Fenster zur Welt
»Entschuldigung, darf es noch eine Runde Bloody Marys sein?«
Es ist August 2001, und ich hänge im Windows on the World herum, ganz oben in Turm Eins des World Trade Center. Bei mir sind ein paar Kollegen aus meinem Analysten-Jahrgang bei Salomon Brothers. Es ist erst 9.30 Uhr, aber das interessiert uns nicht weiter – die meisten meiner Trinkkumpane sind entweder aus Europa oder haben gute Kontakte. Alle anderen in unserem Jahrgang aber würden es nie wagen, die Schulung ausfallen zu lassen. Sie sitzen direkt gegenüber im Auditorium von 7 World Trade Center und machen sich brav Notizen über Finanzbuchhaltung, Anleihenmathematik und solches Zeug.
Ich bin wegen der verpassten Stunden ganz entspannt. Ich war schon früh im Auditorium, um mich auf der Anwesenheitsliste einzutragen, und ein freundlicher Kollege hat versprochen, mir eine SMS zu schicken, sollte es einen spontanen Zählappell geben. Bislang ist nichts gekommen, aber zur Sicherheit habe ich ein Päckchen Marlboro Lights in der Tasche – für den Fall, dass ich ein Alibi für die Zeit brauche, in der ich die zwei Aufzüge nach unten nehmen und über die Straße zurück in die Bank gehen kann.
Außerdem haben wir schließlich Grund zum Feiern. Wir haben es geschafft. Die Wall Street. Der Gipfel, würden manche sagen, für jeden ambitionierten und gut ausgebildeten College-Absolventen, der in sein Berufsleben startet. Die genauen Zahlen weiß ich nicht mehr, aber wir werden täglich daran erinnert, wie glücklich wir uns schätzen können: Für die rund 350 Stellen weltweit hat die Bank ungefähr 25.000 Bewerbungen bekommen.
Ich schaue aus dem Fenster im 107. Stock und fühle mich selbstsicher, fast unbesiegbar. Das war nicht immer so. In meinem Vorstellungsgespräch bei Lazard Frères, einer angesehenen Investmentbanking-Boutique und der letzten echten Partnership an der Wall Street, wäre ich beim Blick aus dem 75. Stock vor Schwindel beinahe ohnmächtig geworden. Nach einem ganzen Tag mit Gesprächen in der letzten Runde bei Bear Sterns schickte ich versehentlich eine E-Mail an den Leiter des Bereichs Schwellenmärkte, in der ich mich bedankte und erklärte, wie gern ich für JPMorgan arbeiten würde. Im Vorstellungsgespräch bei Goldman Sachs wollte irgendein Arschloch von mir wissen, mit welcher lebenden oder toten Person ich mich am liebsten zum Abendessen treffen würde. Ich glaube, er war nicht sehr beeindruckt, als ich statt Marcus Aurelius oder Alexander Hamilton Tupac Shakur nannte. Doch trotz dieser Patzer: Letztlich wollte ich Fixed Income machen, Festverzinsliche, und dafür gab es vermutlich keinen besseren Ort als Salomon Brothers – zumal seit Kurzem die riesige Vertriebsplattform und Bilanz der Citigroup dahinter stand.
Ein Problem allerdings gibt es: Mein Analysten-Jahrgang ist der größte in der Geschichte des Investmentbanking bei Salomon Brothers. Wir wurden nach Quoten eingestellt, die Mitte 2000 festgelegt wurden, also bevor klar wurde, dass die Dotcom-Party vorbei war. Nirgendwo ist das schmerzhafter offensichtlich als im Team für europäische TMT (Telekom-, Medien- und Technologieunternehmen), das 40 Junganalysten bekommen hatte. Gleich am ersten Tag der Schulung wurden sie darüber informiert, dass es nur 7 offene Stellen im Team gibt. Sie müssen also vor dem Ende der Schulung entweder einen Platz in einem anderen Team finden oder gleich wieder gehen.
Mit der Ausnahme von TMT werden die meisten neuen Analysten erst kurz vor Ende der Schulung für ein bestimmtes Team eingeteilt oder eingeladen. Ich selbst hatte schon nach einem Praktikum im vergangenen Sommer ein Angebot für den Bereich Fremdkapitalmärkte bekommen, also weiß ich, dass ich in dieses Team kann, wenn ich möchte. Für die meisten anderen Analysten aber beginnt der eigentliche Wettkampf jetzt erst. Wie sie feststellen müssen, ist einer der begehrten Einstiegsjobs an der Wall Street nicht etwa schon das Ziel, sondern erst der Startblock. Wenn man sich die rosigen Gesichter um unseren Tisch im Windows on the World so anschaut, umgeben von leeren Bierflaschen und halb gegessenen Selleriestangen, würde man das allerdings kaum glauben.
Später an diesem Nachmittag bekommen wir die erste von mehreren unheilvollen Warnungen.
»Eine Erinnerung für Sie alle: Sie sind nicht nur verpflichtet, an allen Schulungsstunden teilzunehmen, sondern auch dazu, sich professionell zu verhalten und sie ernst zu nehmen. Zudem wird es nächsten Dienstag die erste Prüfung geben, in Rechnungswesen. Die schlechtesten 10 Prozent werden höchstwahrscheinlich gehen müssen.«
Ein vornehm klingender junger Brite, einer meiner Trinkkumpane, hebt die Hand. »Aber ich habe Altertumswissenschaft in Oxford studiert. Das scheint mir nicht fair zu sein«, sagt er. Offensichtlich haben die Schulungen doch einen gewissen Sinn.
