Der Kapp-Putsch 1920 und seine Folgen
Brennende Ruhr und Rote Ruhrarmee
Was war eigentlich der Kapp-Putsch? Um was ging es da? Um das kurz zu erklären, muß ich auf die Revolution vom 9. November 1918 zurückkommen. Die revolutionären Arbeiter und Soldaten wollten nicht nur den Krieg beenden, sondern auch die Kriegsverbrecher, das Großkapital, das Junkertum und die kaiserliche Militärmaschinerie, entmachten. Wenn dieses Ziel durch den Verrat der SPD-Führer Ebert, Noske, Scheidemann auch nicht erreicht worden war, so hatte die Revolution dennoch eine bessere Plattform für den weiteren Kampf für den Sozialismus gebracht.
Die Monarchie war gestürzt, die Republik ausgerufen. Der lang erstrebte Achtstundentag und das Recht auf Lohntarifverhandlungen war eingeführt, ebenso das Recht, Betriebsräte zu schaffen. Das allgemeine Wahlrecht auch für Frauen war gewährt, das Drei-Klassen-Wahlrecht abgelöst worden. Nach dem alten Drei-Klassen-Wahlrecht waren die Wahlberechtigten eines Ortes nach der Höhe ihrer Steuern in drei Gruppen eingeteilt worden. Jede Gruppe erhielt die gleiche Anzahl Abgeordneter: die kleine Gruppe der Reichen, die große Gruppe der Armen.
Außerdem wurde Koalitions-, Presse- und Versammlungsfreiheit gegeben, und die schon erwähnte Gesindeordnung, die Ausnahmegesetze gegen Landarbeiter und Dienstmädchen, war beseitigt worden.
Das waren weit bessere Bedingungen für den Kampf der Arbeiter. Waren auch diese Gesetze hauptsächlich auf geduldigem Papier gedruckt, so führten die Arbeiter um ihre tatsächliche Verwirklichung erbitterte Kämpfe, in denen viel Arbeiterblut geflossen ist.
Doch in der »Verfassung des Deutschen Reiches« heißt es im Artikel 153 unter anderem: »Das Eigentum wird von der Verfassung gewährleistet ...« Damit war der Erhalt der ökonomischen Klassenbasis der Monopolkapitalisten voll gewährleistet geblieben. 1920 strebten sie danach, die Teilzugeständnisse, die sie vorerst den revolutionären Arbeitern gemacht hatten, um ihre ökonomische Machtstellung zu erhalten, wieder rückgängig zu machen.
Am 13. März 1920 marschierten etwa 5 000 Soldaten, die von bewaffneten Konterrevolutionären unterstützt wurden, in das Berliner Regierungsviertel ein. Ihr Ziel war es, die Weimarer Reichsregierung unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Bauer zu stürzen und eine Militärdiktatur zu errichten. Anstifter des Putsches waren der Gutsbesitzer und gleichzeitige Aufsichtsrat der Dresdner Bank, Wolfgang Kapp, mit dem ranghöchsten General der Reichswehr, Walther von Lüttwitz, und — mehr im Hintergrund — General Erich Ludendorff. Er war schon unter Wilhelm, dem Kaiser von »Gottes Gnaden«, General gewesen und hatte aus seiner reaktionären Haltung nie einen Hehl gemacht. Ermuntert und finanziert wurden die Putschisten von Schwerindustriellen und Kriegsgewinnlern wie Hugo Stinnes, Emil Kirdorf und anderen. Was wollten die Kapp-Putschisten?
Die wichtigsten Forderungen der Kapp-Putschisten
Schärfstes Vorgehen gegen die Arbeiterbewegung
Einführung der Zwangsarbeit
Streikverbot und Todesstrafe für Streikende
Keine Verminderung der Reichswehr auf 100 000 Mann
Auflösung der Nationalversammlung
Absetzung der Regierung und Durchführung von Neuwahlen
Als Gustav Noske, der sozialdemokratische Reichswehrminister, in aller Eile die maßgeblichen Befehlshaber von Armee und Polizei zusammengerufen hatte, weigerten sich diese, gegen die Putschisten mit Waffengewalt vorzugehen. Hans von Seeckt, der führende Reichswehrgeneral, erklärte:
»Haben Sie, Herr Minister, etwa die Absicht, eine Schlacht vor dem Brandenburger Tor zu dulden zwischen Truppen, die eben erst Seite an Seite gegen den Feind gekämpft haben? Wenn Reichswehr Reichswehr niederschlägt, dann ist alle Kameradschaft im Offizierskorps hin ... Wenn das aber einträte, dann wäre die wahre Katastrophe, die mit so unendlicher Mühe am 9. November 1918 vermieden worden ist, erst richtig da.«*
Noske und Kumpane waren nicht in der Lage, die Truppen, die sie selber geschaffen und gegen die Arbeiter geführt hatten, gegen die Putschisten einzusetzen. Die Regierung floh aus Berlin, und wenige Stunden später ernannte sich Kapp in Berlin zum Reichskanzler, bildete eine neue Regierung und verkündete, daß schon bald die Reichsverfassung von 1871 in Kraft sein würde.
Aber er hatte nicht mit der Entschlossenheit weiter Volkskreise, an der Spitze die kommunistischen und sozialistischen Arbeiter, gerechnet. Das Mittel des Generalstreiks wurde erfolgreich eingesetzt. Zugleich bewaffneten sich viele Arbeiter und schlossen sich militärisch zusammen, so auch in der Roten Ruhrarmee.
In wenigen Tagen waren die Putschisten hinweggefegt. Am 17. März flohen Kapp und seine Mitverschwörer ins Ausland.
