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Die Hölle von Torgau

Wie ich die Heim-Erziehung der DDR überlebte

AutorKerstin Gueffroy
VerlagOrellFüssli
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783280038970
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Sie war jung und aufmüpfig - und das hatte seine Konsequenzen. Das Schicksal der Kerstin Gueffroy, deren Jugend von Dunkelzelle, Einzelhaft und Demütigung im geschlossenen Vollzug des Jugendwerkhofs Torgau geprägt wurde, ist kein völlig Unbekanntes. Ihre Geschichte diente bereits als historischer Hintergrund in sehr erfolgreichen Jugendromanen. Selbst in Schulbüchern hat ihr Leben mittlerweile Eingang gefunden. Nun erzählt Gueffroy erstmals ihre ganze Geschichte. Wie sie als eins von vier Kindern bei einer überforderten Mutter aufwuchs, die sie als Siebenjährige in eine psychiatrische Kinderklinik einweisen lässt, weil Kerstin immer noch einnässt. Und wie ihre Mutter sie schließlich mit 14 Jahren einfach dem staatlichen System der Heime und Jugendwerkhöfe überlässt. Gueffroys Autobiografie erzählt von der dunklen Seite der staatlichen Kinder- und Jugendheime der DDR, in denen auf perfide Weise kindliche und jugendliche Seelen beschädigt wurden, Erzieher und Erzieherinnen systematisch den Willen der ihnen anvertrauten Kinder zu brechen suchten und junge Menschen zu Kriminellen degradiert wurden. Es ist dies nicht nur die Geschichte einer eindrucksvollen Frau, der man die Kindheit nahm und die sich dennoch nicht brechen liess. Es ist darüber hinaus das beschämende Porträt des grausamen Erziehungs- und Disziplinierungssystems in den Spezialkinderheimen und Jugendwerkhöfen der DDR, das im Jugendwerkhof Torgau - der Margot Honecker direkt unterstellt war ? seinen schlimmsten Ausdruck fand.

Kerstin Gueffroy, geboren 1967 in Ost-Berlin, ist u. a. Mitglied der Initiativgruppe Geschlossener Jugendwerkhof Torgau e. V. sowie Zeitzeugin in der Gedenkstätte Hohenschönhausen. 2012 wurde sie durch das Land Hessen als Botschafterin für Freiheit und Demokratie ausgezeichnet. Gueffroy lebt in Berlin und ist in der Opferberatung tätig.

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Leseprobe

»Den Kindern gehört die ganze Liebe unseres Volkes und die besondere Fürsorge unserer Regierung.« (Propagandaspruch der DDR-Regierung)

Torgau, die nächtlichen Stunden in der Dunkelzelle, werden für immer der Alptraum meines Lebens bleiben. Wie jeder, der nach Torgau kam, hatte ich niemals eine Straftat begangen oder stand je vor einem Jugendrichter.

Die Grunderfahrung meiner Jugendjahre war die, dass ich immer irgendwie übrig war, eine zu viel, eine, der man sich entledigen musste, weil ihre bloße Existenz störte.

Der erste Mensch, der mir dieses Bewusstsein vermittelte, war meine eigene Mutter. Ich war eins von vier Kindern, und leider wohl aus ihrer Sicht das schwierigste. Warum meine Mutter diese Schwierigkeiten hatte, weiß ich bis heute nicht. Ich werde sie auch nicht mehr danach fragen, denn ich habe mich schon vor vielen Jahren in einem langen Brief an sie komplett von ihr losgesagt.

Was ich allerdings sehr wohl weiß, ist, dass die fortwährende Lieblosigkeit, mit der meine Mutter mich behandelte, bei mir eine Reaktion auslöste, die sich aus psychologischer Sicht ganz gut erklären lässt. Während alle anderen Kinder in der Familie scheinbar gut »funktionierten« und damit den Alltag nicht zu sehr belasteten, wies ich eine ganz besondere Funktionsstörung auf: Ich nässte nachts ein, selbst mit vierzehn Jahren noch konnte ich nichts dagegen tun. Aus heutiger Sicht weiß ich, dass mein Körper damit auf die seelische Verwahrlosung reagierte, die aus der Lieblosigkeit meiner Mutter resultierte. Damals wusste ich das nicht, und es entstand ein Teufelskreis, den ich unmöglich durchbrechen konnte: Ich fühlte mich nicht angenommen und geliebt: Mein Körper reagierte mit Bettnässen. Meine Mutter sah die Bettnässerei und die Probleme, die ihr daraus entstanden: Ich wurde noch weniger angenommen und geliebt. Reaktion meinerseits: fortwährende Bettnässerei. Und immer so weiter.