»Was glauben Sie denn, wofür die Schulungen da sind? Ich bin sicher, Sie werden es schaffen.«
Mich beeindruckt das überhaupt nicht. Ich habe Finanzwissenschaft und Ökonomie studiert. Ich muss vielleicht noch lernen, wie man Excel ohne Maus bedient, ansonsten aber brauche ich keine Schulung.
Wie sich zeigt, hat der Personalmensch nicht geblufft. Am Tag nach der ersten Prüfung werden auf zwei großen Pinnwänden hinten im Auditorium die Ergebnisse bekannt gegeben. In einem halbherzigen Bemühen um Datenschutz stehen auf der ersten Tafel die Namen aller Teilnehmer sowie jeweils ein zufälliger Zahlencode; auf der zweiten Tafel ist der Code jeder Person und das dazugehörige Prüfungsergebnis zu sehen.
Natürlich schaut jeder zuerst nach seinem eigenen Ergebnis – ich habe mit Bravour bestanden. Anschließend verbringen wir alle die nächsten zehn Minuten damit, indiskret von Tafel zu Tafel zu gehen, zu schwätzen und die Ergebnisse unserer Freunde und Gegner nachzusehen. Die Personalabteilung versucht nicht einmal, zusammenfassende Statistiken oder nähere Informationen über die Ergebnisse zur Verfügung zu stellen. Dadurch müssen diejenigen, die weniger gut abgeschnitten haben, in Unsicherheit leben, während sie auf die endgültige Bestätigung ihres Schicksals warten. Erst am Abend werden die untersten 10 Prozent mit einer kurzen, unter der Tür ihrer temporären Firmenwohnung durchgeschobenen Nachricht informiert. Wir anderen sind alle ein bisschen neidisch auf die Leute, die jetzt keinen Mitbewohner mehr haben.
In der Gruppe gibt es eine gewisse Nonchalance und Gleichgültigkeit diesem Vorgehen der Bank gegenüber, das wir alle befremdlich und spannend zugleich finden. In der nächsten Woche passiert es noch einmal, nach der Mathematikprüfung – wieder müssen die schwächsten 10 Prozent gehen. Ich selbst habe wieder nichts zu befürchten. Es ist jetzt Blut im Wasser, und ich muss zugeben, dass ich das ganze Theater ein wenig amüsant finde.
Mit einigen der Betroffenen habe ich durchaus Mitgefühl. Ich hoffe nur, sie haben die Quittungen für die ganzen Luxussachen aufgehoben. Traurig anzusehen: Einer der Jungs versucht sogar, seine neue Uhr zu verkaufen, bevor er die Stadt verlässt. Aber was zum Teufel soll ich mit einer Movado anfangen?
Nachdem die Prüfungen erledigt und die Schlechtesten ausgesiebt sind, beruhigt sich alles etwas, und der Schwerpunkt der Schulungen verschiebt sich auf Sachen wie PowerPoint, Excel, Finanzmodelle und Präsentationstechniken. Jeder von uns bekommt einen Arbeitsplatz in einer leeren Etage von 7 World Trade Center, um dort gemeinsam an Gruppenprojekten und einzeln an Hausaufgaben zu arbeiten.
Die Hausaufgaben sind ein Witz. Fünf Minuten vor dem Unterricht springe ich an meinen Computer, rufe das geteilte Laufwerk auf und finde dort die fertige Hausaufgabe von jemand anderem. Ich ändere den Namen und schaue kurz, ob mir die Antworten vernünftig erscheinen, dann drucke ich sie aus und gehe in die Schulung. Viele der Leute in meinen Jahrgang, vor allem die, mit denen ich mich umgebe, machen es genauso.
Doch an einem Tag kommt unser Personalbetreuer ins Auditorium und baut sich vor uns auf. »Ich möchte Sie nur wissen lassen, dass wir acht von Ihren Kollegen entlassen mussten, weil sie Hausaufgaben kopiert haben.«
Ein paar in meinem Jahrgang – viele von ihnen sollten nicht mehr lange dabei sein – schauen sich gegenseitig an, erschrocken über die Vorstellung, dass jemand betrogen haben könnte. Der Rest von uns schaut sich ebenfalls an und ist erleichtert, dass er nicht erwischt worden ist. Wieder einmal zeigt sich hier der uralte Konflikt zwischen denen, die in der Klasse immer ganz vorne sitzen wollen, und den Schülern, die es auf die hinteren Bänke zieht.
Von diesem Tag an bin ich etwas vorsichtiger. Statt fünf Minuten komme ich jetzt zehn Minuten früher. Den kopierten Hausaufgaben verleihe ich mit eigenen Formatierungen, ein paar neuen Formulierungen und sogar ein paar sehr individuellen Fehlern meine persönliche Note.
Nach einer Woche werden noch einmal vier Leute wegen kopierter Aufgaben gefeuert. Dieses Mal, so zeigt sich, hatten einige unserer hinterlistigeren Klassenkameraden Dateien auf dem Laufwerk manipuliert und teils sogar ausschließlich falsche Antworten hinterlassen. Meine Gruppe hat eine relativ einheitliche Meinung dazu: Wer so dumm ist, sich beim Schummeln erwischen zu lassen, hat an der Wall Street wahrscheinlich sowieso nichts zu suchen.
Am nächsten Tag feiern wir unser Durchkommen. Wir lassen die Schulung ausfallen, treffen uns zu einem flüssigen Frühstück im Wolkenkratzer und gehen dann mittags im Steakhouse Peter Luger essen.
Anschließend wird es wieder ruhiger. Die Personalabteilung versichert, soweit es keine weiteren disziplinarischen Maßnahmen geben...