Das von Carl Severing, dem Reichs- und Staatskommissar, abgeschlossene Bielefelder Abkommen zielte auf die Entwaffnung und Auflösung der Roten Ruhrarmee hin.
Dieses Abkommen — sagte Severing — »habe in der Roten Armee wie Sprengpulver gewirkt«. An den entwaffneten revolutionären Arbeitern, die gerade noch mit dem Einsatz ihres Lebens die Weimarer Republik gerettet hatten, wurde grausame Rache geübt.
Im Buch »75 Jahre Industriegewerkschaft Metall« heißt es: »Es gibt keinen Zweifel daran, daß allein der Generalstreik damals die Republik rettete und den Kapp-Putsch in wenigen Tagen hinwegfegte.« (S. 227)
Es war aber nicht der Generalstreik allein, sondern der bewaffnete Einsatz der Arbeiter, der die Putschisten vernichtend schlug.
Die Rote Ruhrarmee kämpfte gegen die Putschisten
Während des Kapp-Putsches gehörte Vater zu den Organisatoren der Roten Ruhrarmee im Hattinger Raum. Die Kämpfe gingen um die Vertreibung der Putschisten aus ihren letzten Bastionen, wie dem Steeler Wasserturm in Essen, wo sich die Truppen der Putschisten festgesetzt hatten.
Meine Mutter hatte die Verantwortung für die Verpflegung der Roten Ruhrarmee im Hattinger Raum übernommen. Sie war eine vortreffliche Organisatorin. Bei den Bauern und Geschäftsleuten wurden Lebensmittelspenden gesammelt, die reichlich zusammenkamen. In einer Schulklasse der katholischen Schule in der Bahnhofstraße war die Sammelstelle. Hier wurden auch die Butterbrote fertiggemacht, in große Waschkörbe gepackt und an die Front befördert.
Die katholische Schule steht im Hintergrund der Bahnhofstraße. Man mußte, um dahin zu kommen, dicht an der katholischen Kirche vorbeigehen, durch eine schmale Gasse, die links von einer hohen Hecke begrenzt war. Als ich für Mutter eine Nachricht dorthin bringen mußte, zögerte ich, als ich so dicht an der Kirche vorbeigehen mußte. Plötzlich kamen mir Zweifel. Sollte es nicht doch einen lieben, strafenden Gott geben? Das wurde uns doch so oft von andersdenkenden Menschen angedroht. »Die Strafe Gottes folgt auf den Fuß«, sagten sie, »und wehe dem, der seinen heiligen Zorn entfacht!« Ich weiß noch, daß ich den Kopf vorsichtshalber etwas ein- und die Schultern hochzog, für den Fall, daß mich aus diesem heiligen Gemäuer plötzlich eine mächtige, strafende Hand treffen würde. Aber es passierte nichts.
Einmal in dieser Zeit wurde ich Zeuge eines Gesprächs, das mein Vater mit einem Sympathisanten in unserer Wohnung führte. Vater organisierte die Verteidigung der Kosterbrücke, die über die Ruhr führt. Sie sollte in der Nacht von den Putschisten überschritten werden. Das mußte verhindert werden.
Der Sympathisant meldete sich bei Vater, weil er mitmachen wollte. Als er aber sagte: »Karl, ich bringe eine Flasche Schnaps mit, das gibt Mut«, da hob Vater beide Hände abwehrend in die Höhe und sagte: »Nein, Fritz, wenn du Schnaps brauchst, um dir Mut anzutrinken, dann bleibe lieber zu Hause. Wir kämpfen dieses Mal für unsere Sache. Da heißt es, einen klaren Kopf zu behalten. Schnaps haben die Offiziere im Kriege vor der Schlacht an die Soldaten verteilen lassen. Wir haben das nicht nötig.«
An der Kosterbrücke ist es dann doch zu keinem Kampf gekommen.
Verhaftung der Eltern
Nach dem Kapp-Putsch erfolgten viele Verhaftungen. Die Kämpfer wurden nicht nur wegen verbotenen Waffenbesitzes verhaftet, sondern in erster Linie, weil sie die Revolution weiterführen wollten.
Eines Morgens wurden wir Geschwister nicht, wie wir es gewohnt waren, von Mutter geweckt. Wir fünf wachten einer nach dem anderen auf und waren allein in der verschlossenen Wohnung.
Wo mochte die Mutter bloß sein? Wir machten uns aber keine großen Gedanken darüber und begannen, was wohl alle Kinder unseres Alters getan hätten, eine großartige Bettenschlacht. Die Kopfkissen flogen durch die Wohnung, daß es eine helle Freude war.
Auf einmal öffnete sich die Tür, und unser Onkel Ernst, Vaters Bruder, trat ein. Er blieb an der Tür stehen und sah uns mit strengem, vorwurfsvollem Blick an: »Anziehen!« befahl er. Das war nun doch etwas Außergewöhnliches. Unsere fröhliche Stimmung war mit einem Schlag weg, und wir bestürmten den Onkel mit Fragen: »Wo ist Mutter, wo ist Vater?« Er antwortete nicht und wiederholte nur seinen Befehl: »Anziehen!«
Schweigend, mit bedrücktem Herzen, gingen wir mit ihm fort. Er brachte uns zum Hattinger Rathaus auf die Polizeiwache. Mit einem lauten »Guten Morgen« trat er ein. Als wir fünf, zwischen fünf bis zwölf Jahre alt, in Reih und Glied in der Wachstube standen, da sagte er zu den Schutzleuten: »Hier bringe ich Ihnen die Kinder meines Bruders. Da Sie die Eltern verhaftet haben,...