Abschieben. Der erste Versuch

Die Erinnerungen an meine frühe Schulzeit sind naturgemäß recht lückenhaft, doch woran ich mich sehr gut erinnern kann, ist meine erste Lehrerin, die ich direkt nach der Einschulung in der ersten Klasse bekam. Frau Lüer sehe ich noch heute vor mir mit ihrem warmen, freundlichen Gesichtsausdruck und ihrer lieben Art, mit den Schülern umzugehen. Sie hatte eine ganz bestimmte Methode, uns zu guten Leistungen anzuspornen: Jede Woche wählte sie drei Schüler als Wochenbeste aus, die sie dann am Wochenende daheim besuchen durften. Ich weiß noch genau, wie sehr ich mich anstrengte, um auch einmal in den Genuss dieser Vorzugsbehandlung zu kommen. Ich meldete mich so oft es nur ging und war richtig ungeduldig, wenn ich nicht sofort aufgerufen wurde. Und ein einziges Mal klappte es dann auch tatsächlich. Ich wurde ausgewählt, durfte mit der Straßenbahn zu ihr nach Pankow fahren, wo sie uns ihren wunderschönen Garten zeigte. Natürlich erlaubte meine Mutter mir nicht, dort zu übernachten, viel zu peinlich wäre es ihr gewesen, wenn ich auch dort ins Bett gemacht hätte. Aber ich war auch so glücklich, es wenigstens dieses eine Mal geschafft zu haben. Vielleicht wünschte ich mir innerlich auch, Frau Lüer könnte meine Mutter sein. Jedenfalls kann ich mich nicht an einen einzigen Tag erinnern, an dem meine eigene Mutter auch nur annähernd so viel Warmherzigkeit gezeigt hätte wie meine Lehrerin.

Im Gegenteil. Typisch für meine Mutter waren Reaktionen wie die an jenem Tag, als ich mit gerade mal sechs Jahren einen spontanen Einfall hatte, wie ich ihr vielleicht eine Freude machen könnte. Denn natürlich versuchte ich das immer wieder, jedes sechsjährige Kind möchte schließlich unbedingt von der Mutter geliebt werden, es sehnt sich nach Lob und Anerkennung, möchte sich angenommen fühlen. So auch ich.

Ich hatte damals auf dem Nachhauseweg von der Schule unsere Kohlenlieferung vor dem Haus liegen sehen, einfach so auf dem Boden ausgeschüttet. Das war Mitte der 70er-Jahre in der DDR keine Seltenheit, wir wohnten in Berlin in der Schönhauser Allee im vierten Stock, und mein Vater musste die Kohlen immer vier Treppen nach oben schleppen, wobei wir Kinder ihm ab und zu helfen durften.

Ich sah also die Kohlen dort liegen und hielt es für eine wunderbare Idee, einfach ein paar davon gleich mit nach oben zu nehmen, um meiner Mutter eine Freude zu machen. Als praktisch veranlagte Sechsjährige steckte ich sie einfach in meinen Ranzen und ging frohen Mutes die Treppen hinauf zu unserer Wohnung.

Oben angekommen packte ich mein Mitbringsel aus und erwartete eine erfreute Reaktion meiner Mutter. Natürlich blieb diese aus, stattdessen tobte sie wie eine Verrückte durch die Wohnung, schrie mich an, was mir einfiele, der ganze Ranzen sei dreckig, alle Hefte versaut. Mit mir sei wirklich gar nichts anzufangen. Dass ich über den Schmutz nicht nachgedacht hatte und mit meinen sechs Jahre ihr einfach nur eine Freude machen wollte, ging nicht in ihren Kopf, sie sah einfach nur die Bescherung und fühlte sich wohl bestätigt in ihrer Meinung über mich als nichtsnutziges, überflüssiges Kind in ihrem Hause.

Ich hielt mich also weiter lieber an meine Lehrerin und lernte ausschließlich für sie. Sie bemerkte natürlich meine Probleme und schrieb diese am Ende der ersten Klasse ins Zeugnis: »Mit Unterstützung des Elternhauses müssen wir Kerstin helfen, durch ruhiges Verhalten zu besseren kontinuierlichen Leistungen zu gelangen.«

Ja, ich war unruhig, ein richtiger Zappelphilipp. Wäre ich in der heutigen Zeit aufgewachsen, würde mir vermutlich irgendein Arzt Ritalin verschreiben, nachdem er ADHS diagnostiziert hat. Doch das gute Verhältnis zu meiner Lehrerin trug immerhin dazu bei, dass ich es zumindest ansatzweise schaffte, mich besser zu konzentrieren und ruhig zu bleiben. Hätte meine Mutter die Bemerkung im Zeugnis ernst genommen und mich unterstützt, wäre es vielleicht noch viel besser geworden. Doch sie ignorierte den Hinweis, genauso wie sie im Grunde mich als Ganzes ignorierte.

