits verkennt Nora in seiner Gegenüberstellung von kollektivem Gedächtnis und Geschichte, dass die Geschichtswissenschaft selbst, (insbesondere im 19. Jahrhundert) einen erheblichen Anteil an der Etablierung von nationalen Mythen hat und hatte.[86]
Ein theoretisch elaboriertes Modell zur Historisierung von Geschichtskultur, das ebenfalls auf die Arbeiten von Halbwachs aufbaut, stammt vom Althistoriker und Kulturwissenschaftler Jan Assmann.[87] Eine entscheidende Weiterentwicklung dieses Modells gelang Assmann dadurch, dass er das kollektive Gedächtnis in das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis ausdifferenzierte. Das kommunikative Gedächtnis versteht Assmann als dasjenige kollektive Gedächtnis, das sich auf die rezente Vergangenheit bezieht. Es basiert somit auf denjenigen Erinnerungen, die Menschen mit ihren Zeitgenossen teilen. Das kulturelle Gedächtnis dagegen überschreitet diesen Bezugsrahmen, indem es sich auf eine (häufig imaginierte) weiter zurückliegende Vergangenheit bezieht und daher auch nicht durch die Erinnerungsleistung zu einem Zeitpunkt Lebenden geleistet werden könne: „Das kulturelle Gedächtnis ist, im Unterschied zum kommunikativen, eine Sache institutionalisierter Mnemotechnik."[88] Durch diese Differenzierung erreicht Assmann einen analytisch schärferen Zugriff auf den Vergangenheitsbezug von früheren Gesellschaftsformationen. Insbesondere ermöglicht sie ihm, die institutionalisierten Träger dieses kulturellen Gedächtnisses (Schriftgelehrte etc.) und deren Strategien und Mittel zur Herausbildung einer durch Vergangenheitsbezug initiierten politischen Identität und kulturellen Traditionsbildung (Mythen, Riten, Kanonbildung etc.) zu verstehen.[89] Der Vorteil dieses Modells besteht darin, den Wandel des kulturellen Gedächtnisses durch Veränderungen von Aufzeichnungstechnologien, TrägerInnengruppen, Medien und Organisationsformen der Speicherung sowie Tradierung und Zirkulation von auf Vergangenheitsbezug beruhendem kulturellen Sinn zu untersuchen.[90] Allerdings sind das Assmannsche Analysemodell und seine verwendeten Kategorien nicht auf die gesamte menschliche Geschichte übertragbar, da er diese am alten Israel und alten Ägypten entwickelte. Die von ihm untersuchten Prozesse, wie der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit[91] oder der Wechsel von der rituellen zur textuellen Herstellung der Kohärenz kultureller Sinnbildung, sind nur für den untersuchten Wandel des gesellschaftlichen Umgangs mit Vergangenheit auf Prozesse der altgeschichtlichen Welt charakteristisch. Dementsprechend können bestimmte Kategorien des Assmannschen Modells – Trägergruppen, Aufzeichnungssysteme, Medien und Organisationsformen des Vergangenheitsbezugs – für eine allgemeine Historisierung von Geschichtskultur benutzt werden. Aufgrund seiner zeitlichen Beschränktheit ist dieser Ansatz aber nicht als Orientierung für eine Meta-Theorie geeignet, die alle Epochen der Geschichte umschließt.
Das komplexeste und elaborierteste Modell, das der Bearbeitung der Frage nach einer möglichen Historisierung von Sinnbildung über Zeiterfahrung dient, wurde meines Erachtens durch die Forschungsgruppe des DFG-Sonderforschungsbereiches Erinnerungskulturen an der Universität Gießen entwickelt. Die Grundannahme dieser Arbeiten ist die (hier von Marcus Sandl zusammengefasste) Überlegung, dass der Zusammenhang zwischen Kultur und Erinnerung (bzw. Vergangenheitsbezug) sowohl in diachroner wie in synchroner Perspektive nur plural und variabel denkbar sei:
Erinnerung lässt sich in ihrer Historizität nur als diskursives Phänomen fassen. In einem theoretisch reflektierten Sinne ist es deshalb notwendig, von 'Erinnerungskulturen' in der Mehrzahl zu sprechen. Der Begriff verweist auf die Pluralität von Vergangenheitsbezügen, die sich nicht nur diachron in unterschiedlichen Ausgestaltungen des kulturellen Gedächtnisses manifestieren, sondern auch synchron in verschiedenen Modi der Konstitution der Erinnerung, die komplementäre ebenso wie konkurrierende, universale wie partikulare, auf Interaktion wie auf Distanz- und Speichermedien beruhenden Entwürfen beinhalten können."[92]
Da dieses Konzept auf alle bisherigen Formen des Umgangs mit Vergangenheit verweist, bezeichne ich es in Abgrenzung zum speziellen postmodernen Begriff von Erinnerungskultur, der in Kapitel 3.3. dargelegt wird, als allgemeines Konzept der Erinnerungskulturen. Darüber hinaus setze ich den Begriff der Erinnerungskulturen als Überkategorie. Im Weiteren werde ich begründen, warum ich den Begriff Geschichtskultur, welcher bisher in der Geschichtsdidaktik als Überkategorie dient, als Subkategorie für die spezifische Erinnerungskultur der Moderne setze.[93] In Hinblick auf die Historisierbarkeit der Erinnerungskulturen liegt der entscheidende Vorteil des Gießener Konzepts darin, dass es den gesellschaftlichen Umgang mit Vergangenheit selbst explizit historisiert:
Eine geschichtswissenschaftliche Perspektive auf die Erinnerungsthematik impliziert deren konsequente Historisierung. Indem sie das kollektive Gedächtnis oder die Erinnerung durch den Begriff der Erinnerungskulturen ersetzt, markiert sie deren Geschichtlichkeit.[94]
Des...