Immerhin wurde ich in die zweite Klasse versetzt und erhielt am Ende des ersten Halbjahres eine Bemerkung ins Zeugnis, die, wie ich heute weiß, durchaus ungewöhnlich ist. Frau Lüer schrieb:

»Kerstins unkonzentriertes Verhalten wirkt sich auch im 1. Halbjahr aus. Eine ärztliche Behandlung ihrer Labilität ist unbedingt erforderlich, um ihre Persönlichkeitsentwicklung weiterhin nicht noch mehr zu hemmen. Für ihre Bemühungen, Aufträge im Kollektiv stets erfolgreich zu erfüllen, erhält Kerstin 3 Lobe.«

Man muss dazu wissen, dass die Lehrer in der DDR stets angehalten waren, auffällige Kinder sofort der Schulleitung zu melden, die diese Meldung wiederum direkt ans Jugendamt weiterleitete, damit dort entschieden werden konnte, was mit dem Kind zu geschehen hat. Frau Lüer jedoch schrieb diese Bemerkung zwar in mein Zeugnis, damit meine Eltern Bescheid wissen, sie verzichtete jedoch auf die offizielle Meldung an die Schulleitung. Darüber hinaus ist auch der Hinweis auf meine gestörte Persönlichkeitsentwicklung zumindest ungewöhnlich, da in der DDR auf die individuelle Persönlichkeit keinerlei Wert gelegt wurde. Es ging schließlich nur ums Einfügen in das sozialistische Kollektiv. Der Verzicht auf die Meldung also war durchaus mutig, sie hätte dafür ziemliche Unannehmlichkeiten bekommen können.

Zeugnis Lehrerin Lüer: »Mit acht Jahren macht Kerstins Lehrerin darauf aufmerksam, dass die ›Persönlichkeitsentwicklung‹ gefährdet sei. In der DDR, wo Persönlichkeit nicht gefragt war, eine nicht ungefährliche Bemerkung.«

Möglicherweise aber hat meine Mutter diesen Hinweis damals bereits als willkommenes Geschenk aufgefasst. Denn als ich neun Jahre alt war, endete die Geduld meiner Mutter erstmals, sie ließ mich in die psychiatrische Kinderklinik Berlin-Herzberge einweisen, um endlich die Funktionsstörung ihres Kindes reparieren zu lassen. Ich kann das heute vor allem daran nachvollziehen, dass das erste Halbjahreszeugnis der dritten Klasse bereits aus der klinikeigenen Schule stammt. Die Noten auf dem Zeugnis sind durchschnittlich bis gut, doch ein Satz fällt besonders auf. Dort steht: »Verhaltensnoten werden an unserer Schule nicht erteilt.«

Zeugnis Psychiatrisches Krankenhaus Herzberge: »Klares Kennzeichen der psychiatrischen Anstalt: ›Verhaltensnoten werden nicht erteilt.‹«

Dieser Satz ist deshalb so interessant, weil ich zum damaligen Zeitpunkt nie darüber aufgeklärt wurde, dass Herzberge nicht einfach nur irgendein Krankenhaus war, in dem man meine Bettnässerei behandeln sollte, sondern eine Kinderpsychiatrie. Dass es an der Schule in einer psychiatrischen Einrichtung keine Verhaltensnoten gibt, ist nachvollziehbar und für mich heute auch der Beweis, dass ich ganz bewusst in dieses Krankenhaus gebracht worden war.

Wenn wir damals dort zum Unterricht mussten, wurden wir von einer Station, die stets abgeschlossen war, zu den Baracken mit den Klassenräumen geführt. Dort war auch ein Spielplatz, an den ich mich nur erinnere, weil ich einmal von einer Erzieherin gezwungen wurde, eine kratzige Strumpfhose anzuziehen, die mich todunglücklich auf diesem Spielplatz herumstehen ließ. Auf der Station war mein bester Freund ein Junge mit einem sogenannten Wasserkopf. Er erklärte mir, dass in seinem Kopf so viel Wasser sei, dass er nicht stehen könne und deshalb die ganze Zeit im Rollstuhl zubringen müsse. Ich war von diesem Kopf so fasziniert, dass ich ihn die ganze Zeit anstarren musste, wenn wir uns unterhielten, aber ich fand, dass er ein netter...

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